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Das verborgene Wort

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
608 Seiten
Deutsch
Penguin Random Houseerschienen am11.12.2013
Der Traum vom Erwachsenwerden und die Suche nach der Freiheit
Die junge Hilla Palm ist voller Neugier und Lebenswille. Doch sie sieht sich in den Lebensgewohnheiten einer katholischen Arbeiterfamilie in einer rheinischen Dorfgemeinde gefangen und stößt an die Grenzen einer Welt, in der Sprache und Phantasie nichts gelten. Fast zerbricht sie an der Verständnislosigkeit der Eltern, die sie in den eigenen Anschauungen festhalten wollen. Im Deutschland der Fünfziger- und frühen Sechzigerjahre sucht das Mädchen seinen Weg in die Freiheit: die Freiheit des verborgenen Worts.
Ein mitreißender Entwicklungsroman, ein unübertroffenes Sittengemälde der Fünfzigerjahre, ein großes sprachphantastisches Epos.

Ulla Hahn, aufgewachsen im Rheinland, arbeitete nach ihrer Germanistik-Promotion als Lehrbeauftragte an verschiedenen Universitäten, anschließend als Literaturredakteurin bei Radio Bremen. Schon ihr erster Lyrikband, »Herz über Kopf« (1981), war ein großer Leser- und Kritikererfolg. Ihr lyrisches Werk wurde u. a. mit dem Leonce-und-Lena-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis ausgezeichnet. Für ihren Roman »Das verborgene Wort« (2001) erhielt sie den ersten Deutschen Bücherpreis. 2009 folgte der Bestseller »Aufbruch«, der zweite Teil des Epos, und auch Teil drei, »Spiel der Zeit« (2014), begeisterte Kritiker wie Leser. »Wir werden erwartet« (2017) bildet den Abschluss ihres autobiografischen Romanzyklus um das Arbeiterkind Hilla Palm. Zuletzt erschien 2021 ihr Gedichtband »stille trommeln« mit Gedichten aus 20 Jahren.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR26,00
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR12,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR9,99

Produkt

KlappentextDer Traum vom Erwachsenwerden und die Suche nach der Freiheit
Die junge Hilla Palm ist voller Neugier und Lebenswille. Doch sie sieht sich in den Lebensgewohnheiten einer katholischen Arbeiterfamilie in einer rheinischen Dorfgemeinde gefangen und stößt an die Grenzen einer Welt, in der Sprache und Phantasie nichts gelten. Fast zerbricht sie an der Verständnislosigkeit der Eltern, die sie in den eigenen Anschauungen festhalten wollen. Im Deutschland der Fünfziger- und frühen Sechzigerjahre sucht das Mädchen seinen Weg in die Freiheit: die Freiheit des verborgenen Worts.
Ein mitreißender Entwicklungsroman, ein unübertroffenes Sittengemälde der Fünfzigerjahre, ein großes sprachphantastisches Epos.

Ulla Hahn, aufgewachsen im Rheinland, arbeitete nach ihrer Germanistik-Promotion als Lehrbeauftragte an verschiedenen Universitäten, anschließend als Literaturredakteurin bei Radio Bremen. Schon ihr erster Lyrikband, »Herz über Kopf« (1981), war ein großer Leser- und Kritikererfolg. Ihr lyrisches Werk wurde u. a. mit dem Leonce-und-Lena-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis ausgezeichnet. Für ihren Roman »Das verborgene Wort« (2001) erhielt sie den ersten Deutschen Bücherpreis. 2009 folgte der Bestseller »Aufbruch«, der zweite Teil des Epos, und auch Teil drei, »Spiel der Zeit« (2014), begeisterte Kritiker wie Leser. »Wir werden erwartet« (2017) bildet den Abschluss ihres autobiografischen Romanzyklus um das Arbeiterkind Hilla Palm. Zuletzt erschien 2021 ihr Gedichtband »stille trommeln« mit Gedichten aus 20 Jahren.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783641135249
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2013
Erscheinungsdatum11.12.2013
Reihen-Nr.1
Seiten608 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse2353 Kbytes
Artikel-Nr.1338289
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe


Drei Tage lang wurde das Madonnenwasser von uns bebetet und bekreuzigt. Dann setzten wir alles auf eine Karte. Das ganze heilige Wasser auf einmal schüttete ich dem Großvater ins Glas für seine Tabletten.

Der Großvater schluckte die Tabletten hinunter, nippte an dem Glas und verzog das Gesicht.

Opa, trink aus, bettelte ich.

Trink, Opa, echote der Bruder.

Nä, Kenger, dat schmeck nit. Dat schmeck jo wie ahle Schoh. Un de Tablette sin jo och ald em Mage.

Opa, du muß dat drenke.

Jo, Opa drenk.

Die Großmutter trat dazwischen.

Wat quäls de dann dä Opa met dem Wasser? Jank, un hol em e Jläsje Appelsaff.

Die Großmutter griff das Wasserglas vom Nachttisch und goß es im hohen Bogen aus dem Fenster in den Rhabarber.

Oma, schrie ich, dat Wasser.

Dat Wasser, schrie der Bruder.

Wat es dann jitz ald widder los, fauchte sie. Wat soll et dann sons sin wie Wasser. Joht spille. Sunne Kokolores, un dat bei nem Kummelejonskenk!44

Das ganze Jahr über ließ ich den Rhabarber nicht aus den Augen; er gedieh wie immer in überwältigenden Mengen. Pihls Resi schwor weiterhin auf ihr Muttergottesfläschchen. Am besten, sagte sie, wirke es mit einem Eßlöffel Klosterfrau Melissengeist oder einem Klaren.

Ich aber war untröstlich. Hatte das Wasser nicht gewirkt, weil ich es gestohlen hatte? War es von Sünde im Keim vergiftet wie wir Menschen? Hatte ich dem Großvater am Ende Erbsündewasser zu trinken gegeben? Konnte heiliges Wasser durch eine böse Tat in teuflische Brühe verwandelt werden? Hatte ich den Großvater am Ende dem Tod in die Klauen getrieben?

Ich beichtete ihm unter Tränen. In seinen matt gewordenen, wie von einem hauchdünnen Milchhäutchen überzogenen Augen, blitzte es wie in alten Tagen, als er meine Hand in seine nahm, die dünn und weich geworden war.

Heldejaad, sagte er, denk doch ens an dat Fritzje. Mansche Minsche sin wies, angere schwaz. Mansche jesonk, angere krank. Dä leeve Jott wees, wat he det. Un sterve müsse mer all. Esch jlöv, dä leeve Jott well mesch bal em Himmel han.

Gut und schön. Aber warum so umständlich? Herrn Tröster hatte ein Ast erschlagen, Tante Margret im Krieg eine Bombe getroffen, Fräulein Höhnchen war eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht.

Aber das hier? Diese Schmerzen, dieser Geruch, als verwese der Großvater bei lebendigem Leib?

Warum der Großvater so sehr leiden müsse, fragte ich im nächsten Kommunionunterricht und ließ mir gesagt sein, daß Jesus die Leidenden brauche, wie sonst könnte er barmherzig sein.

 


 


 


 


Aufstehen, hieß es, wenn Lehrer Mohren das Klassenzimmer betrat. Guten Morgen, Kinder. Guten Morgen, Herr Lehrer. Wir übten, bis wir wie aus einem Munde antworten konnten. Schlugen das Kreuzzeichen, vierundfünfzig rechte Arme wie von unsichtbaren Fäden gezogen, und sprachen: >Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, Amen.< Setzen, sagte der Lehrer. Zu spät kommen, flüstern, mit den Füßen scharren, seufzen, gähnen, aus dem Fenster glotzen, herumfummeln, selbst husten und niesen waren mit Eckestehen oder einer Ohrfeige auf der Stelle gesühnt. Schwere Strafen für schwere Verbrechen wie vergessene oder fehlerhafte Hausarbeiten, Widerworte, Patzigkeiten, Lügen wurden erst kurz vor Schluß der Schulstunde verabreicht, bei besonders schlimmen Vergehen, bis zum Ende des Unterrichts aufgeschoben. Die Angst vor der ausstehenden Züchtigung und die Ächtung der Mitschüler, die den Missetäter mieden wie einen Pestkranken, waren fast schlimmer zu ertragen als die Schläge selbst, wenn sie denn endlich fielen.

Kurt Küppers hatte zum Namenstag einen Füller bekommen. Man steckte die Feder in ein Tintenfaß, drehte am hinteren Ende einen Kolben rauf und runter, saugte Tinte ein und konnte dann stundenlang schreiben, ohne einzutauchen. Der Füller steckte zusammen mit einem Vierfarbstift in einem grünen Ledermäppchen. In der ersten Pause war das Mäppchen von Hand zu Hand gegangen, und Sigrid, die mit ihrer roten Schleife im glatten braunen Haar aussah wie ein Schokoladenei, durfte ihn sogar aufschrauben und ihren Namen auf die letzte Seite in Kurt Küppers Rechenheft schreiben. Nach der zweiten Pause war das Mäppchen nicht mehr da.

Verdächtigt wurde Katti Kackaller. Sie saß in der letzten Bank, allein, und war ein Müpp. Nicht wie Irene und die anderen aus der kalten Heimat, die nichts dafür konnten, sondern ein eingeborener Müpp. Ihre Familie hauste mit einer unübersichtlichen Anzahl von Kindern in einer der Baracken, die während des Krieges für polnische Zwangsarbeiter zusammengezimmert worden waren. Lehrer machten Witze über die Kackallers, egal, ob sie anwesend waren oder nicht. Die letzte Drohung vor der Ohrfeige war, man werde enden wie ein Kackaller, wenn man so weitermache.

Katti Kackaller hatte aschblondes Haar, das in unregelmäßigen Stufungen irgendwo über den Ohren abgeschnitten war und vor Schmutz, Fett, Blättern und anderen kleinen Gegenständen starrte. Ihr Kleid verfleckt, der Saum halb offen, Knöpfe fehlten. Durch die löchrigen Strümpfe stachen spitze Knie. An den Füßen trug sie viel zu große Schuhe, die mit Zeitungspapier ausgestopft waren, das an den Rändern hervorquoll, wodurch ihr Gang etwas Schleichendes annahm. Kattis Haltung war geduckt, eine Katze vor dem Sprung. Ihr Gesicht flach und breit, ihr Körper ein Paket aus Muskeln und Knochen. Einer wie ihr war alles zuzutrauen. Sie hatte das Mäppchen nicht.

Der Reihe nach mußten wir unsere Tornister vor Mohrens Augen ausleeren. Der Füller wurde gefunden unter der Bank von Rainer Ebersold.

Rainer zählte zu den größten Jungen der Klasse und war nur Haut und Knochen. Doch seine Gesichtszüge waren noch so weich wie im Kindergarten, und seine verhaltenen Bewegungen drückten vor allem eines aus: das Bestreben, nicht aufzufallen. Er war ein mittelmäßiger Schüler, weder sonderlich beliebt noch mißachtet. Auch Rainer war ein Müpp. Aber aus der kalten Heimat. Sein Vater gehörte zu den in Rußland Verschollenen. Er kannte ihn nur bis zur Brust, in der Uniform eines Panzergrenadiers, Postkartenformat im Silberrahmen.

Seit Jahren trug Rainer Ebersold eine Lederhose, in die er allmählich hineinwuchs. Sie hatte zur großen Überraschung seiner Mutter in einem Paket gelegen, dem einzigen, das je aus der Heimat zu ihnen gelangt war, mit einem Brief seiner Großmutter: Sein Vater habe diese Hose schon getragen, und daß sie ihm Glück bringen solle.

Ebersold, Rainer. Die Vertauschung von Vor- und Nachnamen signalisierte höchste Alarmstufe. Der Lehrer klemmte sich, die Beine leicht gespreizt, beide Daumen in die Achselhöhlen unter die Ränder seiner Weste. Heute trug er den braunen Anzug, was seinem Gesicht stets einen Stich ins Safrangelbe gab.

Steh auf.

Rainer blieb sitzen. Bleich wie die Kreide an der Tafel.

Aber Herr Lehrer ...

Schweig. Aufstehen, sag ich.

Rainer erhob sich. Es war Montag, und er hatte das weiße Hemd vom Sonntag noch einmal anziehen dürfen. Zwischen den Hosenträgern lief ein rotes Band, bestickt mit weißen, fliehenden Hirschen, über seine Brust.

Ich ...

Schweig.

Und jetzt sagst du, wie das hier, der Lehrer fuchtelte mit dem Fülleretui herum, als wolle er es zum Leben erwecken, in deinen Tornister gekommen ist.

Ich, ich ... in meinem Tornister war es doch gar nicht. Und wie es unter meine Bank gekommen ist, weiß ich nicht.

Schweig! rief Mohren zum drittenmal. Du lügst.

Der Junge machte eine abwehrende Bewegung. Nein, Herr Lehrer, nein, ich lüge nicht. Ich hab das Mäppchen nicht genommen, nein.

Nein?! Der Lehrer dehnte die Silbe zu einem Sirenenton. Nein? Dann erkläre mir bitte, wie es da hingekommen ist. So etwa? Er faßte die Verschlußlasche des Etuis und ließ das Ding mit Schwung auf Rainers Ohr prallen.

Kurt Küppers schrie auf in Angst um die Füllfeder. Rainer rührte sich nicht. Sein Kopf, ein wenig zu groß und zu rund für den eckigen Körper, begann kaum merklich nach rechts und links auszuschlagen wie der Zeiger einer Waage.

Küppers, rief der Lehrer, hepp, und entledigte sich des Mäppchens mit einem gezielten Wurf in Richtung des Besitzers, der sein Eigentum geschickt auffing und es eben einer nachdrücklichen Prüfung unterziehen wollte, als Mohren ihm und seinem Nachbarn befahl, die erste Bank zu räumen.

Ebersold nach vorn.

Der Junge blieb stehen. Mohren schleppte ihn am Ohr durch den Klassenraum, stieß ihn auf die Bank, den Kopf nach unten, so daß seine Beine hinten in der Luft hingen.

Der Lehrer nahm den Zeigestock aus der Ecke neben der Landkarte; der dünnere lag bei der Kreide unter der Tafel. Dann knöpfte er dem Jungen die Hosenträger ab und zerrte die Hose an beiden Beinen bis zu den Knien herunter, wobei sich Rainers Unterleib unwillkürlich von der Bank hob, wie um die Prozedur zu erleichtern.

Wir alle konnten den kleinen Hintern in der verwaschenen, graublauen Baumwollunterhose sehen, der sich vor Angst und Scham zusammenkrampfte. Sigrid Gerschermann, die mit dem Füller ihren Namen hatte schreiben dürfen, schluckte laut.

Sonst ließ der Lehrer den Stock einmal, zweimal durch die Luft pfeifen, bevor er zuschlug, schmunzelnd: Unverhofft kommt oft. Heute aber traf gleich der erste Hieb sein Ziel.

Siebentes Gebot, skandierte er, du sollst nicht stehlen. Siebentes Gebot, du sollst nicht stehlen.

Kirschrot glühten seine Wangen aus dem gelben Gesicht, die Lippen sprühten Speichel. Rainer aber nahm seine Strafe nicht, wie es sich gehörte, schweigend entgegen. Vielmehr ließ er nicht ab, seine Unschuld zu beteuern, ja, er rief sogar...

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Ulla Hahn, aufgewachsen im Rheinland, arbeitete nach ihrer Germanistik-Promotion als Lehrbeauftragte an verschiedenen Universitäten, anschließend als Literaturredakteurin bei Radio Bremen. Schon ihr erster Lyrikband, »Herz über Kopf« (1981), war ein großer Leser- und Kritikererfolg. Ihr lyrisches Werk wurde u. a. mit dem Leonce-und-Lena-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis ausgezeichnet. Für ihren Roman »Das verborgene Wort« (2001) erhielt sie den ersten Deutschen Bücherpreis. 2009 folgte der Bestseller »Aufbruch«, der zweite Teil des Epos, und auch Teil drei, »Spiel der Zeit« (2014), begeisterte Kritiker wie Leser. »Wir werden erwartet« (2017) bildet den Abschluss ihres autobiografischen Romanzyklus um das Arbeiterkind Hilla Palm. Zuletzt erschien 2021 ihr Gedichtband »stille trommeln« mit Gedichten aus 20 Jahren.