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Der Weg zurück

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
128 Seiten
Deutsch
FISCHER E-Bookserschienen am15.12.20161. Auflage
Die Zugreise eines jungen Mannes wird zur Reise ins Ich Ein Mann auf dem Weg ins Leben. Überschattet wird dieser Weg von den Anfechtungen der turbulenten, ja bisweilen gefährlichen sechziger, siebziger, achtziger Jahre: Beziehungskrisen, Drogen, politische Gewalt. Diese Reise ins Ich birgt die Chance anzukommen, weiterzugehen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Enrico Palandri wurde 1956 in Venedig geboren. In Italien hat er vor ?Der Weg zurück? bereits zwei andere Bücher veröffentlicht.
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Produkt

KlappentextDie Zugreise eines jungen Mannes wird zur Reise ins Ich Ein Mann auf dem Weg ins Leben. Überschattet wird dieser Weg von den Anfechtungen der turbulenten, ja bisweilen gefährlichen sechziger, siebziger, achtziger Jahre: Beziehungskrisen, Drogen, politische Gewalt. Diese Reise ins Ich birgt die Chance anzukommen, weiterzugehen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Enrico Palandri wurde 1956 in Venedig geboren. In Italien hat er vor ?Der Weg zurück? bereits zwei andere Bücher veröffentlicht.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783105615225
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2016
Erscheinungsdatum15.12.2016
Auflage1. Auflage
Seiten128 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.2156255
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Kommen und Gehen

I

Am Abend vor meiner Abreise aus Rom trafen wir uns alle wieder. Wir hatten uns bei Turiddu zum Abendessen verabredet. Aldo Mansi war da, Walter Righi, Fernando, Sandra und Giacomo, später kam dann auch noch Fabio Cavalieri dazu. Bei solchen Abendessen tritt Turiddu wie ein Dirigent auf. Den Bleistift in der Hand steht er da, hoch über den Köpfen seiner Gäste, und ruft mit einem kurzen Wink die Stimmen aus dem Gesprächsgewirr auf, um die Bestellungen entgegenzunehmen.

»Also, was soll ich euch zuerst bringen? Rigatoni alla paiata, Fettuccine mit Tomaten und Basilikum, Bucatini all´amatriciana?«

Er spricht mal schneller, mal langsamer, wiederholt sich, betont. Es hört sich an wie ein Gesang, mit dem er den Genuß seines Publikums, seiner Gäste schon selbst vorkostet, die er mit appetitanregenden Einzelheiten erfreut (»Die Zichorie ist heute besonders gut, die kommt von meinem Cousin aus Ceri«). Er macht sie mit kleinen, wohlkalkulierten Verzögerungen und unmerklichen Zufälligkeiten gefügig, solange bis er auch den letzten aus seiner ergebenen Gefolgschaft in der Hand hat und seinen Rat großzügig an alle verschenken kann. Nur ein Verrückter oder ein Dummkopf könnte dann noch etwas anderes wollen. Wenn nun aber tatsächlich einer, der ihn nicht kennt, sich von keinem seiner Vorschläge verführen läßt und anfängt, in den Seiten der Speisekarte zu blättern, die in dieser Art Restaurant nur zur Dekoration da ist, wird der Wirt Turiddu zu Turiddu dem Schrecklichen. Unter seinem schwarzen Schnurrbart zischt er wütend und kurz angebunden hervor: »Das ist aus«, »Das gibt´s heute nicht«, »Was heißt, das steht auf der Karte? Na gut, es steht auf der Karte, das gab´s gestern ...« bis er schließlich eine undurchdringliche Mauer der Verweigerung errichtet hat, hinter der sich die Ehre der Mütter, Ehefrauen und Tanten verschanzt, die seit ewigen Zeiten die brodelnden Kochtöpfe, den genauen Weichheitsgrad der Spaghetti und die perfekte Konsistenz des Sugos bewachen. Wenn es euch nicht paßt, zieht ruhig wieder den Mantel an und geht nach Hause.

Hat er nun den Unverständigen unter den Gästen Risotto und Kotelett alla milanese ausgeredet, beginnt Turiddu schweigend und feierlich die Bestellungen zu notieren, als handelte es sich dabei um unseren letzten Willen. Dann verschwindet er. Manchmal läßt er sich zwischendurch blicken, taucht aber eigentlich erst wieder auf, wenn die Mahlzeit beendet ist. Sein melancholisch getrübter Blick sagt dann: Es ist Zeit zu schließen, der Abend ist zu Ende. Laßt uns nach Hause gehen, wir sind alle müde. Ich hoffe, ihr habt gut gegessen und ihr kommt wieder. Ich hoffe es und kann nur hoffen, denn ich weiß, Zichorie bleibt immer Zichorie, auch wenn sie aus Ceri kommt!

Während wir uns zu Tisch setzten, hatten wir unter uns die üblichen Sätze ausgetauscht: Was man so sagt, wenn man sich lange Zeit nicht gesehen hat: »Wie geht´s?«, »Hast du noch immer diese Stelle?«, »Und Paolo? Immer noch in Amerika?«, »Hast du gehört, daß Alfredo wieder den Maulwurf machen will?« Nun knüpfen die Gespräche langsam wieder an alte und neue Interessen an. Da steht einer noch unschlüssig herum, weil der Platz, wo er sich hinsetzen wollte, inzwischen schon besetzt ist. Der nächste beginnt einen Flirt, einer erläutert die Spezialitäten des Hauses, ein anderer stöhnt und denkt bei sich, es wäre wohl besser gewesen, zu einer anderen Einladung zu gehen. Wieder einer rekapituliert, wann wir uns das letztemal gesehen hatten, wo das war und was wir damals aßen. Als wären wir Akteure in der x-ten Folge einer Fernsehkomödie und dieses »Erinnerst du dich« würde uns von den verschiedenen Straßen zusammenrufen, denen wir im wirklichen Leben folgen. Früher hat sich immer Nicolas Part mit dieser Frage beschäftigt, aber der ist heute abend nicht da.

Wer weiß, vielleicht bin ich der einzige, der nicht weiß, was es mit diesem Maulwurf auf sich hat, den Alfredo wieder machen will. Ist das eine Zeitung, ein Restaurant oder ist den Maulwurf machen irgendein Jargon, den ich vergessen habe? Und wer ist dieser Alfredo? Zum Glück zieht Aldo Mansi skeptisch die Augenbrauen hoch und somit fühle auch ich mich davon befreit, der Sache weiter auf den Grund zu gehen.

Am Ende des Tisches zerkrümelte Giacomo sein Brot, genauso wie sein Vater es immer getan hat. Mit der scheuen Sicherheit einer Katze, die sich gefügig streicheln läßt, aber immer auf dem Sprung ist, sich vor einem Angriff zu verteidigen, verfolgt er mit seinen Blicken alle unsere Bewegungen. Er sitzt neben Sandra, und irgend etwas stört an ihrer Art miteinander umzugehen. Er ist nun ein Mann, sie kleidet sich und spricht noch immer wie ein junges Mädchen. Sie haben einen geheimen, anstrengenden und gespannten Waffenstillstand vereinbart. Die Mutter bittet an diesem Abend darum, Frau sein zu dürfen. Der Sohn will einfach nur Giacomo sein. So waren sie wie zwei Gleichaltrige aus dem Hause gegangen und hatten sich nebeneinander gesetzt. Aber stillschweigend, mit Ellbogenstößen, Blicken und diesem »Reichst du mir bitte das Wasser ´rüber«, bitten sie weiter darum, in Ruhe gelassen zu werden. Ich saß ihnen gegenüber, und es war mir unmöglich, ihr Unbehagen nicht zu bemerken. Ich dachte an Sandras Narbe im Nacken, suchte ihren Geruch. Es war mir aufgefallen, daß ich noch immer vermied, ihr in die Augen zu schauen, und ich achtete deshalb nicht mehr auf die Gespräche. Ich verlor mich in Gedanken an diese Narbe und dann an die lange Zugreise, die ich gerade hinter mir hatte (zurück nach London würde ich diesmal das Flugzeug nehmen). Ich dachte an Julia, an Gesichter und Gespräche, die einige Zeit zurücklagen. Sie riefen mich an einen Ort, von dem ich dann irgendwann abgereist war. Ich schaute auf die Münder rings um den Tisch, die Brot und Wörter zerkauten. Es schien mir, als hätte es uns alle schon einmal auf einem Gruppenfoto gegeben. Nun, wo wir alle, jeder mit seiner eigenen Betrachtung der Vergangenheit, in verschiedenen Welten untergetaucht waren, schwammen wir mühsam gegen den Strom und versuchten in diesem Moment wieder aufzutauchen; angestrengt bemüht, mit Gelächter, Scherzen und Kopfnicken anwesend zu erscheinen. Es genügte, für einen Augenblick mit dem Schwimmen aufzuhören, so wie ich es gemacht hatte, und die Gespräche zogen vorbei. Man fand sich an einem anderen Ort wieder, in einer anderen Zeit. So war es mir ständig während dieser Zugreise hierher passiert und auch jetzt wieder, hier am Tisch mit alten Freunden.

Walter Righi lacht in diesem Moment laut auf. Sie ziehen Fernando wegen einer Doubleface-Weste auf, die eine verblüffende Bereicherung seiner gewohnten Kleidung darstellt. Fernando ist aufgestanden, um sich zu zeigen und hat, als Dank für die Aufmerksamkeit der Tischrunde, eine kleine linkische Verbeugung gemacht. Mir fällt auf, daß er noch immer diese Sandalen trägt, und ich mache Aldo darauf aufmerksam, der zustimmend lächelt. Zeichen der Zeit, wie man so sagt, die man mit sich herumträgt wie Spuren, Spuren von Spuren und Spuren von Spuren von Spuren ... Giacomo war zu jung, um das zu bemerken, aber mich und die anderen erinnerten diese Sandalen an eine gewisse franziskanerhafte Haltung, die vor ein paar Jahren für Linke wie Fernando die eigentliche Berufung war. Diese Sandalen ließen mein Distanzgefühl schwinden. Ich dachte, daß trotz der Bitterkeit, der Tragödien und der Enttäuschungen, die Fernando, wie im übrigen uns alle, von diesen Jahren getrennt hatten und trotz der Lebensumstände, die uns in so verschiedene Richtungen zerstreut hatten, diese Sandalen doch immer mit dieser Zeit verbunden blieben. Sie zeigten die Stelle an, wo eine Welt versunken war und eine Gischt vergessener Ereignisse hinter sich gelassen hatte; neue Moden, die die Menschen wieder zu neuen Gruppen zusammenführen, bevor auch sie stillschweigend untergehen, und man nicht mehr versteht, welche Bedeutung bestimmte Worte oder bestimmte Verhaltensweisen einmal hatten. Mit diesem Wink auf Fernandos Sandalen gab ich Aldo zu verstehen, siehst du, das ist die Stelle, aus der die Vergangenheit aufgetaucht ist, man sieht noch das Loch!

Hin und wieder fragte mich jemand: »Bist du wieder in Rom?«, »Was machst du in London?« Ich antwortete eher in allgemeinen, ungenauen Wendungen, fragte auf die gleiche Weise zurück und beteiligte mich leidlich an der oberflächlichen Tischkonversation. Wir sprachen über Filme und Bücher und schließlich auch über die Amnestie für Mitglieder terroristischer Gruppen. Und natürlich über Nicola. Es gab ein paar, die nicht mehr daran glaubten, daß Nicola jemanden umgebracht haben sollte, und dazu gehörte sicherlich auch Sandra, seine Frau. Aber es ging nicht darum. Unschuldig zu sein wird zu einem privaten Faktor je mehr man sich mit den Jahren daran gewöhnt, daß alle sich an irgend etwas ein wenig schuldig fühlen. Aus Trägheit, Resignation oder Vorsicht kümmert man sich schließlich nur noch dann um andere, wenn man sich gegen sie verteidigen muß. Und nichts macht mehr Angst als ihre Unschuld, denn sie würde unsere Menschenfeindlichkeit offenbaren. Wir sprachen über das Strafmaß, weil Nicola inzwischen sowohl für die, die ihn kannten, als auch für die, die davon in der Zeitung gelesen hatten, zu einem Fall für die Justiz, ja zu einem Gerichtsurteil geworden war. Vor Jahren, an Abenden wie diesem, fragten wir uns: Ist er nun schuldig oder nicht? »Nicola Santi, schuldig? Was für ein Blödsinn!« Man sprach von Repressionen, unterzeichnete Petitionen und erzählte kopfschüttelnd Episoden brüderlicher Solidarität mit dem Verfolgten. Im Verlauf der Wochen, Monate und Jahre jedoch, gewann das Urteil an Gewicht. Die Beweise...

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