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Die Klagen der Toten

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
512 Seiten
Deutsch
Penguin Random Houseerschienen am14.09.2015
Ein wunderbar atmosphärischer Kriminalroman im
Neapel der 30er Jahre.
Neapel Anfang der Dreißigerjahre an einem mörderisch heißen Julitag: Professor Iovine del Castello, ein berühmter Chirurg und angesehenes Mitglied der Oberschicht, stürzt aus dem Fenster seiner Praxis in den Tod. Für Commissario Ricciardi und seinen Assistenten Brigadiere Maione ist schnell klar, dass es sich weder um einen Unfall noch um Selbstmord handelt. Ihre Ermittlungen führen sie schon bald zu einer ganzen Reihe von Verdächtigen: Menschen, die sich von Iovine hintergangen, ausgenutzt oder betrogen fühlten. Bei ihren Recherchen werden Ricciardi und Maione mit verletzten Gefühlen, Untreue und unglücklichen Lieben konfrontiert. Und die Geschichte, die Ricciardi und Maione schließlich aufdecken, bringt sie an den Rand dessen, was sie ertragen können ...

Maurizio de Giovanni wurde 1958 in Neapel geboren, wo er auch heute noch lebt. Er hat Literatur studiert, hauptberuflich aber lange Jahre als Banker gearbeitet, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Die Ricciardi-Romane, die auch im Ausland große Erfolge feiern, wurden mehrfach ausgezeichnet.
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Produkt

KlappentextEin wunderbar atmosphärischer Kriminalroman im
Neapel der 30er Jahre.
Neapel Anfang der Dreißigerjahre an einem mörderisch heißen Julitag: Professor Iovine del Castello, ein berühmter Chirurg und angesehenes Mitglied der Oberschicht, stürzt aus dem Fenster seiner Praxis in den Tod. Für Commissario Ricciardi und seinen Assistenten Brigadiere Maione ist schnell klar, dass es sich weder um einen Unfall noch um Selbstmord handelt. Ihre Ermittlungen führen sie schon bald zu einer ganzen Reihe von Verdächtigen: Menschen, die sich von Iovine hintergangen, ausgenutzt oder betrogen fühlten. Bei ihren Recherchen werden Ricciardi und Maione mit verletzten Gefühlen, Untreue und unglücklichen Lieben konfrontiert. Und die Geschichte, die Ricciardi und Maione schließlich aufdecken, bringt sie an den Rand dessen, was sie ertragen können ...

Maurizio de Giovanni wurde 1958 in Neapel geboren, wo er auch heute noch lebt. Er hat Literatur studiert, hauptberuflich aber lange Jahre als Banker gearbeitet, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Die Ricciardi-Romane, die auch im Ausland große Erfolge feiern, wurden mehrfach ausgezeichnet.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783641166656
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2015
Erscheinungsdatum14.09.2015
Reihen-Nr.7
Seiten512 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse2194 Kbytes
Artikel-Nr.1704923
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe



I

Er stürzt, der Professore.

Er stürzt, und während er stürzt, breitet er die Arme aus, als wolle er die glühend heiße Sommernacht, die ihn empfängt, umschlingen.

Er stürzt, und obwohl er während des kurzen Handgemenges die gesamte Luft, die er in der Lunge hatte, ausgestoßen hat, zwingt ihn sein Körper jetzt sinnloserweise noch einmal dazu einzuatmen, auch wenn dieser frische Sauerstoff zu nichts mehr dienen wird und nicht einmal mehr rechtzeitig in seine Blutbahn gerät.

Auch seine Nase wird nicht mehr den Duft erschnuppern, den die Bäume und die Blumen in den Rabatten verströmen, den Geruch nach Essen aus den Fenstern des Viertels, über dem die Sommerhitze liegt wie eine Verwünschung.

Er stürzt mit geschlossenen Augen und sieht auch nicht das Licht, das bei denen brennt, die trotz der späten Stunde keinen Schlaf finden, auch nicht, ein wenig entfernt, jenseits der Häuserdächer, die zum Meer hin abfallen, den Laternenschein der großen Straße, die dem Gassengewirr ein Ende bereitet.

Er stürzt, der Professore. Und seine Gedanken zerspringen in Tausend kleine Stücke, lauter Geistesblitze, die nie wieder einen der wohlgeformten Sätze bilden werden, für die er zu Recht in der akademischen Welt berühmt ist. Jetzt sind sie nur noch wie die Splitter eines zerbrochenen Spiegels, die noch im Fallen die vorbeisausende Welt einfangen und dabei dem ganzen, schönen Bild nachweinen, das sie einst geformt haben.

Einer dieser Splitter fängt die Liebe ein.

Hätte er noch die Zeit, bei dem Thema zu verweilen, so würde der Professore denken, wie seltsam sie doch ist, die Liebe. Sie lässt dich absurde Dinge tun, weit entfernt von dem, was sonst deine Art ist; mal macht sie dich lächerlich, mal erfüllt sie das Leben mit Farbe. Die Liebe erschafft, die Liebe zerstört, würde er es in eines seiner blumigen Bonmots fassen. Und manchmal lässt sie dich auch aus dem Fenster fliegen.

Doch der Professore stürzt, und wenn man stürzt, kann man sich nicht mehr erlauben als Gedankensplitter. Und so stellt sich auch der außergewöhnliche Verstand eines Wissenschaftlers der Angst vor dem Schmerz.

Den Schmerz kann man studieren, würde der Professore behaupten, wenn ihm dazu noch die Zeit und die Muße blieben. Er ist ein Symptom, ein Zeichen dafür, dass die vertrackte Maschinerie des menschlichen Körpers, über die man so viel weiß und doch so vieles auch nicht, nicht mehr recht funktioniert. Ein Signal, wie ein hell leuchtendes Warnlicht, auf das es zu achten gilt: Schnell, eilt herbei, da ist etwas im Argen. Bei Kindern - so würde der Professore berichten, wenn er nicht fiele - liegt genau hier das Problem. Sie können nicht sagen, wo es ihnen wehtut, sie begreifen nicht, was sie spüren. Sie jammern und weinen und schreien, doch sie sagen nichts; und der arme Arzt, der diese kleinen Ungeheuer behandeln soll, muss behutsam vorgehen, hier tasten, dort drücken, bis ein lauterer Schrei ihm die Augen öffnet, sodass er endlich begreift. Kalt, kalt, heißer, ganz heiß.

Stürze er nicht in so schwindelerregendem Tempo, würde dem Professore zum hundertsten Mal der Gedanke kommen, wie seltsam doch das Leben ist, weil es dich dazu bringt, dich aus beruflichen Gründen mit Dingen abzugeben, mit denen sonst niemand zu tun haben will. Er zum Beispiel hat Kinder noch nie ausstehen können; nicht einmal, als er selbst noch ein Kind war, der einzige, zur Trübsal neigende Sohn eines viel beschäftigten Kaufmannes aus der Provinz und einer weinerlichen Schullehrerin, deren Zärtlichkeiten er mied wie die Pest. Aber so ist es nun mal, würde er achselzuckend sagen, wenn er nicht damit beschäftigt wäre, in der warmen Abendluft mit den Armen zu rudern; Arbeit ist Arbeit, und da die Kinder nun mal aus den Frauen herauskommen und diese sein Metier sind, muss er sich notgedrungen mit ihnen beschäftigen.

Er stürzt, der Professore. Und blitzartig wird ihm bewusst, dass keine Zeit mehr ist, auch wenn der Sturz länger dauert, als er erwartet hätte.

Es bleibt ihm keine Zeit mehr, sich wieder in Form zu bringen, und sei es auch nur, um in dem Handgemenge besser zu bestehen, das ja zu seinem Fall geführt hat, mit lächerlicher Leichtigkeit aus dem Fenster gestürzt. Und wenn man bedenkt, dass er sogar stolz auf seine geschmeidigen, überaus feinfühligen Chirurgenhände war, so gänzlich anders als die rauen Hausfrauenhände vieler seiner Patientinnen, die zu ihm kamen, damit er sie kurierte, mit verhärmten Gesichtern und leeren Taschen; selbst auf sein schlaffes Fleisch und das Doppelkinn war er stolz, das sichere Zeichen für so manch üppiges Abendessen und einen großen Patientinnenstamm, der unter den Kollegen viel Neid erzeugte.

Vielleicht hätte ihn ja so manch trainierterer Muskel, Folge der langen Fußwege, die er früher von zu Hause bis zum Krankenhaus zurückgelegt hat - bevor er sich einen nagelneuen Fiat 521 C, ausgestattet mit Tacho, Uhr und Anzeigen für den Benzin- und Ölstand, angeschafft hat, ein zweifarbiges Schmuckstück in Schwarz und Creme, das sein ganzer Stolz war und in genau diesem Moment zweiundzwanzig Meter unterhalb von ihm geparkt ist und dem Sturzflug seines Besitzers reg- und vermutlich auch regungslos entgegensieht -, vor dem Sturz bewahrt. Dann wäre er jetzt vielleicht auch immer noch ansehnlich und hätte weder ein zerrissenes Hemd noch verrutschte Hosenträger, und die Goldbrille säße nicht krumm und schief auf seinem verzerrten Gesicht.

Allerdings, so würde der Professore denken, wenn die Zeit seines Sturzes nicht beinahe zu Ende wäre, rechnet auch niemand, der gerade in seinem Arbeitszimmer sitzt und die Operationen des kommenden Tages plant, damit, um sein Leben kämpfen zu müssen. Bestenfalls rechnet man mit einem unangemeldeten Besucher, den man kurz angebunden abwimmeln könnte; ganz gewiss jedoch nicht mit einem ebenso schnellen wie heftigen Kampf mit bloßen Händen, der so unerwartet kommt, dass einem nicht einmal mehr die Zeit bleibt, mit einem lauten Schrei um Hilfe zu rufen. Nicht, dass um diese Uhrzeit noch sehr viele Leute unterwegs gewesen wären, doch irgendein Krankenpfleger, ein Wärter oder auch ein Assistenzarzt im Besitz eines wehrhaften, kräftigen Körperbaus hätte ihn ja doch vielleicht gehört und wäre ihm zu Hilfe geeilt, und statt dem Boden mit einem Tempo entgegenzusausen, das er, wäre er nicht im Sturz begriffen, noch hätte errechnen können, könnte er jetzt wegen des tätlichen Angriffs Anzeige erstatten.

Seltsam, wie sich in extremen Situationen die Zeit dehnt, würde der Professore denken, könnte er den Sturz überleben. Und er würde schildern, wie das Gehirn unter den Gedankenfetzen, die durch die Luft fliegen, blitzschnell seine Auswahl trifft und dabei von der wundersamen Flinkheit profitiert, mit der dieses erstklassige Produkt der Evolution dazu in der Lage ist, manche Verbindungen herzustellen und andere auszuschließen. Und er würde schildern, der Professore, dass es ganz und gar nicht so ist, wie immer behauptet wird, dass nämlich im Moment des Todes ein ganzes Leben vor dem inneren Auge des Sterbenden vorüberzieht; so gibt es zum Beispiel von der Frau und dem Sohn keine Spur in seinen flirrenden Gedanken, die sprühen wie ein Feuerwerk, leuchtend hell und funkelnd vor dem dunklen Nachthimmel. Auch nicht von vielen anderen Personen, die, wie in einer verworrenen Choreografie, den Arbeitstag eines bedeutenden Wissenschaftlers und praktizierenden Mediziners von Rang beleben. Eine Tätigkeit, der er mit Sorgfalt nachgeht und die es ihm, nebenbei gesagt, hätte er sie ein bisschen weniger ernst genommen, erlaubt hätte, jetzt bequem in seinem Bett zu liegen, statt durchs Dunkel zu flattern wie eine Fledermaus.

Klar und deutlich steht hingegen vor seinem inneren Auge, während er mit geschlossenen Augen und verzerrtem Gesicht dem Aufprall entgegengeht, das lebhafte und fröhliche Bild von Sisinella.

Sisinella mit ihren schneeweißen Zähnen und ihren roten Lippen, zu diesem hinreißenden Schmollmund verzogen, der ihn verrückt macht. Sisinella, die lachend neben ihm sitzt und mit den Händen ihren Hut festhält, während sie mit offenem Verdeck in seinem schönen Auto dahinsausen, das er im Grunde nur für sie gekauft hat. Sisinella, die ihm das Tor zu einem ganz eigenen und höchstpersönlichen Paradies geöffnet hat, in diesem mit Daunen gepolsterten Bett, das ganze vier Träger ihr in die neue Wohnung auf dem Vomero geliefert haben. Sisinella, die ihm das Leben eines jungen Mannes geschenkt hat, ihm, der doch nie ein junger Mann gewesen war. Sisinella mit den weichen Händen, Sisinella mit den langen Beinen, Sisinella mit der Haut wie Sahne und Erdbeeren. Sisinella.

Er stürzt, der Professore, und im Stürzen denkt er, wie gern er doch ihr Gesicht gesehen hätte, wenn sie das Päckchen auswickelt, das er ihr unters Kopfkissen gelegt hätte, damit sie es wie durch Zufall findet. Und wie sie sich gefreut hätte, aufgeregt wie ein kleines Mädchen, die Wangen noch errötet vom Liebesspiel, das Näschen gekraust vor lauter Begeisterung, und die prachtvolle, junge Brust bebend vor Lust. Und wie reich sie ihn für diese Gabe beschenkt hätte. Schade. Wirklich schade.

Er stürzt, der Professore, doch wie alles auf der Welt hat auch sein Sturz ein Ende. Und dieses wundervolle Machwerk, das außergewöhnlichste Produkt der Evolution, dieses Gehirn, das so viele brillante Gedanken hervorgebracht hat und seinen Besitzer auf den höchsten Gipfel seiner Profession gebracht hat, tritt zu einem guten Teil aus seiner beinernen Hülle, die es mehr als fünfzig Jahre umschlossen hat und jetzt beim Aufprall auf den Boden geknackt wird wie eine...


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Maurizio de Giovanni wurde 1958 in Neapel geboren, wo er auch heute noch lebt. Er hat Literatur studiert, hauptberuflich aber lange Jahre als Banker gearbeitet, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Die Ricciardi-Romane, die auch im Ausland große Erfolge feiern, wurden mehrfach ausgezeichnet.