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Die Datei

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
147 Seiten
Deutsch
Kiepenheuer & Witsch GmbHerschienen am19.10.20161. Auflage
Zwischen real und digital: Wo bleibt da die Liebe? Was passiert, wenn die Grenzen zwischen Realität und Phantasie verschwimmen? Wenn das Lesen im Netz das tatsächliche dominiert? Mit seinem unverwechselbarem Sinn für Humor und seinem scharfen Blick fürs Detail geht Arnon Grünberg in seiner Novelle genau diesen Fragen auf den Grund.Lillian, Anfang zwanzig ist ein weiblicher Nerd. Sie wohnt noch bei ihren Eltern, ist übergewichtig und alltagsuntauglich. Ihr wahres Leben findet im Netz statt. Dort sind auch ihre Freunde, der wichtigste ist Banri Watanuki. Das Chatten mit ihm hilft Lillian, auch in der Außenwelt besser zurechtzukommen. Sie lebt ein fast normales Leben, bis sie eines Tages glaubt, in ihrem Kollegen Seb ihren Cyber-Freund Banri Watanuki wiederzuerkennen ...Ein beeindruckender Text über digitale und analoge Welten - und über die Liebe, die sich zwischen allen Einsen und Nullen immer noch ihren Weg bahnt. 'Die Datei' ist die Novelle, die den Kern eines Experiments zur Kreativitätsforschung bildet. Neurowissenschaftler der Universität Amsterdam haben die Hirnströme Arnon Grünbergs beim Verfassen des Texts aufgezeichnet. Auf der Buchmesse 2016 konnten Besucher des 'Grünberg Labs' in der Agora ihre Hirnaktivitäten während der Lektüre vermessen lassen.

Arnon Grünberg, geboren 1971 in Amsterdam, wohnt in New York, Amsterdam und Berlin. Seine Bücher wurden mit allen großen niederländischen Literaturpreisen ausgezeichnet, 2002 erhielt er den NRW-Literaturpreis für sein Gesamtwerk. Neben seinen literarischen Arbeiten schreibt Arnon Grünberg für internationale Zeitungen und Magazine. 2016 hielt er die Eröffnungsrede auf der Frankfurt Buchmesse zum Gastlandauftritt der Niederlande und Flandern. Sein Werk erscheint in 27 Sprachen.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR14,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR6,99

Produkt

KlappentextZwischen real und digital: Wo bleibt da die Liebe? Was passiert, wenn die Grenzen zwischen Realität und Phantasie verschwimmen? Wenn das Lesen im Netz das tatsächliche dominiert? Mit seinem unverwechselbarem Sinn für Humor und seinem scharfen Blick fürs Detail geht Arnon Grünberg in seiner Novelle genau diesen Fragen auf den Grund.Lillian, Anfang zwanzig ist ein weiblicher Nerd. Sie wohnt noch bei ihren Eltern, ist übergewichtig und alltagsuntauglich. Ihr wahres Leben findet im Netz statt. Dort sind auch ihre Freunde, der wichtigste ist Banri Watanuki. Das Chatten mit ihm hilft Lillian, auch in der Außenwelt besser zurechtzukommen. Sie lebt ein fast normales Leben, bis sie eines Tages glaubt, in ihrem Kollegen Seb ihren Cyber-Freund Banri Watanuki wiederzuerkennen ...Ein beeindruckender Text über digitale und analoge Welten - und über die Liebe, die sich zwischen allen Einsen und Nullen immer noch ihren Weg bahnt. 'Die Datei' ist die Novelle, die den Kern eines Experiments zur Kreativitätsforschung bildet. Neurowissenschaftler der Universität Amsterdam haben die Hirnströme Arnon Grünbergs beim Verfassen des Texts aufgezeichnet. Auf der Buchmesse 2016 konnten Besucher des 'Grünberg Labs' in der Agora ihre Hirnaktivitäten während der Lektüre vermessen lassen.

Arnon Grünberg, geboren 1971 in Amsterdam, wohnt in New York, Amsterdam und Berlin. Seine Bücher wurden mit allen großen niederländischen Literaturpreisen ausgezeichnet, 2002 erhielt er den NRW-Literaturpreis für sein Gesamtwerk. Neben seinen literarischen Arbeiten schreibt Arnon Grünberg für internationale Zeitungen und Magazine. 2016 hielt er die Eröffnungsrede auf der Frankfurt Buchmesse zum Gastlandauftritt der Niederlande und Flandern. Sein Werk erscheint in 27 Sprachen.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783462316902
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2016
Erscheinungsdatum19.10.2016
Auflage1. Auflage
Seiten147 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.2100837
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Rules of the internet: #30

There are no girls on the internet

Kauen ist Meditieren. Seit gut zwölf Stunden hat Lillian, eine junge Frau mit fünf Tätowierungen, vier davon an unauffälligen Stellen, nicht mehr meditiert. Jetzt, im Auto auf dem Weg zum Bewerbungsgespräch, steckt sie sich ein Weingummi nach dem anderen in den Mund. Obwohl Frühling ist, spricht im Radio ein Mann von einem Herbststurm. In ihrer Straße ist tatsächlich ein Baum umgestürzt, die Feuerwehr musste kommen. Ein Audi war zerschmettert worden, doch ohne Insassen. Der Baum war umsonst umgestürzt. Lillian schafft es immer noch nicht, allen Menschen ein langes Leben, Gesundheit und Glück zu wünschen. Ab und zu hofft sie, dass jemand zerschmettert wird, was aber nicht heißt, dass sie sich solcher Gedanken nicht schämt. Der Mensch ist ein work in progress. Lillian weiß, wie viel Arbeit noch zu tun ist. Schon oft haben ihre Eltern gesagt: »So sind wir Menschen nun mal, das ist unsere Natur.« Wenn das wirklich stimmt, kann man sich genauso gut gleich von einem Wolkenkratzer stürzen. Was Lillian einmal auch ernsthaft erwogen hat, sie hatte sich auf ein Hochhaus gestellt, doch nach ein paar Minuten gedacht: Nein, lieber nicht. Es ging ein starker Wind. Sie sah sich schon unten auf dem Bürgersteig liegen. All der Dreck, all das Fleisch, das vom Boden gekratzt werden müsste, ein Kind, das ihren Sturz vielleicht versehentlich sähe und noch monatelang, möglicherweise für immer, traumatisiert wäre. Das war nicht der richtige Weg.

Heute Nacht hat sie von Zlatan Ibrahimovic geträumt. In einem Gebäude, das vage an ein Gemeindezentrum erinnerte, sprach er sie an. Sie fragte sich nicht, was Zlatan Ibrahimovic in einem Gemeindezentrum macht, die Leute haben ein Recht auf ihre Geheimnisse. »Kannst du mitkommen?«, hatte Zlatan gefragt, worauf sie zusammen die Treppe hinaufgingen. Da endete der Traum, den sie kurz nach dem Erwachen mithilfe einiger Stichworte in ihr Traumbuch notierte.

Der Name Zlatan gefiel ihr, darum hat sie sich vor einem Jahr sein Buch gekauft. Während einiger Monate hat sie viel mit Zlatan gesprochen, doch damit ist es jetzt vorbei.

Eine Bekannte von Lillian - sie war einmal ihre Freundin, wurde dann aber mehr und mehr die Freundin der Eltern -, die schon ein paarmal gesagt hat, sie solle langsam ihre Flausen vergessen und sich normal aufführen wie andere Leute, hat sich bereitgefunden, sie zu ihrem Bewerbungsgespräch zu fahren. Lillian hat kein Auto, dafür aber ein Rennrad, das sie kaum benutzt. Lange Zeit hielt sie sich für eine asiatische Prinzessin, und asiatische Prinzessinnen sitzen nun mal nicht auf Rennrädern. Ganz aufgegeben hat sie diesen Glauben noch nicht. Einen Glauben gibt man auch nicht auf, höchstens verlässt einen der Glaube, öfter noch muss man ihn sich aus dem Leib reißen wie eine Zecke. Die Mongolei, die Steppen, da möchte sie gern einmal hin. Mit der Transsibirischen Eisenbahn. Das Wort »Samowar« löst Sehnsucht in ihr aus wie das Foto eines entschwundenen Geliebten. Je größer die Sehnsucht, desto stärker der Schmerz. Die Mongolei ist ihr Gelobtes Land, obwohl ihr rotes Haar eher auf irische Vorfahren schließen lässt und sie noch nie östlich von Berlin gewesen ist.

Ungestüm kauend wird ihr klar, dass sie jetzt aller Wahrscheinlichkeit nach vermutlich doch produktiv wird, genauso produktiv wie Zlatan vielleicht. Endlich ist sie so weit, eine Stelle anzunehmen. Das soll sie bei dem Bewerbungsgespräch auch sagen: »Stellen Sie mich ein. Ich bin so weit. Ich stehe bereit.«

»Du schmatzt«, sagt die Bekannte. »Lillian, du schmatzt!«

Vor zwei Wochen hat Lillian ihren Vater beerdigt. Eine heimtückische Krankheit, es war blitzschnell gegangen. Auf der Trauerfeier hat ein Kollege von ihm gesprochen, Lillian hat ein Gedicht aufgesagt und einige Erinnerungen an ihn hervorgeholt. Erst an eine Radtour, dann an die Schule, wo er unterrichtete, und zuletzt eine an einen innigen Moment vor einem Zelt irgendwo in Frankreich in einer brütend heißen Nacht, in der ihr Vater wie üblich anderthalb Flaschen Rotwein geköpft und ausführlich über seine im ersten Ansatz geknickte wissenschaftliche Karriere philosophiert hatte. Ihre Mutter wollte nichts sagen. Die Leute fanden, Lillian habe schön gesprochen. Sie habe ihn gut getroffen, auch wenn sie dem einen oder anderen zufolge bestimmte Dinge ruhig hätte weglassen können. Ein ehemaliger Schüler von ihm hatte ein Lied gesungen.

Lillians Vater war ein leidenschaftlicher Biologielehrer gewesen, der sich jedes Jahr neue Prüfungsaufgaben ausdachte, während Kollegen einfach die vom letzten oder vorletzten Jahr kopierten. Nach der Beerdigung hatte man im kleinen Kreis - die verbliebene Familie, ein paar Verwandte, drei gute Freunde und zwei ehemalige Schüler - Pfannkuchen gegessen. Im Pfannkuchenrestaurant hatte sie beschlossen, sich den Namen ihres Vaters tätowieren zu lassen, aber sie wusste noch nicht richtig, wohin. Vielleicht auf den Po, da war noch Platz. Sie hatte mal mit einer Waise gesprochen, die sich die Namen ihrer Eltern auf den Hintern hatte tätowieren lassen; links den Namen ihres Vaters, rechts den der Mutter. Als Lillian sie fragte: »Warum?«, hatte die Waise geantwortet: »Ich habe sie nie gemocht und sie mich auch nicht.«

 

Der Regen hat aufgehört, aber es stürmt noch immer. Lillian wirft einen Blick auf die Wolken: ein typisch niederländischer Himmel, die Steppe kommt einfach nicht näher. Einmal war sie drei Wochen in Brüssel - für einen Workshop bei einer Gruppe berühmter Anarchisten zum Thema Konsens und wie man den erreichen kann, aber nach ein paar Tagen hatte sie davon genug, und sie ließ sich das erste Tattoo stechen. Aufs linke Handgelenk. Erst sollte es in kleinen Buchstaben das Wort »Glück« werden, um nie zu vergessen, dass sie glücklich sein musste - mitunter war sie ziemlich zerstreut, ein Umstand, dem sie ihr seltenes Glücksgefühl zuschrieb, sie vergaß es einfach -, aber da fiel ihr ein, dass so ein Tattoo auch kontraproduktiv wirken könnte, und sie entschied sich stattdessen für »Schmerz«, um immer daran zu denken, dass der Schmerz überall lauert. Wie eine Ratte, allzeit bereit, zuzuschnappen, einem ein Stück Fleisch aus dem Körper zu reißen. Dieser Ratte muss man aus dem Weg gehen, doch manchmal bleibt einem nichts anderes übrig, dann muss man kämpfen. Und gekämpft hat sie. Die Ratte hat sie gebissen, und sie biss zurück, sie haben einander zerfetzt. Im Tätowierstudio wurde es am Ende jedoch nicht das Wort »Schmerz«, sondern ein chinesisches Schriftzeichen, an dessen Bedeutung sie sich nicht mehr erinnern kann. Sie war betrunken. Der Tätowierer hatte eine hypnotisierende Stimme. »Das Wort Schmerz hat auf deinem Körper nichts zu suchen«, hatte er gesagt und ihr zu dem Schriftzeichen geraten. Während er mit seinen Nadeln zugange war, hatte er außerdem für sie gesungen.

Drei Weingummi noch, dann ist die Tüte leer. Wieder einmal hat sie nur Weingummi gefrühstückt, der Traum von Zlatan machte das notwendig. Wenn man nachts Zlatan in einem Gemeindezentrum begegnet, kann man sich am Morgen nicht einfach Obst in den Joghurt schnippeln.

Ihre besten Freunde sind virtuelle Existenzen, doch die Frau neben sich kennt sie noch aus der Grundschule. In dieser enttäuschenden, unvollkommenen und in der Regel recht hässlichen Welt, die von manchen die »Wirklichkeit« genannt wird, sind sie Bekannte geblieben.

 

Während sie ihren Pfannkuchen mit Äpfeln und Speck klein schnitt, hatte eine Tante gefragt: »Und, Lillian, weißt du jetzt endlich, was du vorhast?« Als hätte sie das all die Jahre nicht gewusst. Als asiatische Prinzessin namens Princess Saba, PSaba oder - für Freunde - einfach PS hatte sie unzählige Chatrooms besucht. Auch unter dem Namen P hatte sie firmiert, denn wenn ein Name nur aus einem Buchstaben besteht, können sie einen nicht googeln, und das waren nur einige der Decknamen, die sie benutzte, um ihrer Existenz Form zu geben. Eine asiatische Prinzessin im Internet war etwas Besonderes. In jener besseren Welt war man nicht determiniert, auch nicht in Fragen des Geschlechts; wenn man wollte, konnte man sich jeden Tag neu erfinden und verschiedene, sogar einander widersprechende Identitäten annehmen. Natürlich bestand die Gefahr, dass man Spuren hinterließ, doch wer ein bisschen geschickt war, konnte die Spurensucher in die Irre führen oder das Hinterlassen von Spuren vermeiden. Für diejenigen, die wirklich wollten, war die Vergangenheit Schall und Rauch.

Als Kind hatte Lillian sich lange für einen Jungen gehalten, bis sie das Licht sah und entdeckte, dass sie eine asiatische Prinzessin war, eine Prinzessin in einem ziemlich durchschnittlichen und lächerlich bleichen Mädchenkörper. Das war mit dreizehn, am 19. Juni 2003, um genau zu sein, am Hauptbahnhof von Den Haag. Mehr will sie darüber nicht verraten. Höchstens, dass sie tatsächlich Licht sah, dass ihr schwindlig wurde und jemand sie fragte: »Alles in Ordnung, Kleine? Möchtest du dich einen Moment hinsetzen?«

Am liebsten sitzt die asiatische Prinzessin an ihrem Laptop.

Dies sind die fünf Studien, die Lillian begonnen hat: Technische Informatik, Kommunikationswissenschaft, Veterinärmedizin, Psychologie sowie Luft- und Raumfahrttechnik. Irgendwann zwischen Kommunikationswissenschaft und Tiermedizin begann sie, fast nur noch online zu leben, und Luft- und Raumfahrttechnik fing sie...
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Autor

Arnon Grünberg, geboren 1971 in Amsterdam, wohnt in New York, Amsterdam und Berlin. Seine Bücher wurden mit allen großen niederländischen Literaturpreisen ausgezeichnet, 2002 erhielt er den NRW-Literaturpreis für sein Gesamtwerk. Neben seinen literarischen Arbeiten schreibt Arnon Grünberg für internationale Zeitungen und Magazine. 2016 hielt er die Eröffnungsrede auf der Frankfurt Buchmesse zum Gastlandauftritt der Niederlande und Flandern. Sein Werk erscheint in 27 Sprachen.Rainer Kersten, geboren 1964, übersetzt aus dem Niederländischen, u.a. Werke von Tom Lanoye, Dimitri Verhulst und Arnon Grünberg. 2016 wurde er mit dem Else-Otten-Übersetzerpreis ausgezeichnet.