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E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
336 Seiten
Deutsch
FISCHER E-Bookserschienen am15.05.20151. Auflage
Wenn der Erstürmung der Pariser Bastille am 14. Juli 1789 sogleich so überaus große Bedeutung zuerkannt wurde, dann nicht deswegen, weil die alte Festung militärisch wichtig gewesen wäre, sondern weil sie als Staatsgefängnis längst zum Wahrzeichen absolutistischer Willkür und staatlicher Unrechtherrschaft dämonisiert worden war. Am Beispiel der »Bastille« werden Fragen und Möglichkeiten einer politisch-sozialen Symbolgeschichte der Neuzeit dargestellt. Der mentalitätsgeschichtliche Ansatz dieser Fallstudie ist erwachsen aus der französischen »Nouvelle Histoire« und erprobt zugleich von den Verfassern neu entwickelte Konzepte und serielle Methoden. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Hans-Jürgen Lüsebrink, geboren 1952, studierte in Mainz, Tours und Paris; Dr. phil. in Romanistik (Bayreuth) 1981; Promotion in Geschichtswissenschaft (EHESS Paris) 1984; Habilitation 1987. Zahlreiche Publikationen, u. a. ?Kriminalität und Literatur im Frankreich des 18. Jahrhunderts?, 1983; zus. mit B. Rupp ?Littérature et Révolution Française?, 1988.
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Produkt

KlappentextWenn der Erstürmung der Pariser Bastille am 14. Juli 1789 sogleich so überaus große Bedeutung zuerkannt wurde, dann nicht deswegen, weil die alte Festung militärisch wichtig gewesen wäre, sondern weil sie als Staatsgefängnis längst zum Wahrzeichen absolutistischer Willkür und staatlicher Unrechtherrschaft dämonisiert worden war. Am Beispiel der »Bastille« werden Fragen und Möglichkeiten einer politisch-sozialen Symbolgeschichte der Neuzeit dargestellt. Der mentalitätsgeschichtliche Ansatz dieser Fallstudie ist erwachsen aus der französischen »Nouvelle Histoire« und erprobt zugleich von den Verfassern neu entwickelte Konzepte und serielle Methoden. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Hans-Jürgen Lüsebrink, geboren 1952, studierte in Mainz, Tours und Paris; Dr. phil. in Romanistik (Bayreuth) 1981; Promotion in Geschichtswissenschaft (EHESS Paris) 1984; Habilitation 1987. Zahlreiche Publikationen, u. a. ?Kriminalität und Literatur im Frankreich des 18. Jahrhunderts?, 1983; zus. mit B. Rupp ?Littérature et Révolution Française?, 1988.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783105601983
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2015
Erscheinungsdatum15.05.2015
Auflage1. Auflage
Seiten336 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse12983 Kbytes
Artikel-Nr.1706340
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Einleitung

Kürzlich erzählte eine junge deutsche Studentin von ihrer ersten Reise nach Paris. Dort sei sie bei der ersten Gelegenheit an der Station »Bastille« aus der Metro ausgestiegen, um »die Bastille« zu besichtigen, von der im Geschichtsunterricht so viel die Rede gewesen sei und an die sie zuerst denke, wenn man von der Französischen Revolution spreche. Zu ihrer Verblüffung habe sie aber statt der erwarteten Ruine der am 14. Juli 1789 vom Pariser Volk eroberten Festung nur einen verkehrsreichen Platz und in seiner Mitte die Juli-Säule mit dem »Genius der Freiheit« gesehen und sich ihrer Unwissenheit geschämt.

Diese Anekdote ist nicht so banal und belanglos, wie sie zunächst klingen mag. Denn sie scheint symptomatisch für die noch immer anhaltende Präsenz eines Phänomens, das zwar mit der sofortigen Schleifung der Pariser Bastille (1789-90) materiell längst verschwunden ist, aber in den Köpfen nach wie vor existiert. Das gilt natürlich in erster Linie für Frankreich. Die »Bastille« wird hier nicht nur alljährlich zum Nationalfeiertag beschworen, ihr gelten auch wie selbstverständlich der Eröffnungsband einer neuen geschichtlichen Jugendbuchreihe[1], ein Wettstreit moderner Maler und Graphiker[2] oder das Projekt einer monumentalen Glasbildwand für die Zweihundertjahrfeiern der Französischen Revolution[3]. Befragt, was für sie das republikanische Ideal symbolisiere, nennen fast alle Franzosen Erbstücke der Französischen Revolution, nicht zuletzt die Feiern des 14. Juli (19 %) und den Bastille-Platz (9 %)[4]. Und selbst in einem philosophischen Werk wie Jean-Paul Sartres Kritik der dialektischen Vernunft (1960) ist die »Bastille« gegenwärtig; dient der 14. Juli 1789 hier doch als historisches Musterbeispiel für die theoretischen Überlegungen, wie aus dem vereinzelten Handeln der Individuen unter dem Druck gemeinschaftlicher Bedrohung gesellschaftliches Handeln entsteht und Freiheit möglich wird[5].

Besonders die französische Innenpolitik nutzt diese Symboltradition und trägt damit wiederum zu deren Festigung bei. Wie z.B. Staatspräsident Mitterrand seinen ersten Wahlsieg am 10. Mai 1981 mit einer Kundgebung auf dem Bastille-Platz feierte[6], so zog der kommunistische Präsidentschaftskandidat André Lajoinie am 24. März 1988 mit 80000 vor allem jugendlichen Anhängern zur Pariser Freiheits-Säule. Die durch eine deutsch-französische Friedensbrigade verstärkten Demonstranten trugen Tafeln und Anstecker mit einem Slogan, der sowohl auf das Ziel des Zuges wie auf die Präsidentschaftswahlen und das politische Programm der KPF anspielte: »Ich nehme die Bastille mit Lajoinie!« Teilweise mit phrygischen Mützen bedeckt, skandierten sie: »Schluß mit den Ungleichheiten, die Bastillen müssen fallen.« Und in seiner Ansprache auf dem Bastille-Platz berief sich Lajoinie auf »diesen denkwürdigen Ort« der Revolution und des französischen Volkes, um zum Kampf aufzurufen gegen den Verrat der Ideale von 1789, gegen Arbeitslose und Neureiche:


»Es gilt heute, eine neue französische Revolution zu machen, eine neue Republik zu gründen, neue Bastillen zu stürmen. Sie haben hohe Mauern und gehässige Verteidiger. [...] Ja, gemeinsam können wir Bastillen zu Fall bringen, Rechte für die Jugend gewinnen, dem Volk von Frankreich neue Perspektiven eröffnen. Ich zähle auf euch. Vorwärts!«


Und ein zum Schluß der Kundgebung gezündeter Donnerschlag sollte suggerieren, daß dieser rhetorische Bastillesturm in konkrete politische Eroberungen übergehe[7].

Doch auch über Frankreich hinaus ist die »Bastille« noch heute international ein politisches Bekenntnissymbol, nicht zuletzt in Deutschland. Als z.B. am 24. November 1950 europabegeisterte junge Deutsche für Völkerverständigung demonstrierten und mit ihrer Wagenkolonne die Schlagbäume an der Grenze durchbrachen , führten sie das Spruchband mit: »STÜRMT die BASTILLE NATIONALSTAAT« (Abbildung 1).

Für Ernst Blochs Philosophie, die so große Bedeutung für die 68er-Generation gewann, bedeuteten der Bastillesturm und der folgende »Tanz auf den Trümmern der Bastille« einen noch immer unverjährten, hoffnungsstiftenden »Archetyp(us) der Freiheitssituation«, ein »Emblem der Zukunft«, einen »Archetypus höchsten utopischen Ranges«[8]. Und noch vor kurzem brachte Robert Jungk die Ängste und die unbedingte Ablehnung der Atomkraftgegner wirkungsvoll auf den Begriff, indem er das neue Kraftwerk Cattenom eine »neue Bastille« nannte - ein Monstrum, dessen Kühlturmsilhouette am Moselufer tatsächlich an die ehemalige Pariser Zwingburg erinnert[9], dessen konkrete Erstürmung aber absurd wäre.



Abb. 1: Jugendliche aus der Bundesrepublik demonstrieren am 24.11.1950 am deutsch-französischen Grenzübergang Hirschthal bei Pirmasens für ein vereintes Europa ohne Grenzen und Zollschranken. (Bilderdienst Süddeutscher Verlag)



Fragt man nun, wie eine solche Symbolik, die mit der tatsächlichen Gefängnis-Praxis der historischen Pariser Bastille im 18. Jh. fast nichts mehr zu tun hat, überhaupt entstanden ist, sich verbreitet hat und lebendig bleiben konnte, so findet man in der Überfülle des einschlägigen Schrifttums bisher keine befriedigende Antwort. In Frankreich wie auch sonst beschränkt es sich weitgehend darauf, entweder eine altbekannte, mit Mythen durchsetzte Ereignisgeschichte der Pariser Bastille mehr oder weniger kritisch zu wiederholen[10] oder die Geschichte des alten Staatsgefängnisses und seiner Eroberung zu entmystifizieren[11]. Offenbar sind in Frankreich zentrale Symbole der nationalen Geschichte, zumal der Französischen Revolution, so selbstverständlich geworden, daß ihre eigentliche historische Problematik kaum wahrgenommen wird; wie überhaupt die politische Symbolik der neueren Geschichte noch viel weniger erforscht ist als etwa die Herrschaftszeichen des Mittelalters[12]. Gerade bei jener Selbstverständlichkeit - dem untrüglichen Anzeichen für gesellschaftliche Geltung - setzt die folgende, mentalitätsgeschichtliche Untersuchung an. Ausgehend von dem Grundsatz, daß kollektive Wahrnehmungen, Einstellungen und Sichtweisen - mögen sie falsch oder richtig sein - gesellschaftlich mindestens ebenso wirklich und handlungsleitend sind wie meßbare materielle Tatsachen[13], haben wir uns in erster Linie vorgenommen, nicht die Geschichte einer Institution nachzuerzählen und zu entmystifizieren, sondern zu verfolgen und zu erklären, wie sie zu einem so allgemeinen Symbol geworden ist, und worin die sozialgeschichtlichen Funktionen dieses Symbols, hier also der »Bastille«, bestehen. Den Begriff Symbol verwenden wir dabei im Sinne des vor allem von Jürgen Link entwickelten Konzepts der modernen »Kollektivsymbolik«[14], jenes kulturspezifischen Systems stereotyper, übersprachlicher, nicht willkürlicher Zeichen, das die Diskurse und Praktiken einer Gesellschaft, die praktischen und theoretischen Bereiche einer Kultur integriert. Wie die obigen Beispiele andeuten und die weitere Untersuchung bestätigen wird, treffen auf die »Bastille« alle wesentlichen Kennzeichen eines Symbols zu:

Semantische Sekundarität. Zunächst auf eine bestimmte Festung in Paris festgelegt, wurde das Wort »Bastille« dadurch vom einfachen Namen zum Symbol, daß es sich von der unmittelbaren Bezeichnung eines Bauwerkes erweiterte zur Metapher für Gefängnis , ja für das politische Regime, das solche Gefängnisse unterhielt.

Ikonität. Der Symbol-Charakter der »Bastille« besteht weiter darin, daß sie nicht nur ein Schriftzeichen, ein Begriff ist, sondern zugleich auch eine konkrete Festung, typisch in Gestalt und Umriß, auch in emblematischer Vereinfachung noch eindeutig erkennbar. Indem die »Bastille« so ein politisches Regime gleichsam materialisierte, entsprach sie dem besonders starken Bedürfnis der vorindustriellen Gesellschaft nach Sinnfälligkeit und Verbildlichung politisch-sozialer Grundbegriffe. Als allgemein bekanntes Sinnbild gehörte sie zur gesellschaftlichen Bildwelt (»imaginaire social«[15]).

Motiviertheit. Die symbolische Bedeutung der »Bastille« beruht nicht auf letztlich willkürlicher sprachlicher Konvention, sondern - aus der Sicht der jeweiligen Sprecher - auf Gemeinsamkeiten zwischen der historischen Funktion der Bastille und den Verhältnissen, auf welche dieser Name übertragen angewendet wird.

Ambiguität. Das Bastille-Symbol ist mehrdeutig. Es steht nicht nur für Gefängnisse, Mißstände und despotische Unrechtherrschaft, sondern seit dem 14. Juli 1789 auch für Freiheit und revolutionären Kampf, bezeichnet also Gegensätzliches.

Assoziative Ausweitung. Über seine polare Grundbedeutung Despotismus/Freiheit hinaus evoziert das Bastille-Symbol zugleich eine ganze Reihe weiterer Vorstellungen, die jene Grundbedeutung zu einer Art semantischem Bildfeld ausdifferenzieren: einerseits Folterkammern, Ketten, Schleifkugeln...
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