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Neid

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
512 Seiten
Deutsch
Piper Verlag GmbHerschienen am17.02.20145
Die Hitze des Sommers lähmt ganz Europa. Und während das Opcop-Team die Hintermänner eines internationalen Menschenhandelsrings observiert, begegnet Paul Hjelm bei einem Galadiner der attraktiven Französin Marianne Baillard. Sie bittet ihn um Hilfe in einem blutigen Kriminalfall von europäischer Tragweite: Einem Professor wird auf offener Straße die Kehle durchgeschnitten, und ein blinder Bettler flieht mit den sensiblen Daten, die sich auf dem Smartphone des Professors befinden. Paul Hjelm sieht keine andere Möglichkeit, als all seine Prinzipien über Bord zu werfen. Und deshalb kann ihm nur sein alter Freund Gunnar Nyberg, der sich längst auf eine griechische Insel zurückgezogen hat, bei seinem Plan behilflich sein ... »Ein wichtiger, interessanter, clever konstruierter Roman, der allen gefallen wird, die sich für intelligente Spannung begeistern.« Svenska Dagbladet

Arne Dahl, geboren 1963 in Sollentuna, hat mit seinen Kriminalromanen um das Stockholmer A-Team eine der erfolgreichsten Reihen der Welt geschaffen. International mit zahlreichen Auszeichnungen bedacht, verkauften sich allein im deutschsprachigen Raum über 2,7 Millionen Bücher. Sein Thriller-Quartett um die Opcop-Gruppe mit den Bänden »Gier«, »Zorn«, »Neid« und »Hass« wurde ebenfalls zum Bestseller. Mit »Sieben minus eins« begann Arne Dahl 2016 eine brillante neue Reihe um das Ermittlerduo Berger & Blom, dessen Bände jeweils monatelang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste standen. Zusammen mit Simon Beckett wurde er 2018 mit dem Ripper Award geehrt.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR11,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR8,99

Produkt

KlappentextDie Hitze des Sommers lähmt ganz Europa. Und während das Opcop-Team die Hintermänner eines internationalen Menschenhandelsrings observiert, begegnet Paul Hjelm bei einem Galadiner der attraktiven Französin Marianne Baillard. Sie bittet ihn um Hilfe in einem blutigen Kriminalfall von europäischer Tragweite: Einem Professor wird auf offener Straße die Kehle durchgeschnitten, und ein blinder Bettler flieht mit den sensiblen Daten, die sich auf dem Smartphone des Professors befinden. Paul Hjelm sieht keine andere Möglichkeit, als all seine Prinzipien über Bord zu werfen. Und deshalb kann ihm nur sein alter Freund Gunnar Nyberg, der sich längst auf eine griechische Insel zurückgezogen hat, bei seinem Plan behilflich sein ... »Ein wichtiger, interessanter, clever konstruierter Roman, der allen gefallen wird, die sich für intelligente Spannung begeistern.« Svenska Dagbladet

Arne Dahl, geboren 1963 in Sollentuna, hat mit seinen Kriminalromanen um das Stockholmer A-Team eine der erfolgreichsten Reihen der Welt geschaffen. International mit zahlreichen Auszeichnungen bedacht, verkauften sich allein im deutschsprachigen Raum über 2,7 Millionen Bücher. Sein Thriller-Quartett um die Opcop-Gruppe mit den Bänden »Gier«, »Zorn«, »Neid« und »Hass« wurde ebenfalls zum Bestseller. Mit »Sieben minus eins« begann Arne Dahl 2016 eine brillante neue Reihe um das Ermittlerduo Berger & Blom, dessen Bände jeweils monatelang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste standen. Zusammen mit Simon Beckett wurde er 2018 mit dem Ripper Award geehrt.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783492966580
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2014
Erscheinungsdatum17.02.2014
Auflage5
Reihen-Nr.3
Seiten512 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1297 Kbytes
Artikel-Nr.1336356
Rubriken
Genre9201
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Inhalt/Kritik

Leseprobe
Autobahn Magdeburg - Braunschweig, 2. Januar Sie ist direkt in das Licht gefahren. Es ist so hell, es blendet beinahe. Als sie ihre lange Reise von Berlin nach Brüssel antrat, war es noch Nacht. Dann fuhr sie in die Morgendämmerung hinein, und jetzt geht die magisch klare Wintersonne über der Stadt auf. Sie weiß, dass es Magdeburg ist. In der Ferne, links von der Autobahn, meint sie die Doppeltürme des gotischen Doms zu erkennen. Die Sonne steht direkt hinter ihren Spitzen, als würde das Licht aus den Türmen strahlen und sie wie einen Glorienschein umgeben. Unter der Autobahn schlängelt sich der Mittellandkanal in die Elbe - oder vielleicht ist es andersherum -, um nicht weit entfernt, aber außer Sichtweite, die größte Wasserstraßenkreuzung Europas zu bilden. Eine andere Kreuzung - die der Autobahnen A2 aus Berlin und A14 aus Leipzig - lässt sie nur wenige Kilometer später an die warnenden Worte des gestrigen Abends denken. Normalerweise fährt sie nicht Auto, schon gar nicht so weite Strecken, und wenn sie in letzter Zeit doch den Wagen nehmen musste, war sie immer gefahren worden. Aber heute nicht, heute herrschen besondere Umstände. Das letzte Schleudertraining hat sie mit zwanzig Jahren absolviert. Und es ist glatt dort draußen. Mehrmals hat sie gespürt, wie der Wagen die Bodenhaftung verlor - so ein Moment, wo diese hinterhältige, uralte Angst den Brustkorb zusammenzieht -, und sie hat auf der Fahrt das ein oder andere mit Reif bedeckte Autowrack gesehen, das die A2 säumte. Eher Pannen als Unfälle, dennoch durch das Glatteis verursacht. Allerdings hatte ihr Automechaniker felsenfest behauptet, dass ihre Winterreifen den höchsten Ansprüchen genügten. Es dürfte keinen Grund zur Sorge geben. Wenn nicht der gestrige Abend gewesen wäre. Silvester in Berlin war überstanden. Eine träge Mattigkeit hatte sich über den Neujahrstag gelegt. Ein neues Jahr, neue Erwartungen, genau genommen neue Möglichkeiten. Ein mildes nach innen gerichtetes Lächeln. Es war viel besser gelaufen, als sie es zu hoffen gewagt hatte. Ihr Gegenbesuch. Jetzt erschien ihr alles viel sinnvoller, viel hoffnungsvoller. Und dann diese unerwartete Warnung. »Deutschlands gefährlichste Autobahn.« Die beginnt gleich hinter der Bundeslandgrenze, oder? Direkt hinter der Grenze zwischen Sachsen-Anhalt und Niedersachsen -, und gerade als sie versucht, sich an die Städtenamen zu erinnern, passiert sie ahnungslos diese Grenze. Kurz dahinter taucht ein Autobahnschild mit Entfernungsangaben und Ortshinweisen auf. Sie erkennt zwei Namen wieder, Helmstedt und Peine. Das waren doch die beiden, oder? Ja. Natürlich, die vertraute Männerstimme sagte: »Die gefährlichste Autobahn Deutschlands ist die A2 zwischen Helmstedt und Peine.« Sie spürt, wie ihre Konzentration steigt. Bald hat sie Helmstedt erreicht. Zwischen Helmstedt und Peine liegt Braunschweig. Professionelles Wissen aus Brüssel, sie liebt es, den Überblick zu haben. Das hier ist die Hauptverbindung zwischen Ost- und Westeuropa, sie führt einmal quer durch Deutschland. Täglich passieren sie hundertzwanzigtausend Fahrzeuge. Schwertransporter aus Polen. Große Mengen von Abgasen, Treibhausgasen, von klimaverändernden Emissionen, deren Bedrohungspotenzial nur von der Anzahl der Verkehrsunfälle übertroffen wird. Es heißt, die Braunschweiger Autobahnpolizei sei die am meisten beschäftigte Verkehrspolizei Europas. Und jetzt auch noch Glatteis. Die Schönheit des Winters ändert mit einem Schlag ihr Gesicht. Auch die Sonne, die es geschafft hat, den Horizont zu erklimmen, verändert sich. Ihre Magie verdunkelt sich - wird schwarze Magie. Als sie an Helmstedt vorbeifährt, spürt sie einen dicken Klumpen im Hals. Sie ist noch nie gerne Autobahn gefahren. Diese seltsame Grenzenlosigkeit. Dass man gezwungen ist, häufiger in den Rückspiegel zu sehen als nach vorn. Dass man unentwegt auf Männer mittleren Alters gefasst sein muss, die sich selbst überschätzen und von hinten in ihren egotherapeutischen Schallgeschwindigkeitsblasen angerast kommen und sich mit Fernlicht an die Stoßstange hängen, weil man nur hundertsechzig fährt. Gut, man konnte nicht im Ernst behaupten, dass die französischen Autofahrer so viel besser waren. Allerdings wurden die kulturellen Unterschiede an keiner Stelle so deutlich sichtbar. Fühlte sie sich tatsächlich im rechtlosen Raum des Verkehrsdschungels von Paris wohler als in der aufgeräumten Autobahnlandschaft? Keines war dem anderen vorzuziehen. Beides war falsch. Beide Formen gehörten ins 20.?Jahrhundert, und das war vorbei. Es war Zeit, endlich das neue Jahrhundert einzuläuten. Wir haben die Chancen des 20.?Jahrhunderts verstreichen lassen. Seine zahllosen Möglichkeiten, endlich eine Gesellschaft zu etablieren, in der für alle genügend Platz ist, in der niemand außen vor bleiben muss. Zum ersten Mal seit Menschengedenken verfügten wir über ausreichend Ressourcen. Und was haben wir damit gemacht? Wir sind praktisch widerstandslos zu den mittelalterlichen Werten zurückgekehrt, in eine primitive Gesellschaftsform, wo das Prinzip survival of the fittest herrscht. Sie weiß genau, dass ihr diese Gedanken kommen, weil sie so schnell wie möglich diesen Autobahnabschnitt um Braunschweig hinter sich lassen will. An etwas anderes denken will. Als würde die Autobahn es zulassen, dass man an etwas anderes denkt. Soeben hat sie den Kopf nach links gedreht und einen Blick auf die Silhouette von Braunschweig erhascht, als sie etwas anderes sieht. Ihr vorausschauender Blick, der gerade auf der Autobahn so wichtig, so lebenswichtig ist, registriert ein blinkendes Licht. Es ist das erste Signal einer ganzen Perlenkette von Zeichen, die mit einer Geschwindigkeit auf sie zurasen, dass ihr Interpretationsvermögen auf eine harte Probe gestellt wird. Etwa vier, fünf Wagen vor ihr leuchten Warnblinklichter auf. Davor sieht sie noch mehr Scheinwerfer aufblenden, Bremslichter und Warnblinker, rot und orange, in unmittelbarer Nähe hört sie Bremsgeräusche, Vollbremsungen. Schlittergeräusche? Dann herrscht Stille. Erst als ihr Auto zum Stehen kommt und der kurze schicksalsschwere Blick in den Rückspiegel bestätigt, dass auch die Autos hinter ihr stehen, folgt die nächste Kette von Ereignissen. Allerdings auf der gegenüberliegenden Fahrbahn. Zuerst steigt Rauch auf. Und es ist kein zarter, anmutiger ätherischer Dunst, der sich in den Himmel schlängelt. Ganz und gar nicht. Es ist ein sphärischer Rauchball. Es sieht aus, als wäre dieser schwarze Ball auf der Erde aufgeprallt und würde wieder nach oben springen, zu einer gigantischen Hand, die schon längst zurückgezogen wurde. An ihrer Stelle befindet sich nun etwas anderes dort oben im Himmel, wo sich der Rauchball verflüchtigt - und das dürfte auf keinen Fall dort sein. Und sie sollte auch auf keinen Fall aus dem Auto steigen, um es anzusehen. Und das sollten die anderen Autofahrer ebenso wenig tun. Aber sie tun es. Das ist quasi unvermeidlich. Dort, wo vorher der Rauchball in den Himmel stieg, ist jetzt ein Lkw-Anhänger. Ein schwerer, sehr schwerer Anhänger. Es ist wie ein Standbild. Man kann sich die Kräfte nicht vorstellen, die diesen Anhänger in die Luft katapultiert haben. Es ist der Anhänger eines Tanklastwagens. Das Ganze findet in einiger Entfernung statt und beinahe wie in Zeitlupe, sodass alles unwirklich erscheint, aber vermutlich sollte man in Deckung gehen. Diese Erkenntnis liest sie auch in den Blicken der anderen Autofahrer. Aber jetzt ist es zu spät, etwas dagegen zu unternehmen, denn der Anhänger stürzt zu Boden. Sie registriert die Bewegung. Eine Massenkarambolage. Sie sieht mehrere schwarze Autos, zwei rote, ein blaues, ein silbernes, und sie sieht ein kleines weißes Auto im Zentrum des Geschehens. Alle sind ineinander verkeilt, aber es wirkt nicht wie ein tödlicher Zusammenstoß, noch nicht. Denn das Letzte, was sie wahrnimmt, bevor der Anhänger auf der Unfallstelle aufschlägt, ist, dass etwas aus dem Anhänger läuft. Aber nicht einfach nur läuft, sondern vielmehr fließt, strömt, ja stürzt. Von der klaren Flüssigkeit, die sie im Bruchteil einer Sekunde erkennt, steigt ein Flimmern auf. Die Flüssigkeit aus dem Tanklaster versetzt die Luft in Vibration. Dann schlägt der Anhänger auf. Nahezu lautlos. Sie dreht sich zu den anderen Fahrern um und erkennt, dass auch sie wissen, was jetzt geschehen wird. Sie kann es in deren Augen sehen. In der Langsamkeit, mit der sie sich bewegen. Mit der sie ihre Köpfe senken, wie zu einem gemeinsamen Gebet. Zu welchem Gott auch immer. Die Stille dehnt sich unerträglich aus, während sich der Anhänger nach seinem langen Flug zurechtlegt. Sie kann es nicht sehen, aber das zunehmende Flimmern in der Luft verrät ihr, dass die Flüssigkeit unaufhörlich ausläuft. Und dann tritt das Unausweichliche ein. Die Flüssigkeit entzündet sich. Eine einzige vollkommen lautlose Stichflamme schießt in die Luft, wie aus einem seitlich vergrößerten Bohrloch, in alle Richtungen. Dann kehren die Geräusche zurück. Wie eine Sequenz von Donnerschlägen. Als ein Benzintank nach dem anderen explodiert. Die unbarmherzige Kettenreaktion fossiler Brennstoffe. Jetzt steht ein Flammenwald über der Autobahn. Ein dichter Feuerdschungel. Trotz der Entfernung erfasst die Hitze die Zuschauer auf der entgegengesetzten Fahrbahn. Sie werden von dem Echo der Explosion förmlich überrollt. Aus irgendeinem Grund muss sie daran denken, dass ihre Augenbrauen gerade versengt werden. Mit welch einer wahnsinnigen Geschwindigkeit das alles verbrennt. Das ist gar keine Kettenreaktion. Alles geschieht gleichzeitig. Die Welt steht in Flammen. Die Hitze verschluckt jedes Geräusch. Es wird vom Feuer vertilgt. Alles ist Feuer. Erneut bildet sich ein schwarzer Rauchball, der in den Himmel steigt. Dann ist alles so abrupt vorüber, wie es begonnen hat. Das Feuer erstirbt, nachdem es alles verschlungen hat, was in seinem Weg war. Der Rauchball schwebt davon, und es folgen ebenfalls schwarze, aber nicht so kompakte Schwaden. Und aus ihnen taucht ein Autowrack nach dem anderen auf, jedes vollkommen ausgebrannt. Alles ist schwarz. Verkohlt. So sieht die Erde nach der Götterdämmerung, nach Ragnarök aus. Und doch ist das nicht ganz richtig. Denn inmitten des Kreises der Zerstörung steht etwas. Und das ist nicht schwarz. Es ist weiß. Ein kleines weißes Auto in all dem verkohlten Schwarz. Da geschieht das Unglaubliche, und die Tür des Wagens öffnet sich. Ein junger Mann stolpert heraus, so weiß wie sein Auto. Er sieht sich um. Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass er wirklich etwas sieht. Seine Bewegung wirkt eher wie ein tief verwurzelter, mechanischer Reflex. Der junge Mann bleibt neben seinem Wagen stehen. Er sieht nichts. Aber er lebt. Auf der gegenüberliegenden Fahrbahn sehen die Menschen umso mehr. Sie sehen ein kleines weißes Auto, umgeben von ausgebrannten rauchenden Wracks, das offensichtlich vollkommen unbeschädigt ist. Und es ist wie eine Offenbarung, eine Vision. Sie sieht sich um. Mustert die anderen Autofahrer. Ihre Blicke begegnen sich. Sie sehen alle dasselbe. Sie sehen, wie das Weiße aus all dem Schwarzen hervorsticht, hinter dem Rauchvorhang, der sich immer mehr lichtet. Und sie denkt: Ein Elektroauto. In diesem Augenblick weiß sie, was sie tun muss.     Der Ankauf Tîrgu Mures¸, Rumänien, 17. Februar Die meisten Menschen überrascht es, dass Mander Petulengro Hell und Dunkel unterscheiden kann. Viele glauben, dass er schummelt und doch über ein Mindestmaß an Sehkraft verfügt. Aber das ist nicht wahr. Er wurde blind geboren und konnte noch nie sehen. Er weiß nicht einmal, was das bedeutet. Das unterscheidet ihn von den Erblindeten, die er kennenlernt. Sie leiden darunter, empfinden ihre Blindheit als einen großen Verlust und Mangel. Und setzen ihr Leben fort als Schatten im Universum der Sehenden. Aber er tut das nicht. Er steht damit allein. Wenn er hingegen manchmal anderen Blindgeborenen begegnet, erlebt er so etwas wie ein Gemeinschaftsgefühl. Dann berühren sie seine Welt für kurze Zeit. Sonst existieren sie nicht wirklich. Denn auch sie sind allein in ihrem Kosmos. Es gab Zeiten, da hätte er es sich gewünscht, dass jemand sein Universum betreten und dort seinen Platz finden würde. Das war die Zeit der Wanderung. Seine kleine Luminitsa aus Sarajevo. Auch sie war blind wie er, und doch konnte sie ihn sehen wie kein anderer. Besser als er sich selbst. Und für eine kurze Zeit befanden sie sich im selben Universum. Nein, diesen Stein wollte er nicht umdrehen. Er hat sich zurückgezogen. Dieses Pflegeheim soll seine letzte Station sein. Eigentlich wartet er nur auf die nächste Dunkelheit, die Finsternis. Er ahnt, dass der Übergang gar nicht so drastisch sein wird. Sogar seine Gitarre hat er beiseitegestellt. Als er sich im Bett aufsetzt und an einem frischen Flohstich kratzt, lässt er seine Hand auch über die Kurven des Instruments gleiten. Der Gedanke an Luminitsa aus Sarajevo wird brutal vom Widerstand des Staubs zwischen seinen Fingern verdrängt. Für eine Sekunde erfüllt ihn der Kummer, dass er seine Gitarre schon wieder verstauben lässt. Aber dann schiebt er auch diesen Gedanken weg. Er hat sich zurückgezogen. Er hat genug gespielt, genug gesungen und ist lange genug umhergewandert. Und er hat bedeutend mehr gesehen als alle Sehenden. Er riecht an dem Staub. Verreibt ihn zwischen den Fingern. Er kennt diesen Geruch von Schmutz, altem Schmutz, aber da ist noch etwas anderes. Der Geruch von Metall. Schwermetall. Ist das hier wirklich der richtige Ort, um sich zur Ruhe zu setzen? Sollen all diese Jahre hier ein Ende finden? Tîrgu Mures¸ ist nicht seine Heimatstadt. Sie liegt im falschen Teil von Transsilvanien. Seine Heimatstadt war Cas¸in, in der Nähe von Miercurea Ciuc im Landkreis Harghita. Aber nach dem, was dort geschah, existiert diese Stadt nicht mehr. Auf seiner Karte existiert sie nicht mehr. Es hatte ihn zu einem Dasein als Wanderer verdammt. Jetzt hat er diese Wanderung beendet. Und auch das Gitarrespielen. Und das Singen. Er hat aufgehört zu leben. Seit Längerem lauscht er schon ihren Stimmen. Sie waren von einem Zimmer ins nächste gegangen, der Leiter stolziert hinter ihnen her mit einem Klang in seiner Stimme, den er bisher noch nie gehört hat. Ihm wird klar, dass es hier um etwas Wichtiges geht, und in einem anderen Leben hätte er schneller reagiert. Da hätte er das Heim schon längst über den Hinterausgang verlassen - den kannte er besser als seine Westentasche -, bevor es zu spät war. Aber zu spät wofür? Was konnte ihm denn hier noch drohen? War er denn nicht schon ganz am Boden? Viel zu spät begreift er, dass Ruhen nicht bedeutet, dass man am Boden ist. Es gibt einen Boden, wo ein Ausruhen nicht mehr möglich ist. Es ist Mitte Februar, Viertel nach zwei Uhr am Nachmittag. Er spürt das Licht. Er weiß genau, wie hell es ist. Die Tür ist geschlossen, das hört er, das spürt er am Licht, sie haben offensichtlich die Türen zu allen Räumen geschlossen. Er spürt, dass sich etwas anbahnt. Aber er spürt keine Furcht. Wovor sollte er auch Angst haben? Hat er nicht schon alles erlebt? Aber als die Tür zu seinem Zimmer aufgestoßen wird, spürt Mander Petulengro zum ersten Mal seit vielen Jahren - nein, keine Angst, das wäre zu viel gesagt, aber ein Unbehagen, das Gefühl, dass ein vertrauter, statischer Zustand ungewollt eine Eigendynamik entwickelt. Denn er weiß, dass es eigentlich heller wird, wenn die Tür aufgeht. Draußen im Flur ist es heller, der Raum der acht »Gäste« ist der dunkelste des ganzen Pflegeheims. Aber dieses Mal wird es nicht heller. Obwohl er hört, wie die Tür aufgestoßen wird, wird es dunkler. Noch dunkler. Zuerst glaubt er, dass sein vielfach belegtes Gespür für Licht - über das er ja eigentlich gar nicht verfügen dürfte - außer Kraft gesetzt wurde. Doch dann begreift er, dass etwas anderes im Gange ist. Etwas ganz anderes. An den Schritten erkennt er, dass es neben dem Heimleiter drei sind. Verglichen mit dessen nur ungefähr siebzig Kilo leichten Schritten, sind diese drei Personen wesentlich schwerer. Zwei von ihnen sind sogar richtig schwergewichtig. Aber die Stimme des Dritten hört er als Erstes: »Der Hydrozephalus ist großartig, davon abgesehen sind wir überhaupt nicht zufrieden.« Eine Bassstimme, gewohnt, Befehle zu erteilen, trotzdem neutral, geschäftsmäßig, der drohende Unterton lässt sich kaum heraushören. Bleistiftspitzen auf Papier. Mander Petulengro versucht sich daran zu erinnern, was »Hydrozephalus« bedeutet, während seine Nase wahrnimmt, dass der Heimleiter anfängt zu schwitzen. »Aber die Chorea Huntington ist doch auch ausgezeichnet«, versucht es der Heimleiter mit einem Flehen in der Stimme. »Und der Junge ist noch so klein. Den könnte man hervorragend mit einer üppigen Mutterfigur kombinieren.« »Es ist wohl kaum Ihre Aufgabe, uns unsere Arbeit zu erklären, oder?« »So war das doch gar nicht ...« »Ich habe selten so eine abstoßende Achondroplasie gesehen«, unterbricht ihn die Bassstimme. »Glauben Sie im Ernst, dass er auch nur einen einzigen Cent einspielen wird?« Mander Petulengro hört den Heimleiter tief Luft holen und versucht, die Puzzlestücke zusammenzufügen. Was ist das hier? Was geht hier vor? Und was hat es mit ihm zu tun? Vielleicht ja gar nichts. Er hofft es. Er möchte sich am liebsten wegdrehen, sich auf das Bett zwischen die hungrigen Flöhe legen. Aber das tut er nicht. Er bleibt reglos sitzen. Konzentriert sich. Hydrozephalus, Chorea Huntington, Achondroplasie - das waren alles medizinische Ausdrücke. Wofür? Für Krankheiten? Und was war damit gemeint: »Glauben Sie im Ernst, dass er auch nur einen einzigen Cent einspielen wird?« Er hört die schweren Schritte durch den Raum der acht »Gäste« schreiten. Wenn er ehrlich ist, weiß er nicht, ob auch alle acht anwesend sind. Seine Wachsamkeit ist schon so lange erloschen. Er hört, wie der Heimleiter sich räuspert und sagt: »Dafür haben wir uns das Beste bis zum Schluss aufgehoben.« Mander bewegt sich keinen Millimeter. Er hat seine alte Wachsamkeit doch nicht verloren, sie hat nur brachgelegen, seit sie ihm auf seinen langen Wanderungen immer wieder das Leben gerettet hat. Sie und der Gesang. Und die Gitarre. Nach langer Zeit hat er zum ersten Mal wieder das Bedürfnis, die Saiten seiner Gitarre anzuschlagen. Erneutes Kratzen der Bleistiftspitze, dann nähern sich die Schritte. Sie kommen direkt auf Mander zu. Und plötzlich fallen alle Puzzlestücke an ihren Platz. Und ein Gesamtbild erscheint. Ein Bild, das niemand außer ihm sehen kann. Er sieht es auf seine Weise. »Der da?«, fragt die Bassstimme skeptisch. »Blind geboren«, sagt der Heimleiter eifrig. »Sehen Sie sich diese Augen an. Wer kann vollkommen weißen Augen widerstehen?« »Aber er hat eine schwierige Geschichte, richtig?« »Er hat sich zurückgezogen«, sagt der Heimleiter. »Er hat die ethnischen Säuberungsaktionen in Harghita im August 1992 überlebt, ist nach Süden geflohen und war fünfzehn Jahre untergetaucht.« »Ich habe Sie nicht um seinen Lebenslauf gebeten«, sagt die Bassstimme. »Ich will nur wissen, ob er uns Schwierigkeiten machen wird.« »Er ist die Ruhe selbst«, antwortet der Heimleiter. Einen Moment lang herrscht Schweigen. Mander Petulengro meint, ein bestätigendes Nicken als leichte Druckveränderung in der dunklen Luft wahrzunehmen. »Ciprian klärt mit Ihnen die finanziellen Details«, sagt die Bassstimme, und einer der beiden Schwergewichtigen setzt sich in Bewegung. Die mittlerweile wesentlich sichereren Schritte des Heimleiters folgen ihm. Die beiden verlassen den Raum. Erneutes Kratzen des Bleistiftes auf dem Papier, dann nähern sich andere Schritte. Ein monströs lautes Schnaufen, der Kerl ist vor ihm in die Hocke gegangen, dann sagt er mit verräterischer Milde in der Stimme: »Du wirst uns doch keine Probleme machen, oder?« »Ich heiße Mander Petulengro«, antwortet Mander. »Ich will nicht wissen, wie du heißt.« »Sie haben mich jetzt also gekauft?« »Das ist die letzte Frage, die du stellst, kapiert? Wir haben einen vielversprechenden Wasserkopf, einen verkrüppelten zappelnden Sechsjährigen und einen richtig hässlichen Zwerg gekauft. Und jetzt noch eine unsichere Karte, eine Blindschleiche mit gruseligen verdrehten Augen. Los, komm.« Während sich die schweren Schritte des dritten Mannes nähern, begreift Mander, dass sein Leben mitnichten hier in diesem Bett voller Flöhe enden wird. Sondern dass sich jetzt wieder alles ändern wird. Ihm kommt eine Idee, und er streckt seine linke Hand aus. Er spürt die Kurven des Instrumentes und sieht plötzlich Luminitsa aus Sarajevo ganz deutlich vor sich. Er sieht sie auf seine ihm ganz eigene Weise. »Ihr bekommt sogar noch einen Bonus dazu«, sagt er, als sich eine schwere Hand auf seine Schulter legt. »Ich bin Musiker.« Es herrscht einen Augenblick lang Schweigen. Die Hand lässt seine Schulter los. Schließlich sagt die Bassstimme: »Musiker kriegen wir woandersher.« »Aber ich bin ein blinder Musiker«, entgegnet Mander und hört, wie laut sein Herz schlägt. Erneutes Schweigen. Die Sorte von Schweigen, die - so hatte er herausgefunden - bedeutet, dass Blicke gewechselt werden. »Na gut«, sagt die Bassstimme dann, und ihr Besitzer erhebt sich, sein Schnaufen lässt nach. »Ich gebe dir eine Minute. Zeig uns, was du draufhast!« Mander Petulengro greift nach seiner Gitarre. Er pustet die Staubschicht weg. Der Gestank nach Schwermetallen sticht ihm in die Nase, während er das Instrument auf sein Knie hebt. Sanft streicht er über die Kurven des Korpus, und dieses Mal verdrängt er das Bild von Luminitsa aus Sarajevo nicht. Sein ganz eigenes Bild. Als er den ersten Akkord anschlägt, ist sein eigener Herzschlag ruhig und gleichmäßig. Und es ist so hell wie an einem normalen Nachmittag im Februar.     Die Kontaktaufnahme Den Haag - Amsterdam, 28. Juni Das grelle Sonnenlicht, das durch die Fenster des Hauptquartiers der Opcop-Gruppe in Den Haag fiel, schien jedes einzelne Staubkorn in Bewegung zu versetzen. Und verursachte merkwürdig fremde Schatten. Überhaupt war es ein unerwartet einsames Gefühl, durch die Räume der Opcop-Gruppe zu laufen. Es waren dieselben, und doch auch nicht mehr. Dabei war alles wie bisher: die offene Bürolandschaft, die Besprechungsecke, die sie das »Whiteboard« nannten, der Konferenzraum mit dem sakralen Spitznamen »Kathedrale« und Paul Hjelms Chefbüro, mit Blick auf das Großraumbüro und über den Raamweg auf die Innenstadt. Als er in dem leer geräumten Zimmer aus dem Fenster über die Stadt sah, meinte er, die asymmetrischen Konturen des neuen Hauptquartiers von Europol ausmachen zu können, das sich auf der anderen Seite des kleinen Stadtparks Scheveningse Bosjes befand. Der Umzug war praktisch überstanden, nicht zuletzt, weil sich Teile der Gruppe die ganze Zeit in Amsterdam aufhielten, wegen eines sehr personalintensiven Auftrags. Die Räume standen leer. In der Bürolandschaft, wo in den vergangenen Jahren so viele Gedanken gewälzt worden waren, befand sich kein einziger Computer mehr, kein Stuhl, nicht einmal ein Schreibtisch. Das Whiteboard zeichnete sich jetzt in erster Linie durch seine Abwesenheit aus, die elektronische Whiteboard-Tafel war längst umgehängt worden. Die Kathedrale sah aus, als hätte sie schwere Kriegsschäden zu beklagen. An den Wänden gähnten siebenundzwanzig rechteckige Löcher, in denen einst die Bildschirme der siebenundzwanzig EU-Mitgliedsstaaten angebracht waren, mit deren Repräsentanten die Gruppe in Kontakt stand. Und das Chefbüro war so leer, wie Paul Hjelm sich fühlte. Allerdings fühlte sich das gut an. Eine Ära war vorbei. Eine neue würde beginnen. Und sie begann auf die denkbar beste Weise. Er ging auf den Ausgang zu. Als er sich noch einmal umdrehte, wurde ihm bewusst, dass er diesen Raum vermutlich zum letzten Mal sehen würde. Er verharrte für einen Augenblick und sog die Erinnerung an die wahrscheinlich wichtigsten Jahre seines beruflichen Lebens in sich auf. Und die einsamsten seines Privatlebens. Allerdings war das nun auch vorbei. Während er Richtung Amsterdam nach Norden fuhr, steigerte sich seine Vorfreude zu einem fast pubertären Gefühl. Ein Glücksempfinden erfüllte seinen Körper während der fünfzig Kilometer auf der Autobahn, und als er die Ausfahrt mit dem eigenartigen rhythmischen Namen Haarlemmermeer nahm, begann sein Herz in einem anderen Takt zu schlagen. Rhythmischer. In Haarlemmermeer befindet sich der größte Flughafen Europas, und in Schiphol, direkt am Ankunftsgate, wurde ihm bewusst, dass sein Leben noch einmal neu begann. Die zweite Hälfte seiner Lebensphase läutete sich in dem Augenblick ein, als er sie erblickte. Klein, dunkelhaarig, bescheiden, und trotzdem hatte sie eine Ausstrahlung, die ihn überwältigte, als sie ihn erblickte und ihn anlächelte. Für beide war es ein Gefühl, als würden sie nach Hause kommen, Paul Hjelm und Kerstin Holm. Sie hatten nie Schwierigkeiten, miteinander zu sprechen, eher damit aufzuhören. Aber dieses Mal fiel es ihnen schwer, die richtigen Worte zu finden. Jede Aussage hörte sich irgendwie platt an. Deshalb schwiegen sie, bis er ihr Gepäck im Kofferraum verstaut hatte und sie im Auto saßen. Dann erst küssten sie sich. Es war ein langer Kuss. Dann räusperte sie sich und sagte: »Jorge lässt grüßen und dankt.« »Wofür denn?« Paul Hjelm lachte auf und startete den Motor. »Dafür, dass er wieder ein bisschen Chef sein darf.« Hjelm lachte noch lauter. »Du dagegen bist jetzt alles andere als eine Chefin.« »Damit komme ich für ein paar Wochen klar«, entgegnete Kerstin Holm und lächelte. Dann schwiegen sie. Es fühlte sich gut an. Auf Höhe des Rembrandtparks sagte Kerstin: »Das Ambassade Hotel, oder ...?« »Herengracht.« Paul nickte. »Eine kleine Suite mit Blick auf den Kanal.« »Wie feudal!« Kerstin lächelte. »Aber ...?« »Aber was?« »Es klang, als hättest du noch ein ?Aber? auf der Zunge.« »Hast du schon einmal darüber nachgedacht, Detektivin zu werden?« »Also nicht zuerst in die Herengracht, sondern in die Lauriergracht?« »Hättest du was dagegen? Es ist nur ein paar Hundert Meter vom Hotel entfernt. Bloß kurz vorbeischauen. Dann kannst du das live erleben. Außerdem lernst du unsere Neuen kennen.« »Wovon der eine verdammt hart arbeitet, wie ich gehört habe.« »Adrian, ja. Wir sind gerade ungewöhnlich stark auf seine Fähigkeiten angewiesen. Um keine externen Dolmetscher einsetzen zu müssen.« Kerstin Holm nickte. Sie hatte nichts dagegen. Wie sollte sie das auch? Sie hatte sich nur auf etwas anderes gefreut. Und zwar so schnell wie möglich. Am liebsten in einer extravaganten Badewanne. In Amsterdam Auto zu fahren war immer ein Wagnis. Es herrschte ein ständiges Verkehrschaos in einem Dschungel aus Einbahnstraßen; wie aus dem Nichts auftauchende Straßenbahnen, Fahrradfahrer, die sämtliche Verkehrsregeln außer Kraft setzten - und dazu die schmalen Straßen entlang der Kanäle, diese vielen Grachten, die kaum voneinander zu unterscheiden waren. Die Lauriergracht war eine der kürzesten. Und schmalsten. Man konnte ohne Weiteres in seiner Wohnung auf der einen Kanalseite sitzen und in die gegenüberliegende sehen. Zudem befand sich in unmittelbarer Nähe eine Brücke. Bei Bedarf wäre man also innerhalb von Sekunden auf der anderen Kanalseite, um sich dort dem anderen Team anzuschließen, das in einer Wohnung des Hauses gegenüber Position bezogen hatte. Und zwar in der Wohnung, die direkt unter der observierten lag. Das registrierte Kerstin Holm instinktiv, ehe sie das Gebäude durch einen Seiteneingang betraten und den sträflich falsch geparkten Wagen seinem Schicksal überließen. Im hochsommerheißen Treppenhaus roch es feucht und leicht nach Schimmel, sie folgte ihrem Lebensgefährten die schmale Treppe aus dem 17.?Jahrhundert hinauf bis zu einer Wohnungstür im ersten Stock, auf deren Namensschild »Bezuidenhout« stand. Die alte Frau Bezuidenhout war seit einigen Wochen in einer bedeutend luxuriöseren Wohnung in der Jan Luijkenstraat untergebracht. Die dreiundachtzigjährige Reederwitwe hätte ihre alte Wohnung nicht wiedererkannt. Sie war übersät mit den unterschiedlichsten Varianten von Überwachungstechnik und Abhörgeräten, die Kerstin Holm gar nicht erst versuchte zu identifizieren. Ihre analytische Energie wurde davon in Anspruch genommen, den kahlköpfigen Mann zu identifizieren, der ausgestreckt auf dem Feldbett lag, das vollkommen unpassend mitten im Wohnzimmer stand. Er trug einen schnurlosen Kopfhörer und riss die Augen auf, als hätte man ihn bei etwas Verbotenem erwischt. Dann hievte er sich von der schwankenden Pritsche, während Kerstin Holm ihre Aufmerksamkeit zum Fenster richtete. Dort nahm eine sehr große dunkelhäutige Frau ihren Kopf von einem Gerät, das aussah wie ein Teleskop, und sah die Besucher erstaunt an. Dann richtete sie sich auf, lächelte breit und sagte: »Der Chef. Und Kommissarin Holm, nehme ich an?« »Wir haben uns bisher ja nur digital gesehen«, antwortete Kerstin Holm und streckte ihr die Hand hin. »Corine Bouhaddi, richtig?« »In ganzer Größe«, sagte Bouhaddi und schüttelte Holms Hand mit einem Händedrück, den man wortwörtlich als eisernen Griff bezeichnen musste. Sie setzte sich an einen Schreibtisch, auf dem ein halbes Dutzend Monitore und Tastaturen standen. Dem Kahlköpfigen war es mittlerweile gelungen, sich von dem widerspenstigen Feldbett zu erheben, und er kam auf sie zu. »Adrian Marinescu«, stellte er sich vor, schüttelte Holms Hand und wandte sich dann Paul Hjelm zu. »Chef, verzeihe, wenn es aussah, als hätte ich geschlafen. Das habe ich nicht.« »Alles in Ordnung«, sagte Hjelm. »Du hast doch auch hart gearbeitet. Im Moment also keine Aktivität?« Marinescu schüttelte den Kopf und rückte seinen Kopfhörer zurecht, der ihm auf seinem offenbar spiegelglatten Schädel ein bisschen verrutscht war. Dann antwortete er: »Seit gut einer Stunde nichts mehr.« »Aber das könnte sich jetzt gleich ändern«, erklärte Bouhaddi und betätigte ein paar Tasten. »Deshalb stand ich auch gerade am Teleskop. Jemand, der definitiv wie ein Fahrradkurier aussieht, ist auf dem Weg ins Gebäude.« Marinescu seufzte und sagte dann: »Ich bin bereit.« Bouhaddis Finger flogen über die Tastatur, und auf einem der Monitore war zu sehen, wie der Fahrradkurier eine Treppe hinaufging, in seiner großen schwarzen Umhängetasche wühlte und dann an einer Tür klingelte, an der ein winziges Schild mit der Aufschrift »U.M.A.N. Imports« angebracht war. Auf dem benachbarten Monitor erhoben sich zwei feiste Männer aus einem Sofa und knöpften ihre viel zu dicken Jacketts zu. Ein Dritter glitt zwischen ihnen hindurch und drückte sich neben der Eingangstür an die Wand. Einer der Männer sah durch den Türspion, versteckte dann die Pistole hinter seinem Rücken und öffnete mit der Linken die Tür. Er nahm einen wattierten Umschlag im C5-Format in Empfang und quittierte, ebenfalls linkshändig, den Empfang mit einer elektronischen Unterschrift. Der Fahrradkurier sprang mit der für Kuriere typischen Geschwindigkeit die Treppe hinunter, und der Mann an der Tür reichte dem Kleineren den Umschlag, der damit aus dem Bild verschwand. Sofort betätigte Bouhaddi einige Tasten, und aus der Vogelperspektive war zu sehen, wie der Mann sich an einen Schreibtisch mit mehreren Computern setzte. Dann legte er den Umschlag in einen Apparat. Ein Lichtstreifen wanderte darüber, zweimal, und der Mann studierte aufmerksam die Monitore. Erst dann riss er den Umschlag auf und sagte etwas mit tiefer Bassstimme in einer Sprache, die Kerstin Holm an ein grobes Italienisch erinnerte. Die Übertragung seiner Stimme war relativ schwach, dafür aber war Adrian Marinescus unmittelbar folgende Simultanübersetzung in einem sorgfältig modulierten Ostblockenglisch umso lauter: »Jetzt wollen wir doch mal sehen, ob die das hinbekommen haben. Ich habe die Skandinavier so satt. Verdammte Geizhälse. Und in Griechenland hat noch nicht einmal mehr die feine Gesellschaft Kohle.« Danach waren Grunzlaute im zweistimmigen Kanon zu hören, wahrscheinlich Gelächter. Der Mann faltete das Papier aus dem wattierten Umschlag auf und las es. Er nickte, schwieg aber. »Die agieren sehr wenig auf digitalem Weg oder via Handys«, sagte Bouhaddi. »Wir sind der Ansicht, dass sie so das Abhörrisiko verringern wollen.« »Aber sie haben keinen Verdacht geschöpft, oder?«, fragte Holm. »Dafür gibt es keine Anzeichen«, erwiderte Hjelm. »Das scheint eher eine allgemeine Vorsichtsmaßnahme zu sein.« »Könnte man nicht den Fahrradkurier abfangen?« »Die Lieferungen gehen auf die unterschiedlichsten und absonderlichsten Weisen vonstatten«, sagte Bouhaddi, »außerdem gibt es hier in Amsterdam eine absurd große Anzahl an Fahrradkurierfirmen. Unser waghalsigster Zug war bisher, dass einer unserer Leute auf der anderen Seite den Kurierfahrer angehalten hat und so den Inhalt des Umschlags fotografieren konnte. Das warst du, Marek, oder?« Auf einem dritten Bildschirm tauchte Marek Kowalewski auf. Er saß an einem bedeutend kleineren Schreibtisch in einem wesentlich kleineren Raum als dem eleganten Wohnzimmer der Witwe Bezuidenhout. Er schob sein breites, rotes Gesicht in die Kamera und sagte erstaunt: »Mann, seid ihr viele.« »Ein Ehrengast«, erläuterte Hjelm. Ein weiteres Gesicht schob sich von der Seite in die Kamera, eine Südländerin, die Kerstin Holm aber nicht kannte. Allerdings vermutete sie, dass es sich um Donatella Bruno handeln musste, die ehemalige Chefin der nationalen Opcop-Einheit in Rom. Sie hatte sich dazu überreden lassen, sich von der meteorologischen Hitze Roms in die professionelle Hitze von Den Haag versetzen zu lassen. Es folgte eine kurze Begrüßung, bevor Marek erzählte: »Ja, das war ich. Ich habe den Fahrradkurier erwischt, ehe er die Eingangstreppe betreten hat. Also habe ich ihn um die Ecke gezogen, den Umschlag geöffnet und seinen Inhalt fotografiert. Ihr habt Kopien auf euren Rechnern. Danach musste ich den Umschlag wieder sehr sorgfältig verschließen.« »Wir wissen, dass die Umschläge vor dem Öffnen immer erst geröntgt werden«, sagte Bouhaddi. »Wir wissen allerdings noch nicht, wonach die dabei suchen.« »Meine größte Befürchtung war«, fuhr Kowalewski fort, »dass der Kurierfahrer das große Zittern bekommt, wenn einer der Fleischschränke die Tür öffnet. Aber es ist alles gut gegangen. Die haben keinen Verdacht geschöpft. Aber das ist keine zukunftsträchtige Vorgehensweise. Viel zu riskant.« »Hier ist das Dokument«, sagte Bouhaddi und öffnete auf einem vierten Monitor eine Aufnahme. »Es handelt sich um einen Code, wie ihr seht. Unsere Experten sitzen schon seit einer Woche daran, ohne ihn knacken zu können. Er besteht aus zwei Teilen, dies hier scheint ein Fließtext zu sein, und das sieht eher aus wie eine Liste.« »Und was glaubt ihr, worum es sich dabei handelt?«, fragte Holm und betrachtete die handschriftlichen Buchstabencodes. »Vermutlich handelt es sich um Lageberichte der verschiedenen Niederlassungen in ganz Europa«, erklärte Hjelm. »Ereignisse, Probleme, Einnahmen und natürlich Neuzugänge - die expandieren ja in einer erschreckenden Geschwindigkeit. Vielleicht geht es auch um ein operatives Geschäft.« »Ich begreife nach wie vor nicht, wie man so viel Geld mit Bettlern verdienen kann«, sagte Kerstin Holm aufrichtig erschüttert. »Doch, das kann man tatsächlich«, bestätigte Donatella Bruno. »In den katholischen Ländern sind wir mildtätiger, und anders als zum Beispiel in Skandinavien erledigen wir unsere Geschäfte am liebsten noch mit Bargeld.« »Dann liegt es also doch nicht daran, dass wir Skandinavier so ?verdammte Geizhälse? sind?«, warf Hjelm mit stilistisch einwandfreier Selbstironie ein. »Das liegt eher an eurer tadellosen lutherischen Arbeitsmoral«, entgegnete Kowalewski mit einer wesentlich neutraleren Form der Ironie. »Auf der anderen Seite«, fuhr Donatella Bruno fort, »haben wir wahrscheinlich zum ersten Mal belastbare Indizien für eine Verbindung der Bettelmafia zu einem großen Menschenhändlerring. Und vielleicht sogar zum organisierten Verbrechen.« »Allerdings wissen wir bisher noch nichts Genaues«, warf Hjelm ein, »und darum sitzen wir hier auch.« »Wenn ich der Chef wäre«, sagte Corine Bouhaddi mit einem lieblichen Lächeln, »wäre ich ein bisschen vorsichtig mit dem Wörtchen ?wir?.« Kerstin Holm musste zu ihrer eigenen Überraschung laut auflachen. Sie versuchte ihren Fauxpas schnell mit einer Frage vergessen zu machen. »Und diese Männer kommen aus Rumänien?« »Ja, Bukarester Dialekt.« Adrian Marinescu nickte. »Und die Bettler sind auch fast ausnahmslos Rumänen. Vermutlich Roma. Musiker und mehr oder weniger behinderte Roma. Die gibt es zurzeit in jeder europäischen Großstadt. Wir sprechen da von Zehntausenden versklavten Menschen.« »Roma aus Rumänien«, sagte Holm. »Ich weiß, was du denkst«, entgegnete Marinescu etwas aufgebracht, »aber wir dürfen nicht vergessen, dass innerhalb Europas in Rumänien mit Abstand die meisten Angehörigen dieser Ethnie leben. Allerdings hängt das davon ab, ob wir die Türkei zu Europa zählen oder nicht. Laut Präsident Ba?sescu sind es rund eineinhalb Millionen Menschen. Es ist nicht so, dass wir besonders stark rassistisch wären.« »Wir lassen diese Frage vorerst ruhen«, sagte Hjelm vermittelnd. »Wir müssen los.« »Hat die Konferenz schon angefangen?«, fragte Bouhaddi. »Nein«, antwortete Hjelm. »Aber heute Abend findet zum Auftakt ein Bankett hier in Amsterdam statt.« »Wir übernachten im Hotel«, sagte Holm. »Wahrscheinlich hat euer Chef seine Junggesellenbude seit Monaten nicht aufgeräumt.« »Konferenz?«, wiederholte Marinescu, der sich wieder beruhigt hatte. »Verzeiht, ich bin hier zwei Wochen vollkommen isoliert gewesen ...« Paul Hjelm erläuterte: »Vor der offiziellen Einweihung des neuen Hauptquartiers von Europol findet eine dreitägige Konferenz in besagtem Hauptquartier statt, die European Police Chiefs Convention. Sie endet mit der Einweihung am 1.?Juli, und dann darf auch die Opcop-Gruppe dazustoßen, also diejenigen von euch, die nicht hier sitzen werden.« Sie verabschiedeten sich. Als sie auf die Straße traten, sahen sie den Strafzettel hinter dem Scheibenwischer stecken. Paul Hjelm warf ihn ins Handschuhfach, in dem Kerstin Holm eine ganze Reihe ähnlicher Papiere ausmachte. »Amsterdam«, sagte Hjelm nur und gab Gas. Die Herengracht befand sich in unmittelbarer Nachbarschaft. Es war nur eine sehr kurze Fahrt, und zu Kerstin Holms großen Überraschung fanden sie sogar einen Parkplatz in der Nähe. Ihnen wurde ihr Zimmer zugewiesen, tatsächlich eine kleine, sehr geschmackvoll eingerichtete Suite mit mehreren Fenstern und Blick auf die Herengracht. Sie umarmten einander leidenschaftlich, ohne vorher die schweren Gardinen zuzuziehen. Während die Kleidungsstücke zu Boden fielen, fragte Kerstin Holm: »Was hältst du von einem Bad?« »Sehr gerne«, antwortete Paul Hjelm.mehr

Autor

Arne Dahl, Jahrgang 1963, hat mit seinen zehn Kriminalromanen um die Stockholmer A-Gruppe, zuletzt der Bestseller "Bußestunde", eine der weltweit erfolgreichsten Serien geschaffen. International mit zahlreichen Auszeichnungen bedacht, verkauften sich allein in Deutschland über eine Million Bücher. Mit "Gier" begann er 2012 ein neues Thriller-Quartett, das er mit "Zorn" 2013 fortsetzte. "Neid" ist der dritte und vorletzte Fall für das international operierende Opcop-Team.