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Ein Held der inneren Sicherheit

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
272 Seiten
Deutsch
Rowohlt Verlag GmbHerschienen am01.08.20141. Auflage
Roland Diehl, Ghostwriter und ironisch «Chefdenker» genannter Nachwuchsideologe im Verband der Menschenführer, erfährt eine totale Verunsicherung, als sein Chef entführt wird. Ohne ihn scheint ihm sein Karriereglück gefährdet. Vorübergehend löst sich Diehl aus seiner Rolle als cooler Interessenstratege und menschlicher Ideencomputer, um sich schließlich, befördert, in den neuen, alten Verhältnissen einzurichten. «Da ist Delius Meister: wie er die Sprache der Wirklichkeitslüge unterminiert und demaskiert.» (Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt) Der erste Teil einer Chronik des Jahres 1977, des Wendepunkts der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte: «Eine bissige Revue, sie zeigt Scharfblick und Zugriff». (Süddeutsche Zeitung)

Friedrich Christian Delius, geboren 1943 in Rom, gestorben 2022 in Berlin, wuchs in Hessen auf und lebte seit 1963 in Berlin. Zuletzt erschienen der Roman «Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich» (2019) und der Erzählungsband «Die sieben Sprachen des Schweigens» (2021). Delius wurde unter anderem mit dem Fontane-Preis, dem Joseph-Breitbach-Preis und dem Georg-Büchner-Preis geehrt. Seine Werkausgabe im Rowohlt Taschenbuch Verlag umfasst derzeit einundzwanzig Bände.
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Produkt

KlappentextRoland Diehl, Ghostwriter und ironisch «Chefdenker» genannter Nachwuchsideologe im Verband der Menschenführer, erfährt eine totale Verunsicherung, als sein Chef entführt wird. Ohne ihn scheint ihm sein Karriereglück gefährdet. Vorübergehend löst sich Diehl aus seiner Rolle als cooler Interessenstratege und menschlicher Ideencomputer, um sich schließlich, befördert, in den neuen, alten Verhältnissen einzurichten. «Da ist Delius Meister: wie er die Sprache der Wirklichkeitslüge unterminiert und demaskiert.» (Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt) Der erste Teil einer Chronik des Jahres 1977, des Wendepunkts der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte: «Eine bissige Revue, sie zeigt Scharfblick und Zugriff». (Süddeutsche Zeitung)

Friedrich Christian Delius, geboren 1943 in Rom, gestorben 2022 in Berlin, wuchs in Hessen auf und lebte seit 1963 in Berlin. Zuletzt erschienen der Roman «Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich» (2019) und der Erzählungsband «Die sieben Sprachen des Schweigens» (2021). Delius wurde unter anderem mit dem Fontane-Preis, dem Joseph-Breitbach-Preis und dem Georg-Büchner-Preis geehrt. Seine Werkausgabe im Rowohlt Taschenbuch Verlag umfasst derzeit einundzwanzig Bände.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783644520318
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2014
Erscheinungsdatum01.08.2014
Auflage1. Auflage
Seiten272 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.1466982
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


[zur Inhaltsübersicht]
Zwei

Vierabend will dir wieder was anhängen, eine Unverschämtheit. Der Schwung der Rede war weg, die Wörter trocken und schal, und dazwischen eine federnde Wut auf den Generalgeschäftsführer. Diehl kam sich eingeengt vor in der sauberen Öde des Büros, eingesperrt in die eigenen Formulierungen, in die sachliche subjektlose ermüdende Sprache, die keinen Schutz bot gegen persönlichen Angriff, gegen Ärger über dummen Verdacht. Alles kroch von ihm weg, Moos und Tina, Büttinger, Vierabend, alle zogen sich zurück.

Fast schon beleidigt saß er da und wollte sofort die Freundin bei sich haben, Tina sofort hier im Büro halb nackt, Haut fassen, warme Arme beim Umarmen, oder sie sollte einfach nur im Raum sitzen, den Ärger verjagen, ihn aufmuntern. Wenigstens reden mit ihr, wenn sich mit Moos schon nicht reden ließ. Am besten raus mit ihr über die Autobahn fegen und donnernden Rock von hinten auf die Ohren.

Tina war ganz nah, im gleichen Haus, eine der beiden Besucher-Hostessen, und doch nicht zu greifen, irgendwo unterwegs mit ihren Ausländern. Tina ganz nah weit weg irgendwo in Diehls Kopf, derzeitige Privat-Hostess des Chefdenkers. Sie trafen sich zwei- oder dreimal in der Woche in ihrer Wohnung oder in seinem Apartment und schliefen zusammen, und ab und an gestanden sie sich sicherheitshalber ihre Nicht-Liebe, ich mag dich, aber ich kann dich nicht lieben, ich liebe eine andere. Tina hatte, das war das Praktische an ihr, nie nachgebohrt, was denn mit dieser Amerikanerin sei. Sie ahnte, dass das seine Schutzbehauptung war. Denn auch sie wollte, solange sich kein aussichtsreicher Dauerpartner fand, ein kommodes Zweckbündnis, keine Gefühlsdebatten und komplizierten Ansprüche. Also wertete sie ihre kurze Begegnung mit einem Hamburger Tabak-Manager zur großen Liebe auf, ich liebe ihn, aber ich komm gern zu dir. Mit dieser Übereinkunft fühlten sie sich nun schon über ein Jahr zufrieden, don´t touch my feelings, touch me, fiepsten die Queen aus den Lautsprechern.

Was wollte er von ihr jetzt? Sie bei sich haben, sie zu fassen kriegen, Tür abschließen oder mit ihr hinaus, über Landstraßen, auf einer Wiese ficken, mit ihr reden, ich muss mit jemand reden.

Er rief an, obwohl er sicher war, sie nicht zu erreichen. Natürlich, Frau Schweizer auf Tour, wenn ich sie brauche. Sie zieht durchs Haus mit Arabern, erklärt weichgekochten Kommunisten und geilen Indern die Vorzüge der Marktwirtschaft, die Fragen aus Zaire und die Fragen aus Venezuela kennt sie auswendig, und für die Fragen aus Belgrad oder Peking Moskau hat sie immer den gleichen freundlichen Witz bereit, sie ist beliebt bei unsern Gästen, durch Führungen werden bleibende emotionale Bindungen ans Menschenführertum geschaffen, sie macht den Verband beliebt, sie kennt alle Komplimente auf ihr blondes Haar, jede Woche ein oder zwei Heiratsanträge von Mohren oder Gelben.

Diehl verirrte sich in Eifersuchtsgedanken, irgendwo macht jetzt wieder einer von diesen winzigen Japanern sein dünnlippiges Kompliment, oder einer der Schwarzen führt ihr ein vielversprechendes Augenrollen vor, kurz nach der Multi-Media-Show. Er wollte dazwischenfahren. Er überlegte, warum die Führungen nicht abgesagt waren wegen Büttinger. Warum ausfallen lassen, wir können die weitgereisten Leute doch nicht wegschicken, nur weil Büttinger nicht im Haus ist, Parole Weitermachen jaja.

Reg dich ab, Tina tut was für dich, für dein Ansehen, Tina kennen sie alle im Haus, Tina kommt in vielen Etagen rum, und inzwischen haben es auch die Letzten in den wenig besuchten Abteilungen gehört, dass Hostess Tina jetzt mit dem Diehl, das ist dir doch recht. Das ist mehr als das schicke Büroverhältnis, das sie alle haben oder sich wegen Mangel an Frauen nur wünschen, Tina ist mehr als eines der Schreibmädchen, die bestenfalls sexy genannt werden, mehr als die studierten Sachbearbeiterinnen, die höchstens als passabel eingestuft werden, deine Tina gehört zu den Stars des Hauses.

 

 

Karriere einer Hostess. Tina Schweizer aus Krefeld, was hat sie aus dem Amtsrichterwohnzimmer getrieben, jeden Abend ohne Licht mit den Eltern den Rosenkranz beten bis sie nein sagen lernte mit siebzehn, jeden Montag Kohl jeden Freitag Fisch, und kein Wort, das ihr geholfen hätte, und den Opel durfte sie auch nicht, und Freunde nur, wenn die den Eltern Nelken brachten, let the sunshine in, und das fünftbeste Abitur des Jahrgangs 67 des Walburga-Gymnasiums. Sie wurde festgelegt auf Sprachen, Dolmetscherinstitut Heidelberg, vor dem die Corpsstudenten Patrouille liefen auf Brautschau mit schlotternden Knien und ohne Wichs, sie hatten Angst vor den Frauen, aber sie brauchten sie beim Damenabend, eine Heidelberger Studentin hatte die Wahl zwischen drei Heidelberger Studenten. Auch Tina wollte nicht allein sein und geriet an einen cand. jur., so kam zum Damenabend die Vorzeigedame Fräulein Tina. Erst machen sie auf Dame und Anstand Zackzack und nach zwei Litern Bier fangen sie an zu knutschen wie Sechzehnjährige und führen die Damen in der Morgendämmerung des Juni an den Neckar und flüstern hölzerne Komplimente, schwache Liebeserklärungen, die Tina schon besser aus Büchern kannte. Da lief sie mit sicherem Instinkt weg, da sah sie den jungen Amtsrichter vor sich, den alten, das wollte sie auf keinen Fall, irgendwann muss es das erste Mal sein, aber nicht mit dem.

Sie hatte das Buchlesen gern. Dann sah sie im Fernsehen Demonstrationen aus Berlin. Sie fand es nicht richtig, dass Studenten auf die Straßen gingen, aber es war abscheulich, dass einer einfach erschossen wurde. Sie wollte mehr als Französisch Englisch Spanisch, sie wollte endlich ihre Schüchternheit ablegen, man müsste die Schüchternheit ausziehen können wie den BH. Sie nahm einen Spruch von der Wand, den sie als Unterprimanerin aufgeschnappt, auf ein DIN-A4-Blatt getippt und an die Wand in Krefeld und an die Wand in Heidelberg geheftet hatte: «Man könnte die menschlichen Tätigkeiten nach der Zahl der Worte einteilen, die sie nötig haben; je mehr von diesen, desto schlechter ist es um ihren Charakter bestellt. Robert Musil.» Sie schämte sich plötzlich, dass sie so lange daran geglaubt hatte. Im nächsten Semester ging sie in eine Vorlesung der Soziologie, und ein Student der Geschichte stolperte auf sie zu und hatte den rotblonden Blick und eine eigene Bude.

Obwohl es ihr bitter wehtat am Anfang und sie weggerannt wäre, wenn sie gewusst hätte wohin, blieben sie zusammen, fast zwei Jahre, sie paukte die Sprachen und ging mit ihm zu einer liberalen Studentengruppe. Der Freund ließ sich in den Vorstand wählen, ins Studentenparlament, fuhr auf Kongresse, Karriere Karriere, fand eine andere, ließ Tina allein. Sie trat aus Protest aus dem Verein aus, sie hätte gern eine bessere Rache geübt, wenn sie gewusst hätte wie.

Politik stieß sie ab, sie wollte aber gern demokratisch sein. Den Begriff Demokratie hatte sie immer verbunden mit einer Großtante aus einem Dorf am Niederrhein, von der die Legende ging: Winter 44/45, Engländer und Amerikaner rückten an, monatelang die Front an den Grenzen um Kleve, und als die Leute aus den Dörfern evakuiert wurden, da hat unsre Tante Hermine noch ein frisches Tischtuch auf den Esstisch gelegt und gesagt, wer hier reinkommt, soll es schön haben und soll sehen, dass hier ordentliche Menschen wohnen. So wollte Tina die Politik haben, fürsorglich ordentlich gastfreundlich, aber was sie sah, war alles Kampf, alles Schlägerei, die Corpsstudenten, die SDSler, die Liberalen auch nicht besser, sie verstand die nicht mehr. Immer wenn sie dachte, etwas begriffen zu haben, sagten in der Kneipe die Studenten, das ist von gestern, man merkt, dass du von den Dolmetschern kommst, die hinken immer nach. Sie fühlte sich weggestoßen und überall am falschen Platz. Die sie ansprachen, fand sie plump, die sie im Auge hatte, rückten nicht näher, dein Glück kommt später, sagte sich Tina mit 22 und warf sich ganz in ihre Sprachen.

Auf einmal hatte sie ihre Examen und keine Ahnung, wie weiter, welchen Beruf, und keine ausbaufähige Liebesgeschichte. In Brüssel und Luxemburg wurden immer noch Frauen wie sie gesucht, aber dort hätte sie das halbe Institut wiedergetroffen. Sie wollte endlich auf eigenen Füßen stehn, bewarb sich auf eine Anzeige des Verbandes der Menschenführer, von dem sie nichts weiter wusste, sie hatte nur Lust, nach Köln zu ziehen, in die Nähe der alten Gegend, aber nicht zu nah. Sie wurde eingestellt für bequeme Übersetzungen, dann, als der PR-Service ausgebaut und das Besucherprogramm eingeführt wurde, der Aufstieg von der namenlosen Diplomübersetzerin zur umworbenen Hostess. Werbung für das deutsche Wunder Modell Germany Modell Menschenführung das erfolgreichste Wirtschaftssystem aller Zeiten, das war Tinas Aufgabe. Sie setzte die Film-Dia-Ton-Show in Gang und gab die ergänzenden, spontan wirkenden Antworten. Die getrennte Bedienung der Besuchergruppen erleichterte diese Arbeit, die aus westeuropäischen Ländern sahen und hörten ein anderes Programm als die Gäste aus Entwicklungsländern und wieder ein anderes die verklemmten Herren aus den Staatshandelsländern. Jedes Programm, bei dem ihr je nach dem Informationsstand der Besucher Experten des Hauses zur Seite standen, hatte einen anderen Werbeansatz, aber alle führten zum Finale des gemeinsamen, internationalen Interesses am Modell Menschenführung. Meine Wallfahrer, sagte Tina manchmal, je länger ihr Weg, desto stärker sind sie beeindruckt.

Der Verband stellte für sie ein Ordnungssystem dar, das sie akzeptierte, weil alles wohlorganisiert war, sogar die Hierarchie, die sie in Heidelberg noch kritisiert...
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Autor

Friedrich Christian Delius, geboren 1943 in Rom, gestorben 2022 in Berlin, wuchs in Hessen auf und lebte seit 1963 in Berlin. Zuletzt erschienen der Roman «Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich» (2019) und der Erzählungsband «Die sieben Sprachen des Schweigens» (2021). Delius wurde unter anderem mit dem Fontane-Preis, dem Joseph-Breitbach-Preis und dem Georg-Büchner-Preis geehrt. Seine Werkausgabe im Rowohlt Taschenbuch Verlag umfasst derzeit einundzwanzig Bände.