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Der Sündenfall

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
304 Seiten
Deutsch
FISCHER E-Bookserschienen am15.08.20161. Auflage
Die Suche nach dem Geheimnis der verlorenen Universalsprache führt den jungen irischen Mönch Sam Toland in Klöster und Bibliotheken Süddeutschlands und der Schweiz. Auf diesen Reisen lernt er auch die Freundin seines Zwillingsbruders Jack kennen, die schöne Schweizer Fotografin Raphaëlle. Wegen ihr kommt es zu einer tödlichen Rivalität zwischen den beiden Brüdern. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Richard Kearney, Professor für Philosophie, wurde 1954 in Irland geboren.
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Produkt

KlappentextDie Suche nach dem Geheimnis der verlorenen Universalsprache führt den jungen irischen Mönch Sam Toland in Klöster und Bibliotheken Süddeutschlands und der Schweiz. Auf diesen Reisen lernt er auch die Freundin seines Zwillingsbruders Jack kennen, die schöne Schweizer Fotografin Raphaëlle. Wegen ihr kommt es zu einer tödlichen Rivalität zwischen den beiden Brüdern. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Richard Kearney, Professor für Philosophie, wurde 1954 in Irland geboren.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783105612606
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2016
Erscheinungsdatum15.08.2016
Auflage1. Auflage
Seiten304 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.2014264
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


Zweiter Eintrag Cork, November 1959


Ihr Duft verbreitete sich im Schlafzimmer. Er war wunderbar. Als sie sich herunterbeugte, um mich zu küssen, lag ihr Parfüm in der Luft und umgab mich wie ein Glorienschein. Eine Sekunde lang gehörte sie nur mir, während sie sich über mich beugte, um mich zu küssen.

Der Geruch ihres Kleids war eine Mischung aus all den winzigen bunten kleinen Flaschen auf ihrem Frisiertisch. Ich wußte nicht, wie sie hießen. Aber ich wußte, ihre Haare und ihr Hals dufteten wie ihr Lieblingsparfüm. Sie sei nur kurz heraufgekommen, sagte sie, um ihre Kleinen ins Bett zu bringen. Ich war der eine ihrer Kleinen. Jack war der andere.

Sie ging wieder, aber ihr Duft blieb zurück. Wenn ich ihn einatmete, konnte ich sie noch ein wenig bei mir behalten, nachdem sich die Schlafzimmertür hinter ihr geschlossen hatte, das Licht auf dem Treppenabsatz immer schmaler wurde und verschwand.

Angela hieß sie. Angela Toland. Sie war meine Mutter.

Sie war auch Jacks Mutter. Jack war mein Bruder. Wir waren am selben Tag zur Welt gekommen. Aber ich hatte ein Loch im Herzen und verbrachte einen großen Teil meines ersten Jahres im Krankenhaus. Deshalb war mir Jack immer etwas voraus. Man nannte uns die Toland-Zwillinge und sagte, wir seien unzertrennlich. Das gehörte mit zu dem Problem. Für zwei von uns gab es nur eine wie sie. Und ich wollte sie ganz für mich allein haben.

Jack war eigentlich nicht sein richtiger Name. Er hieß John. John Toland. Aber wir nannten ihn kurz Jack - obwohl Jack nicht kürzer ist als John. Im Grunde wußte ich nie, warum wir ihn Jack nannten. Aber ich glaube, es hatte etwas damit zu tun, daß alle seine Lieblingsreime um Jungen kreisten, die man Jack nannte - Mein Gott, Jack, du starrst vor Dreck - Jack und Jim machen Klimbim - Frère Jacques oder die Geschichte unseres Vater von Jacky Dory.

Unser Vater, so wie es in dem Gebet heißt, aber er war nicht im Himmel. Er war auf der Erde. Er war nicht viel zu Hause. Die meiste Zeit operierte er Augen und Ohren. Oder er befand sich in seiner Praxis in der Sydney Parade, wo die Leute Schlange standen, um ihn zu sprechen. Unser Vater war Augenarzt. Aber ich stellte ihn mir gern als Ritter auf einem gefährlichen Kreuzzug vor, der fern von zu Hause war und nach Wunden, Nonnen und nach Antiseptika roch. So gefiel er mir am besten, der König in der Ferne, König Richard Löwenherz. Mutter, Jungfer Marion. Jack, der Sheriff von Nottingham. Ich, Robin Hood.

Manchmal ließ Mutter mich und Jack beim Abendgebet vor unseren Betten knien und Gott darum bitten, Vaters Nadel zu führen, wenn er versuchte, hoffnungslosen Fällen das Augenlicht zu retten - der kleine Junge aus Mayfield, der beim Spielen mit der Schleuder ein Auge verlor, die Dame aus Douglas, die die Treppe hinunterfiel und deren Augapfel platzte, der Bote der Firma Madden´s, der blind wurde, als sein Fahrrad gegen einen Bus prallte, der Verkehrspolizist, der an der South Mall von der protestantischen Ärztin überfahren wurde. Ja, ich liebte unseren Vater, wenn wir für alle die Leidenden beteten, die dafür sorgten, daß er abends nicht nach Hause kam, weil er operierte. Ich konnte die gerissenen Adern, die blutenden Gefäße, die gebrochenen Gesichtsknochen sehen - wie die Bilder in den dicken ledergebundenen medizinischen Büchern, die wir nicht anschauen durften. Am meisten faszinierten mich die Darstellungen der wolkigen Augenkrankheit, die zu Blindheit führt - Glaukom. Ich betete, daß unser Vater jeden seiner Patienten, einen nach dem anderen, heilte und daß es Ewigkeiten dauern würde. Stunden um Stunden. Ich liebte ihn am meisten, wenn er nicht da war.

Jack war immer da. Das schlimmste von allem, er lernte vor mir ganze Worte zu schreiben. An einem Nachmittag verbrachte er Stunden damit, Buchstaben miteinander zu verbinden und reihenweise Wörter daraus zu machen. Seine Zunge bewegte sich bei jeder Linie um die Lippen. Seine Hand glitt sehr langsam über die Seite und wieder zurück. Er hörte einfach nicht auf damit, saß am Schreibtisch im Wohnzimmer und schrieb Sätze auf Vaters besonderem Notizpapier, dem mit den blauen Buchstaben am oberen Rand: Dr. Joseph Toland, Sydney Parade, Cork, Telephon: 6 62 21.

Doch heute schrieb Jack nicht an Vater. Er sagte, es sei geheim. Aber ich wußte Bescheid.

Jack konnte Buchstaben schreiben und ich nicht. Er konnte auf dem Papier Wörter erscheinen lassen, indem er Linien zog und sie auf besondere Weise miteinander verband. Und diese Buchstaben konnten selbst dann Nachrichten übermitteln, wenn er nicht anwesend war. Jack sagte mir, er könne sie in einen Briefumschlag stecken und sie jemandem zum Lesen geben. Dieser Jemand würde wissen, was die Buchstaben sagten. Jack mußte nicht anwesend sein, um seine Wörter sprechen zu lassen. Sie konnten zu jemandem sprechen, auch wenn Jack tot war.

Jack sagte mir nicht, wer dieser Jemand war, aber ich wußte es. Ich mußte ständig daran denken, daß er die geheime Nachricht unter ihr Kissen legte, wegging, und daß sie in ihr Schlafzimmer kam, seine Worte dort fand und ganz allein las. Dann würde er sie für sich allein haben.

Ich mußte mir etwas anderes ausdenken. Als Jack in jener Nacht schlief, schlich ich mich vorsichtig aus dem Bett und auf seine Seite des Zimmers, nahm das Malbuch und die Malstifte, die unter seinem Bett lagen, an mich und ging hinaus auf den Treppenabsatz. Ich setzte mich auf den roten Teppich und schlug in Jacks Malbuch die Seite mit dem schwarzen und weißen Pferd auf. Es würde nicht lange dauern.

Ich entfernte das Bild vorsichtig, ohne es zu zerreißen, aus dem Buch und legte ein sauberes Blatt Papier darüber. Dann pauste ich den Pferdekopf in allen Einzelheiten durch, bis er so deutlich zu sehen war wie das Gesicht, das wie durch Zauberei auf einer Pfundnote auftauchte, die man ans Licht hielt, oder wie eines der Bilder, die Mutter im Sommer an ihrem Schlafzimmerfenster malte. Aquarelle nannte sie die Bilder.

Aquarelle.

Ich wußte nicht, was das bedeutete, aber es klang wie etwas aus einem Gebet, so farbig, aber ohne Worte.

Mit Farbstiften malte ich das Pferd aus. Das Unsichtbare kam mir aus dem Papier entgegen, als sei es wirklich dort. Es war das irische Pferd, das den Cheltenham-Pokal gewonnen hatte. Roddy Owen!

Ich war bereit. Die roten Treppenstufen, die hinunter ins Wohnzimmer führten, waren noch nie so rot gewesen. Ich ging zu der weißen Tür, hielt das Bild in der einen Hand und öffnete sie. In dem Zimmer war es sehr laut.

Zuerst sah ich niemanden, nur viele Beine. Aber Onkel Dick entdeckte mich. Ich stieß gegen seine Knie. Er unterhielt sich mit Leuten, die ich nicht kannte.

»Wie geht es unserem kleinen Sam?« fragte er und hob mich laut lachend hoch.

»Gut«, erwiderte ich und zeigte ihm mein Bild.

»Hast du das gemacht?«

»Ja. Ich habe es selbst gemacht.«

Bevor Onkel Dick mich wieder absetzte, sah ich über die vielen Köpfe hinweg Mutter am anderen Ende des Raums. Sie stand inmitten von Leuten neben dem Bücherschrank.

»Es ist ein Bild von Roddy Owen«, rief ich ihr zu. »So sah er aus, als er den Gold Cup in England gewonnen hat. Das Bild ist zu deinem Geburtstag.«

»Es gibt also noch einen Maler in der Familie«, sagte Tante Madeleine, als sie Mutter das Bild reichte. »Das hat er von deiner Seite der Familie, Angela.«

»Ich habe auf Roddy Owen gesetzt und zehn Guineas gewonnen«, sagte Vater. Er war guter Laune.

»Es ist ein schönes Bild, Sam.« Endlich sah sie mich an. Lachten ihre Augen? Grau mit grün oder grün mit grau? »Ich liebe Pferde ... und Bilder. Vor allem farbige«, sagte sie und kam auf mich zu. »Was für ein wunderschönes Geburtstagsgeschenk. Danke, mein Schatz.«

Ich wollte ihr über das trennende Meer der Gesichter hinweg so viele Fragen stellen. Was bedeutete Aquarelle eigentlich? Ist es so gut wie Schreiben? Ist es besser? Aber mein Bild ... Mir wurde schwarz vor den Augen.

»Wen haben wir denn hier!« sagte Vater, aber er meinte damit nicht mich. »Vermutlich ist das noch ein kleiner Künstler!« Alle Augen, die ich ansah, blickten jetzt an mir vorbei zur Tür. Dort stand jemand.

Jack.

»Das geht nicht!« erklärte meine Mutter. »Es ist kein Kinderfest. Das ist für Erwachsene. Ihr zwei solltet längst schlafen.«

»Ich habe geschlafen«, erwiderte Jack. »Aber Sam hat mich geweckt. Er hat mein Malbuch unter meinem Bett gestohlen.«

»Ich bin sicher, er hat es nicht gestohlen«, erklärte meine Mutter. »Er hat es sich vermutlich nur geliehen.«

»Warum hat er dann diese Seite herausgerissen?« Jack hielt das Pferdebild in der Hand, das ich aus seinem Buch gepaust hatte.

»Sams Bild ist nicht Roddy Owen«, sagte Jack, »sondern das hier. Sam hat es nur nachgemalt.«

»Kinder!« sagte jemand, und andere lachten.

»Es ist trotzdem ein schönes Bild«, sagte Mutter, »auch wenn es eine Kopie ist. Darauf kommt es nicht an. So, ihr beiden, sagt jetzt gute Nacht und geht sofort ins Bett. Wir wollen heute abend von euch nichts mehr hören oder sehen. Seid zwei brave Jungs.«

Ich ging hinter Jack die Treppe hinauf. Der Teppich hatte ein anderes Rot, es war dunkler und wie Nasenbluten. Mir fielen keine Worte ein. Ich dachte nur an den Reim: Jack fiel in den Graben, dort holen ihn die Raben. Als wiederhole die Worte jemand in meinem Kopf. Jack fiel in den Graben, dort holen ihn die Raben. Nur diese Zeile, nicht was davor und nicht was danach kam. Jack fiel in den Graben, dort holen ihn...
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Autor

Richard Kearney, Professor für Philosophie, wurde 1954 in Irland geboren.