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Der fremde Zwilling

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
288 Seiten
Deutsch
FISCHER E-Bookserschienen am15.08.20161. Auflage
Ein rätselhafter Brief bringt Jack Toland in Montreal aus der Ruhe. Er soll sofort nach Genf kommen und sich um seine zwölfjährige Tochter kümmern. Seit fünf Jahren hat er Emilie nicht mehr gesehen, seit der Trennung von seiner Frau Raphaëlle. Und Raphaëlle teilt ihm mit, dass sie ?weg muss?. Doch sie sagt nicht wohin, wie lange, weshalb. Richard Kearneys Roman über ein faszinierendes Rätsel ist Spannungsliteratur im besten Sinn. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Richard Kearney, Professor für Philosophie, wurde 1954 in Irland geboren.
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Produkt

KlappentextEin rätselhafter Brief bringt Jack Toland in Montreal aus der Ruhe. Er soll sofort nach Genf kommen und sich um seine zwölfjährige Tochter kümmern. Seit fünf Jahren hat er Emilie nicht mehr gesehen, seit der Trennung von seiner Frau Raphaëlle. Und Raphaëlle teilt ihm mit, dass sie ?weg muss?. Doch sie sagt nicht wohin, wie lange, weshalb. Richard Kearneys Roman über ein faszinierendes Rätsel ist Spannungsliteratur im besten Sinn. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Richard Kearney, Professor für Philosophie, wurde 1954 in Irland geboren.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783105612446
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2016
Erscheinungsdatum15.08.2016
Auflage1. Auflage
Seiten288 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse789 Kbytes
Artikel-Nr.2100811
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Genf


»Zeige mir deine Wege

und lehre mich deine Pfade.«

 

Psalm 25


1

Wattewolken hingen am Himmel wie gefrorener Rauch. Auf halbem Weg über den Atlantik beruhigten sich Jacks Nerven. Er blickte aus dem Fenster. Dank des Aspirins, das ihm die Stewardeß zusammen mit dem Essen gebracht hatte, schmerzte sein Kopf jetzt weniger. Er war erleichtert, vom Flughafen Mirabelle weg zu sein. Das lange Warten die Nacht hindurch war vorbei. Er wußte nicht genau, was er tun würde, wenn er am Ziel ankam. Er war unterwegs, nur darauf kam es an. Materie in Bewegung. Er blickte wieder durch das Fenster auf die Strahlen der Sonne, die am Horizont einen blassen Streifen Himmel aus dem Dunkel schnitten. Ihm fiel eine Zeile des Propheten Maleachi ein: »Die Sonne der Gerechtigkeit wird aufgehen, und unter ihren Flügeln wird Heil sein.« Eine Lieblingszeile von Sam während seiner Zeit in der Columbanus-Abtei.

Jack hatte keine Lust, weiter zu essen. Sole à la Normande. Es roch gut, besonders die Weißweinsauce, aber er war nicht hungrig. Er schob das Tablett zurück, nahm die Kopfhörer aus der Tasche der Rückenlehne vor ihm und suchte den Nachrichtenkanal. Unter anderem berichtete man von einer Mutter, die in einer Londoner Klinik siamesische Zwillinge bekommen hatte. Sie waren mit einem Kaiserschnitt zur Welt gebracht worden und vom Brustbein bis zum Nabel zusammengewachsen. Jedes der Babys hatte ein Herz und eine Leber, aber, so erklärte der Sprecher, die meisten anderen Organe seien zusammengewachsen. Es hieß, der Zustand der beiden Babys und der Mutter sei stabil.

Jack nahm die Kopfhörer ab, lehnte sich zurück und machte es sich auf dem Sitz bequem. Für einen Mann von einunddreißig hatte er zu schlaffe Mundwinkel und zu tiefe Falten um die Augen. Sein Kopf lag an der Lehne, und er konzentrierte sich auf das, was in ihm vorging. Er pfiff durch die Zähne eine nichtssagende Melodie. Er sollte besser aufhören zu trinken, dachte er. Jedenfalls für eine Weile, bis er Emilie wieder kannte und Klarheit über die Sache mit Raphaëlle hatte. Ein paar Tage ohne Alkohol würden ihm guttun, seiner Leber ebenfalls.

Er drückte die Ruftaste und wartete auf die Stewardeß. Einen doppelten Whisky mit Eis. Einen Drink für unterwegs - oder für den Himmel oder wofür auch immer. Um bei Laune zu bleiben, die Nerven zu behalten. Der letzte. Um sich Mut anzutrinken. Ein Mann kann nicht ohne eine Flasche ins Blaue hinein leben. Das hatte er irgendwo gelesen.

Jack setzte die Kopfhörer wieder auf und schloß die Augen. Auf dem Rock-Kanal brüllte der Sänger »Love, Rescue Me«, deshalb schaltete er um auf den Klassik-Kanal. Gluck: »J´ai perdu mon Eurydice.« Die Arie des Orpheus über den Verlust seiner Geliebten. Allerdings verstand Jack nicht, weshalb sie von einer Frau gesungen wurde. Er spürte eine Berührung an der Schulter. Die Stewardeß hatte seinen Whisky gebracht. Er gab ihr das Tablett mit dem Essen und nahm das Glas entgegen.

Mit dem Whiskyglas in der Hand blickte er wieder aus dem Fenster und kam sich vor wie ein Haruspex, ein antiker Vogelbeschauer und Zeichendeuter, der den Horizont nach künftigen Ereignissen absucht. Aber er fand keine Ereignisse in der Zukunft, sondern nur in der Vergangenheit. Die Vergangenheit, die nie verging. Sams Leiche, die in Poul Gorm von Seetang bedeckt aus dem Meer geholt worden war, während die Wolken den Himmel peitschten und die Wellen gegen die Felsen schlugen. Der glänzende Sarg, der in der Columbanus-Abtei durch den Mittelgang getragen wurde. Mönche, die Verse aus der Liturgie des Heiligen Johannes Chrysostomus intonierten. Abt Anselm, der die Hand zu einem letzten Segen hob. »Gesegnet ist die Seele, die von der Liebe verwundet wurde, denn ihre Wunden werden immer geheilt.« Und das andere Gebet an jenem Tag, das Jack nie vergessen konnte: »Er, den du liebst und verlierst, ist nicht länger, wo er war. Er ist jetzt, wo immer du bist.«

Auch andere Erinnerungen stellten sich wieder ein. Jacks Zusammenbruch nach dem Begräbnis; nachdem er in Sams Tagebuch entdeckt hatte, daß sich Sam und Raphaëlle in der Nacht, bevor Sam ertrank, heimlich getroffen hatten. Die schwarze Galle. Dann der Unfall. Der Wagen von Abt Anselm fuhr rückwärts auf ihn zu. Anselm merkte nicht, daß Jack, der zum Flughafen Shannon zurückwollte, mit den Koffern in der Hand vor der Mauer stand. Er schrie unter den Rädern, preßte die Hand auf die Verletzung in der Seite, während Amseln hilflos auf ihn hinunterstarrte. Danach die endlosen Monate flach auf dem Rücken im Krankenhaus von Limerick - das Hüftgelenk gebrochen, das rechte Bein gelähmt. Bäder und Physiotherapie, Stangen und Flaschenzüge, Gewichte und Metallplatten und noch anderes, bis die Gliedmaßen im Vergleich zu seinem Körper zwergenhaft erschienen, vor allem das Bein mit der Narbe an der Vorderseite. Anselm fuhr weg, nach Afrika. Und die vielen Briefe an Raphaëlle in Genf, in denen Jack erklärte, weshalb er nicht kommen konnte, und eines Tages ihre Antwort, sie könne ebenfalls nicht reisen - sie sei schwanger, es sei eine schwierige Schwangerschaft, und ein Flug vor der Geburt sei ihr nicht erlaubt. Dann empfahlen Jacks Ärzte in Limerick eine zweite Operation. Sie wollten Aluminiumplatten in seine gebrochene Hüfte einsetzen, um dem Bein wieder etwas Beweglichkeit zu verleihen. Dann endlich drei Monate und sechs Tage nach dem Unfall der Abflug von Dublin, der Aufstieg in den wolkenlosen Himmel. Er kam sich vor wie ein Vogel, der aus seinem Käfig befreit war, zwar ein Vogel mit gestutzten Flügeln und beringt, aber frei; er konnte hinunter auf die Irische See blicken, die die Farbe von Jade hatte und vom Wind aufgerauht wurde. Die Rückkehr zu Raphaëlle in Genf. Dann die Hochzeit und die wenigen glücklichen Monate vor den verzweifelten Exzessen mit Kokain und Alkohol, die bei Emilies Geburt begannen und mit Unterbrechungen beinahe fünf Jahre andauerten - obwohl es dazwischen auch schöne Zeiten gab, wenn die Dinge eine Weile wieder in Ordnung waren und er Raphaëlle versprach, mit den Drogen aufzuhören, eine feste Stelle anzunehmen und zu unterrichten, und es so aussah, als könnten sie es schließlich doch schaffen, bis an jenem schrecklichen letzten Abend alles zerbrach. An jenem Abend, an dem er eine Überdosis genommen hatte, während er auf Emilie aufpaßte, und sie glaubte, er sei tot. An jenem Abend, als Raphaëlle nach Hause kam und er bewußtlos auf dem Boden lag, Emilie zitternd neben ihm kniete und mit ihrer Hand versuchte, seine Hand ins Leben zurückzudrücken. Sie war unfähig zu sprechen, unfähig, Raphaëlle zu antworten, die sie rief, die mit ihr sprach, unfähig, ihre Mutter zu erkennen. Es war der Abend, als der Stift aus der Achse ihrer Welt herausgezogen wurde und sie feststellten, daß sie im Nichts kreisten.

Als Jack jetzt nach Genf zurückkehrte, kam das alles zurück. Oder fast alles. Etwas an Raphaëlle fehlte noch. Es war verschwommen, verschlossen, dunkel. Er sah die Umrisse ihres Haars und ihres Körpers, die Konturen ihres Kopfs, aber noch nichts von ihren Zügen. Raphaëlles volles Gesicht, ihre Augen, ihre Nase, ihr Mund, ihre Stimme, ihr Geruch, wie sie sich anfühlte - das alles entzog sich ihm noch.

Er drückte die Taste über seinem Kopf und bestellte noch einen doppelten Jameson. Halte dich an das, was sichtbar ist, sagte er sich. Sieh hinaus auf die festen, metallischen, glatten und weißen Flügel des Flugzeugs, das dröhnend in gleichbleibender Höhe über die abgrundtiefe Luft fliegt. Sieh hinaus.


2

Jack hatte mehrere Stunden geschlafen und wachte zitternd auf. Er hatte geträumt, er fliege mit Raphaëlle und Emilie zurück nach Europa. Das Flugzeug war dicht vor den Klippen von Donegal ins Meer gestürzt. Es war ihm gelungen, sich zu retten, und er saß auf den Felsen und wartete darauf, daß Raphaëlle und Emilie aus dem untergegangenen Flugzeugrumpf zur Oberfläche aufsteigen würden. Schließlich tauchte Raphaëlle in einem tropfenden schwarzen Kleid aus den Wellen auf. Jack nahm sie in die Arme und fragte, ob Emilie überlebt habe. Nein, sagte Raphaëlle weinend, sie habe nicht überlebt. Sie habe Fisch gegessen, als das Flugzeug abgestürzt sei. Raphaëlle hatte mehrmals versucht, sie aus dem sinkenden Flugzeug zu retten, doch Emilie hatte darauf bestanden, ihren Fisch zu Ende zu essen.

Ihren Fisch zu Ende essen? Was bedeutete das?


3

Als Jack das Flugzeug verließ und auf den feuchten Asphalt des Genfer Flughafens trat, spürte er in seinem gelähmten Bein eine brennende Hitze. Er wußte, es war ein Phantomschmerz, noch ein Trick seines Nervensystems, den der Siebenstundenflug ausgelöst hatte. In Wirklichkeit empfand er nichts.

Es regnete in Strömen. Er hielt mit einer Hand die Reisetasche hoch, um seinen Kopf trocken zu halten, und folgte mit unregelmäßigen Schritten den anderen Fluggästen in die Ankunftshalle. Er ging mit seinem geschienten Bein durch den röhrenartigen Gang und schwankte dabei an seinem Stock zur Seite und zurück. Das Gewicht von Fleisch und Knochen behinderte seine Bewegungen. So wurden daraus schnelle, ruckartige seitliche Schritte, wie die von Kapitän Ahab bei seinem Gang über das geteerte Deck. Materie in abgerissener Bewegung. Bei jedem mühsamen Schritt ins Flughafengebäude stieß er heftig den Atem aus.

Vor einem der Läden im Flughafen blieb er stehen, um Blumen für Belle-Mère zu kaufen. Er konnte sich nicht zwischen roten Gladiolen und weißen Chrysanthemen entscheiden, und deshalb kaufte er beide. Mit einem Taxi fuhr er direkt zu der Wohnung in der Rue Richmont. Bei der Fahrt über den Pont du Mont-Blanc sah...

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Autor

Richard Kearney, Professor für Philosophie, wurde 1954 in Irland geboren.