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Gnadenfrist

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
160 Seiten
Deutsch
Diogeneserschienen am26.06.2024
Jean Baptist Warnke hat nicht nur einen Job als Diplomat, er hält sich auch im Privatleben aus allem diplomatisch heraus. Bis er sich in Lima mit Haut und Haar verliebt. Doch wer ist die Studentin Malena? Eine feurige Liebe, die ungeahnten Zündstoff enthält

Arnon Grünberg, geboren 1971 in Amsterdam, lebt und schreibt in New York. Neben allen großen niederländischen Literaturpreisen erhielt er 2002 den NRW-Literaturpreis für sein Gesamtwerk. Neben seinen literarischen Arbeiten verfasst Arnon Grünberg einen täglichen Blog und ist in den Niederlanden bekannt für seine Kolumnen und Reportagen.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR14,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR11,99

Produkt

KlappentextJean Baptist Warnke hat nicht nur einen Job als Diplomat, er hält sich auch im Privatleben aus allem diplomatisch heraus. Bis er sich in Lima mit Haut und Haar verliebt. Doch wer ist die Studentin Malena? Eine feurige Liebe, die ungeahnten Zündstoff enthält

Arnon Grünberg, geboren 1971 in Amsterdam, lebt und schreibt in New York. Neben allen großen niederländischen Literaturpreisen erhielt er 2002 den NRW-Literaturpreis für sein Gesamtwerk. Neben seinen literarischen Arbeiten verfasst Arnon Grünberg einen täglichen Blog und ist in den Niederlanden bekannt für seine Kolumnen und Reportagen.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783257614626
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Verlag
Erscheinungsjahr2024
Erscheinungsdatum26.06.2024
Seiten160 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse774 Kbytes
Artikel-Nr.12644820
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


Bei einem Botschaftslunch zu Ehren zweier niederländischer Nonnen, die sich seit fünfundzwanzig Jahren für minderjährige Schuhputzer einsetzen, geht Jean Baptist Warnke mit einem Mal auf, daß seine Zufriedenheit schon fast etwas Anstößiges hat. Schöner kann das Leben nicht mehr werden, und das braucht es auch nicht. Er kann sich nicht vorstellen, wie. Obwohl er mit seiner Frau seit acht Jahren zusammenlebt, ist er immer noch in sie verliebt. Er hat zwei Töchter, eine von vier und eine von anderthalb Jahren, die er ebenfalls liebt, und er ist zweiter Mann der Botschaft, mit guten Aussichten, einmal irgendwo erster Mann zu werden. Lima gefällt ihm: ausgezeichnetes Klima, und seine Frau hat nach langem Suchen endlich eine bescheidene Villa gefunden, die all ihren Anforderungen entspricht. Weil sie mit ihrem Juraabschluß nichts anstellen kann - sie hat nicht mal ein cum laude - widmet sie ihre Tage dem Streben nach Schönheit und Perfektion. Anderthalb Jahre hat sie gebraucht, das Haus geschmackvoll einzurichten, allein die Suche nach dem richtigen Toaster nahm drei Wochen in Anspruch. Danach verlegte sie sich aufs Modeschöpfen: Röcke und Kleider, die sie von einem Schneider in Barranco nähen läßt. Die Stoffe kauft sie auf dem Markt, in Begleitung der Haushälterin, denn ihr Spanisch ist rudimentär.

Sie arbeitet viel mit Leder und ist schlank wie eine Gerte. Das weckt bisweilen den Unmut jener Diplomatengattinnen, deren Bäuche und Oberschenkel vom schweren Leben im Ausland massive Proportionen angenommen haben. Bei Empfängen tuschelt man, daß Mevrouw Warnke an einer Eßstörung leide, doch solche Gerüchte erstickt ihr Mann im Keim: »Das ist bei ihr ganz normal«, sagt er, »sie ist so gebaut, es liegt an ihren Knochen.« Warnkes Frau hat leichte Knochen.

Er gehört keiner Religionsgemeinschaft an, doch ab und zu hat er das Bedürfnis, Gott für alle ihm bescherten Glücksgüter zu danken. Glaube ist für ihn etwas Ähnliches wie Vertrauen in den Menschen: eine Frage des Anstands. Er weigert sich, vom Schlechten in seinen Mitmenschen auszugehen, wer das tut, hat nicht richtig hingesehen, findet er. Warnke hat wenig Talent zum Zynismus. Es scheint ihm wahrscheinlich, daß irgendwo ein Regisseur herumläuft, den er mangels besserer Bezeichnung gern »Gott« nennen will. Doch naiv ist er nicht. Vor jedem längeren Spaziergang - er geht gern zu Fuß, vor allem durch Städte - legt er die Armbanduhr ab und nimmt das Portemonnaie aus der Brusttasche.

»Woher nehmen Sie nur die Kraft?« fragt er seine Tischnachbarin, eine der beiden Nonnen, während das Hauptgericht - ziemlich zähes Rindfleisch - aufgetragen wird. »Sich seit fünfundzwanzig Jahren für all die kleinen Schuhputzer einzusetzen?« Beim Aperitif hat sie ihn gebeten, sie Johanna zu nennen.

»Wir sehen das Leid dieser Jungen«, sagt Johanna. »Das gibt uns Kraft.«

Leiden gibt Kraft, das vergessen die meisten. Doch Warnke versteht, was sie meint, er schneidet sein Rindfleisch, wirft einen kurzen Blick auf den Botschafter, der gerade mit der anderen Nonne schäkert, und sagt dann: »Johanna, Menschen wie Sie erhalten diese Welt am Leben.«

Jeder Diplomat gestaltet seine Funktion auf eigene Weise; Warnke macht Menschen Mut. Ob es im ausländischen Gefängnis einsitzende Niederländer sind, Nonnen, die sich seit Jahrzehnten für minderjährige Schuhputzer einsetzen, oder ein Außenminister, der das Gastland besucht - jeder bekommt ein paar ermutigende Worte. Nennen wir´s Trost. So macht man Karriere. Aufmuntern, vertrösten, schweigen und eine gute Intuition für taktische Versöhnungen.

Kurz nach dem Dessert beendet der Botschafter den Lunch. Er wird immer schnell müde und erzählt schon seit Jahren dieselben Witze, wodurch seine Worte einen leicht melancholischen Unterton bekommen haben, den manche Leute für warmherzig und menschlich halten.

Die Nonnen gehen, ihre Auszeichnung in einer Plastiktüte, nach Hause, manchmal kommt die Belohnung für gute Taten noch vor dem Tod, und Warnke zieht sich in sein Büro zurück, wo er eingehend die Fotos seiner beiden Töchter betrachtet und dann für ein paar Sekunden den Blick auf einem Porträt der Königin ruhen läßt.

Warnke sieht jünger aus, als er ist, und ihm ist klar, daß er dafür bezahlt wird, nichts zu tun. Dafür, zwei freundlichen Nonnen bei einem ofâfiziellen Lunch Gesellschaft zu leisten. Auf Cocktailpartys zu erscheinen, niederländische Unternehmer bei ihren Aktivitäten zu beraten - theoretisch, denn praktisch verfügt er über keinerlei Ratschläge von irgendwelchem Wert, nur über ein paar Allgemeinplätze, die er notfalls zu einer halbstündigen Rede auswalzen kann. Dafür, daß er ab und zu einen Landsmann im Gefängnis besucht. Höhepunkte in seiner Karriere, diese Visiten im Gefängnis.

Einmal besuchte Warnke einen jungen Niederländer, der behauptete, von seinen Bewachern gestoßen und geschlagen zu werden. Er hatte ein blaues Auge, und ihm fehlten ein paar Zähne. Nach seinen Worten hatten sie ihm mit dem Hammer die Nase gebrochen. Laut ofâfiziellem Untersuchungsbericht war er die Treppe hinuntergefallen. Die peruanischen Behörden beschuldigten ihn der Unterstützung einer marxistischen Rebellenorganisation. Der Beschuldigte selbst sprach von anthropologischen Forschungen. Warnke machte ihm Mut, wie er das bei vielen anderen schon getan hatte.

»Ich werde eine Beschwerde einreichen«, sagte Warnke. »Sie können auf uns zählen.« Er ließ dem jungen Mann einen Obstkorb da und zwei Edamer Käse. Nach Aufâfassung des Außenministeriums geht Heimweh durch den Magen. Auch im Gefängnis, gerade dort. Wenn man es recht bedenkt, ist Freiheit vor allem eine Frage richtiger Ernährung.

Zurück in der Botschaft erstattete Warnke seinem Vorgesetzten sofort Bericht, doch der sagte: »Wir haben schon Schwierigkeiten genug, Warnke. Verbrennen wir uns nicht die Finger. Außerdem ist der Junge ´ne ziemlich schräge Type, vergessen Sie das nicht.«

»Sie haben recht«, sagte Warnke und zerriß die Beschwerde, die er sicherheitshalber schon getippt hatte. Der Botschafter hatte schließlich immer recht, das machte ihn auch so melancholisch.

Um das Zerreißen der Beschwerde wiedergutzumachen, ließ Warnke dem jungen Mann ein paar zusätzliche Obstkörbe und Edamer Käse ins Gefängnis schicken.

Ein paar Monate darauf starb der Junge an Herzversagen. Die peruanischen Behörden ließen eine Autopsie durchführen, und tatsächlich: ein eindeutiger Fall von Herzversagen. Der Botschafter schickte der Familie ein Beileidsschreiben, und Warnke gab sich große Mühe bei der Repatriierung der Leiche. Das gehört zu seinen Aufgaben. Wenn Niederländer im Ausland sterben, müssen sie wieder in die Heimat zurückbefördert werden.

Warnke setzt sich an seinen Schreibtisch, er hat Sodbrennen, ein ofâfizieller Lunch schlägt ihm immer auf den Magen.

Sein Vater war ein begabter Mathematiker, der in der Welt der Statistik ziemliches Ansehen genoß, weil er einige für die Caterer der internationalen Fluggesellschaften äußerst nützliche Modelle entworfen hatte. Jedesmal wenn Warnke im Flugzeug eine Mahlzeit zu sich nimmt, muß er an seinen Vater denken. Auch er selbst hatte sich zur Wissenschaft hingezogen gefühlt, doch es funkte nicht zwischen ihm und ihr, und so wandte er sich nach einigen Enttäuschungen der Diplomatie zu. Vor allem aufgrund seines Namens. Jean Baptist Warnke - mit so einem Namen kann man eigentlich nur Diplomat werden.

Das macht ihn nicht bitter, im Gegenteil: es erfüllt ihn mit Dankbarkeit. Er begann seine diplomatische Ausbildung, lernte auf dem Amsterdamer Flughafen seine Frau Catherina kennen, sie verliebten sich. Er arbeitete eine Weile in Den Haag, wurde dann Kulturattaché in Pretoria und ist jetzt zweiter Mann in Lima.

Noch eine Stunde bleibt er an seinem Schreibtisch, in Gedanken versunken, halb schlafend, dann steht er auf und schlendert zum Café El Corner, ein paar Straßen weiter, wo fast immer eine kaum zwei Wochen alte Newsweek herumliegt.

Die Umgebung der Botschaft gefällt ihm: Villen mit Gärtnern, ein kleiner Park, viele Autowerkstätten. Die niederländische Botschaft in Bogotá liegt in einer besseren Gegend, aber nun ja, es wurde nun einmal Lima. Man kann nicht alles haben. Wenigstens verfolgen einen hier kaum Händler, die einem irgendwelches überflüssige Zeug andrehen wollen, wie in der Innenstadt. Er sieht ein, daß Straßenverkauf ein unvermeidliches Phänomen ist, vor allem in solchen Ländern, doch es deprimiert ihn - all der Plunder, der den Besitzer wechselt.

Die Newsweek von vor zwei Wochen ist gerade besetzt, darum starrt er aus dem Fenster und nimmt kleine Schlucke von seinem Kaffee. Es ist neblig, das ist das einzige, was ihn manchmal bedrückt, der Nebel, der den Großteil des Jahres über Lima hängt. Doch besser Nebel als Regen.

Er winkt seinem festen Schuhputzer, einem achtjährigen Jungen, der zusammen mit seiner jüngeren Schwester in dieser Gegend für geputzte Schuhe sorgt. Roberto heißt er. Ein netter Junge; viele Schuhputzer sind halbe Kriminelle, doch Roberto rührt Warnke. Und sei es nur deshalb, weil er, wenn gerade keine Kunden da sind, mit seiner Schwester spielt und für sie immer wieder die Mülleimer nach möglichem Spielzeug durchwühlt. Wenn Warnke das sieht, muß er an seine Töchter denken, Isabelle und Frédérique.

Jeden Tag an der Arbeit hat er tadellose Schuhe; dazu trägt er einen dreiteiligen Anzug. Jedesmal, bevor er sich erhebt, knöpft er sich sorgfältig das Jackett zu, auch wenn er nur zur Toilette...
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Autor

Arnon Grünberg, geboren 1971 in Amsterdam, lebt und schreibt in New York. Neben allen großen niederländischen Literaturpreisen erhielt er 2002 den NRW-Literaturpreis für sein Gesamtwerk. Neben seinen literarischen Arbeiten verfasst Arnon Grünberg einen täglichen Blog und ist in den Niederlanden bekannt für seine Kolumnen und Reportagen.