Hugendubel.info - Die B2B Online-Buchhandlung 

Merkliste
Die Merkliste ist leer.
Bitte warten - die Druckansicht der Seite wird vorbereitet.
Der Druckdialog öffnet sich, sobald die Seite vollständig geladen wurde.
Sollte die Druckvorschau unvollständig sein, bitte schliessen und "Erneut drucken" wählen.

Himmelfahrt eines Staatsfeindes

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
352 Seiten
Deutsch
Rowohlt Verlag GmbHerschienen am01.08.20141. Auflage
In einem fröhlich-überbordenden Festzug durch Wiesbaden werden drei tote RAF-Gefangene zu Grabe getragen - vorn die schwarzrotgolden geschmückten Särge und auf roten Ordenskissen die «höchsten Reliquien des Terrors», die Selbstmordwerkzeuge; dahinter Polizeikapellen, Trachtengruppen, Kegelclubs und schwarz vermummte Sympathisanten. Alle sind angetreten zu diesem Akt der Versöhnung mit ihren Lieblingsfeinden, zur Würdigung der Verdienste der RAF um den Zusammenhalt der Nation. Der Staat und seine Terroristen, sie haben einander so sehr gebraucht. Delius´ dritter und abschließender Roman über den «Deutschen Herbst» - eine spöttische Bilanz der Beziehung zwischen Staat und Terroristen, «gegen die rechte und linke Rechthaberei, gegen die offiziellen Lügen und die Selbst-Belügungen der RAF». «Ein vieles wagendes und als Roman alles gewinnendes Buch.» (Frankfurter Rundschau)

Friedrich Christian Delius, geboren 1943 in Rom, gestorben 2022 in Berlin, wuchs in Hessen auf und lebte seit 1963 in Berlin. Zuletzt erschienen der Roman «Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich» (2019) und der Erzählungsband «Die sieben Sprachen des Schweigens» (2021). Delius wurde unter anderem mit dem Fontane-Preis, dem Joseph-Breitbach-Preis und dem Georg-Büchner-Preis geehrt. Seine Werkausgabe im Rowohlt Taschenbuch Verlag umfasst derzeit einundzwanzig Bände.
mehr

Produkt

KlappentextIn einem fröhlich-überbordenden Festzug durch Wiesbaden werden drei tote RAF-Gefangene zu Grabe getragen - vorn die schwarzrotgolden geschmückten Särge und auf roten Ordenskissen die «höchsten Reliquien des Terrors», die Selbstmordwerkzeuge; dahinter Polizeikapellen, Trachtengruppen, Kegelclubs und schwarz vermummte Sympathisanten. Alle sind angetreten zu diesem Akt der Versöhnung mit ihren Lieblingsfeinden, zur Würdigung der Verdienste der RAF um den Zusammenhalt der Nation. Der Staat und seine Terroristen, sie haben einander so sehr gebraucht. Delius´ dritter und abschließender Roman über den «Deutschen Herbst» - eine spöttische Bilanz der Beziehung zwischen Staat und Terroristen, «gegen die rechte und linke Rechthaberei, gegen die offiziellen Lügen und die Selbst-Belügungen der RAF». «Ein vieles wagendes und als Roman alles gewinnendes Buch.» (Frankfurter Rundschau)

Friedrich Christian Delius, geboren 1943 in Rom, gestorben 2022 in Berlin, wuchs in Hessen auf und lebte seit 1963 in Berlin. Zuletzt erschienen der Roman «Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich» (2019) und der Erzählungsband «Die sieben Sprachen des Schweigens» (2021). Delius wurde unter anderem mit dem Fontane-Preis, dem Joseph-Breitbach-Preis und dem Georg-Büchner-Preis geehrt. Seine Werkausgabe im Rowohlt Taschenbuch Verlag umfasst derzeit einundzwanzig Bände.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783644520516
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2014
Erscheinungsdatum01.08.2014
Auflage1. Auflage
Seiten352 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.1457825
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


[zur Inhaltsübersicht]

6 Damen und Herren in mittelalterlichen Trachten winken mit dicken Sträußen aus Azaleen und Begonien den grünweiß uniformierten Männern auf den grün-weißen Motorrädern an der Spitze des Trauerzuges entgegen. Die Vertreter der Partnerstadt Gent, der Stadt der Tuchmacher und Drahtzieher, sagt der Reporter. Am Anfang der Bahnhofstraße sind Abordnungen der europäischen Partnerstädte platziert, mit ihrem lockeren und heiteren Auftreten geben sie einen harmonischen Auftakt für festliche Stimmung:

Nach Burschen und Frauen im Bergbauernkostüm aus Montreux ziehen Basken aus San Sebastian über den Bildschirm, ohne Tracht, aber mit ihren berühmten Mützen. Sie bewegen sich untergehakt im Takt der Marschmusik, zum Tanzen bereit.

Die farbigen Bilder wirken entspannend auf Bernhard Schäfer im Chefbüro. Der Wechsel zwischen den Gesten der Trauer und der Freude, zwischen dem Arrangement des Protokolls und den spontanen Gefühlsregungen der Zuschauer gefällt ihm. Es stört ihn nur die Gruppe aus Klagenfurt, die von der heimischen Holzmesse das neueste Sortiment Schlagstöcke mitgebracht hat und zum Takt des Marsches die Stöcke über die Köpfe wirbeln lässt wie eine Damenriege die Keulen.

Schäfer hat frischen Kaffee vor sich, streckt die Beine aus, sieht Sigurd Nagels Sarg im Fernsehen und gleichzeitig sein Fotogesicht auf der Vorzimmertür. Das erste Fahndungsplakat als Erinnerung an die wilden Zeiten des Aufbruchs. Dazu das Plakat mit den jeweils neu gesuchten Gesichtern, in rechteckiger Ordnung und gleichmäßigem Abstand Belohnung versprechend: Hinweise nimmt jede Polizeidienststelle. Ein Hinweis an sich selbst und an die Besucher, die Gefahr hört nie auf, hinter dieser Tür beginnt der Terror.

Die Särge interessieren ihn weniger als die Köpfe, die er vom Schreibtisch aus stets im Visier hat: die Meistgesuchten und die früher Meistgesuchten, tot, angeklagt, verurteilt oder versteckt unter den aktuellen Fahndungsfotos, wer warnt wen vor Schusswaffengebrauch. Schäfer braucht den Blickkontakt, damit er sie besser greifen kann. Er braucht die Gesichter, obwohl er sie kennt bis in die Falten und unveränderlichen Kennzeichen hinein, obwohl sie ihn im Traum begleiten und auf jeder Dienstreise und allgegenwärtig sind in der Öffentlichkeit der Ämter und Poststellen, der Flughäfen und Litfaßsäulen, der Tankstellen und Bahnsteige.

Die Toten werden an der Delegation aus Berlin-Kreuzberg vorbeigefahren, die nicht mehr zu bieten hat als die Fahne Berlins, unter der das Häuflein schwarz und grau gekleideter Lokalpolitiker versammelt ist, verschüchtert von der Fröhlichkeit der Spanier und Österreicher. Im schwachen Wind wedelt der Bär mit schwarzen Tatzen und streckt die Zunge, unter ihm tragen Schäfers Kollegen Pistolen und Kabel auf Kissen vorbei.

Bernhard Schäfer ist bemüht, keine Emotion zu zeigen, obwohl er allein im Büro sitzt. Niemals hat er eins der Gesichter mit dickem Stift durchgestrichen, wenn einer aus der Garde der Mutmaßlichen gefangen oder tot war. Er hakt keinen ab, streicht keinen durch, stößt keinen, nicht einmal die Toten, aus dem trauten Kreis derer, die sich Family nennen. Er hat die Plakate persönlich mit Tesafilm an die Tür geklebt. Er lässt die Gesichter weiter sprechen, hört ihnen zu, er braucht sie, braucht Nagel, den er am längsten kennt und mit dem er jeden Tag Zwiesprache sucht, jetzt zischt er ihm zu:

«Ganz schön weit gebracht hast dus!»

Bernhard Schäfer trinkt den ersten Schluck Kaffee immer zu früh, verbrennt sich die Zunge und macht, da er guter Laune ist, seinen Gegner dafür verantwortlich.

Nagel, dessen Gesicht nicht so hässlich und abstoßend ist, wie das Foto dem Publikum weismacht, lebt auf, wenn er angesprochen wird. Schäfer kennt die Parole «Der Kampf geht weiter», also stört er sich nicht daran, dass Nagel hört, was er sagt und sagen will, seine Terminpläne kennt, seine Telefonate, seine Anweisungen, seine Berater und Kollegen Abteilungsleiter. Nagel sieht, wenn er den Schlips zurechtrückt oder den Hodensack, merkt, wann er unter der Klimaanlagenluft leidet, unter der Länge des Dienstwegs, unter einer Fahndungspanne, unter dem Dauerregen vor dem breiten Fenster, liest mit ihm die Akten und fährt mit ihm durch die Dateien. Nagel ist Ikone, Spiegel, versteckte Kamera, die Schäfer fürchtet, und die Wanze, die er noch mehr fürchtet. Zu Nagel blickt er auf, und selbst seine ironischen Flüche richtet er an ihn: «Du bist schuld! An allem!»

Der Bildschirm zeigt nun weniger Farbe und viele männliche Personen. Stellvertretend für die deutsche Beamtenschaft, sagt der Reporter, dürfen hier die Personalräte der Ministerien Abschied nehmen von den Toten ... Schäfer rechnet, wie viele Tassen er noch zu trinken hat bis zur Lösung des Problems Terrorismus. Angenommen fünf Jahre, dreihundert Arbeitstage, acht Tassen pro Tag, Schäfer rechnet im Kopf und kommt auf zwölftausend Tassen Kaffee. Die Rechnung müsste genauer sein, eigentlich dreihundertfünfzig Arbeitstage, also noch zweitausend Tassen drauf. Er stellt sich die lange Reihe der Tassen vor und nimmt vorsichtig den zweiten Schluck Kaffee.

Im Fernsehen wird gejohlt, die Gruppe der Sympathisanten zockelt vorbei, dahinter die Klagenfurter. Ja, das ist doch, ruft der Reporter, der berühmte Drachen des Lindwurmbrunnens! Damit zeigen die Klagenfurter allen Fernsehzuschauern, dass sie den Drachen, den die Deutschen soeben zu Grabe tragen, schon lange bezwungen haben.

Schäfer schmunzelt. Er wird erinnert an die befriedigende Wärme kurz nach einer Festnahme und schließt die Augen. Aus schwarzen Punkten fliegen winzige Gesichter auf ihn zu; vergrößern sich zu Passfotos schwarzweiß. In den Sekunden zwischen Ermüdung und Konzentration reißen sich die grauen, schwach konturierten Gesichter junger Frauen und Männer aus der rechtwinkligen Ordnung der Plakate an der Tür. Die Gruppe, die Bande, die Armee schwirrt durch den Raum und startet einen kleinen Frontalangriff, bis Bernhard Schäfer den nächsten Schluck Kaffee nimmt und sie wortlos zurückbefiehlt an den Platz auf der Tür, zurück auf die schwarzgrauen Felder auf dem roten Papier.

Er schaut auf die Uhr, steht auf, verschwindet aus Nagels Blickfeld, an Frau Dornhauser im Vorzimmer vorbei («Videoraum, bin in zwanzig Minuten zurück!») auf den Flur zu zwei jungen Polizisten, die mit dem Ruf «Mahlzeit!» heranspringen.

Schäfer sagt: «Haus III, 2. Stock» und geht los. Einer läuft vor, einer hinter dem Chef. Beide schielen vorschriftsmäßig nach links und rechts und vorn und hinten. Gummisohlen quietschen auf Linoleum. Schäfer zufrieden mit den Bewegungen des Oberkörpers vor ihm, die dem Kenner das diszipliniert geschmeidige Verhalten junger Polizisten verraten. Sportler mit mittelstarkem Ehrgeiz. Der Wunsch, nicht als Kaufmann zu versauern, treibt sie in die Uniformen, in die Disziplin, zum Handeln im Notfall blitzschnell.

Der vordere stößt die Türen auf, der andere schließt sie, wenn nötig. Schäfer in der Mitte mit dem königlichen Gefühl, Türgriffe nicht berühren zu müssen beim Gang durch die vielen Türen, gegrüßt zu werden von den Untergebenen, die zwischen Schreibtischen und Labors hin und her eilen und ohne Aufforderung anhalten, wenn der Chef mit kleiner Begleitung den Weg kreuzt und den Vortritt braucht auf engen Treppen und Korridoren. Er kann sich auf dreitausend Fachleute verlassen, er treibt sie täglich zu größerer Präzision und Effizienz. Er inspiriert Abteilungsleiter, diese stoßen Bereichsleiter voran, und die dirigieren Ermittler und Sachbearbeiter, die pausenlos nach Tätern jagen, Rauschgift, Waffenhandel, Mord und Totschlag, Raub, Erpressung, Sittlichkeit, Falschgeld, Autoschiebereien, Kunstraub, Diebstahl, Wirtschaftskriminalität, der ganze Gemischtwarenladen, und darüber die Krone aller Verbrechen, der Terrorismus, und darunter die Wissenschaftler der Kriminaltechnik, die Tüftler der Erkennungsdienste, Schusswaffen, Handschriften, Fotos und die nimmermüden Informatiker.

Nur selten grüßt Schäfer, Damen lieber als Herren, nickt hier und da den Kollegen zu, es spielt keine Rolle, ob sie ihm dem Namen nach bekannt sind oder nicht. Seine Geste Zuspruch, Motivationshilfe. Er wird respektiert im Haus. Sie alle wissen, dass er mehr arbeitet als alle andern, dass er sein privates Leben aufgegeben hat. Er ist Vorbild, aber ein Vorbild, das keiner erreichen will.

Nur über die hausinterne Bewachung wird manchmal gespottet. Old Bernt, im sichersten aller Ämter, habe wohl Angst, es könnte ein Fremder, der vier Schranken und drei Ausweiskontrollen und zwei Körperkontrollen passieren müsste, bis ins innerste Herz der Terrorabwehr vorstoßen und dann einen Mord begehen! Haben wir ein solches Misstrauen gegen unsere Arbeit? Können wir den eignen Leuten nicht trauen? Oder ist da jemand nicht ausgelastet, Personalverschwendung, Beamtenbequemlichkeit und so weiter?

Die Experten für Personenschutz haben entschieden. Sie können nichts ausschließen, wie immer. Unter den dreitausend Mitarbeitern könnten trotz aller Vorsorge und Abwehr zwei oder drei von den Terroristen eingeschleuste Leute sein, die auf eine Gelegenheit zum Mord hinarbeiten, denkt an den Spion als Kanzlerfreund. Noch weniger wollten sie ausschließen, dass einer der bewährten Beamten plötzlich dem Wahnsinn verfallen und dem Chef ans Leben gehen könnte. Sie verwiesen auf Feuerwehrleute, die Brandstifter, auf Wachleute, die Diebe, auf Ärzte, die Mörder werden, und auch unter Kriminalbeamten gebe es Ausnahmen mit solchen gegensinnigen Neigungen. Also folgt man den Experten, in diesen Zeiten, Herausforderung, kein Risiko. Personalverschwendung sei die...
mehr

Autor

Friedrich Christian Delius, geboren 1943 in Rom, gestorben 2022 in Berlin, wuchs in Hessen auf und lebte seit 1963 in Berlin. Zuletzt erschienen der Roman «Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich» (2019) und der Erzählungsband «Die sieben Sprachen des Schweigens» (2021). Delius wurde unter anderem mit dem Fontane-Preis, dem Joseph-Breitbach-Preis und dem Georg-Büchner-Preis geehrt. Seine Werkausgabe im Rowohlt Taschenbuch Verlag umfasst derzeit einundzwanzig Bände.