Hugendubel.info - Die B2B Online-Buchhandlung 

Merkliste
Die Merkliste ist leer.
Bitte warten - die Druckansicht der Seite wird vorbereitet.
Der Druckdialog öffnet sich, sobald die Seite vollständig geladen wurde.
Sollte die Druckvorschau unvollständig sein, bitte schliessen und "Erneut drucken" wählen.

Das fünfte Evangelium

E-BookEPUB0 - No protectionE-Book
349 Seiten
Deutsch
Bastei Lübbeerschienen am18.07.20141. Aufl. 2014
Die junge, couragierte Anne von Seydlitz ist der Verzweiflung nahe, als ihr Mann, ein Münchner Kunsthändler, bei einem mysteriösen Autounfall ums Leben kommt. Das einzige, was ihr bleibt, ist ein Film, dessen Aufnahmen alle dasselbe Motiv zeigen: ein Pergament mit einer alten koptischen Inschrift. Bald wird Anne klar, dass dieses Schriftstück ein Geheimnis birgt, denn für das Original wird ein phantastischer Preis geboten. Die Suche nach dem verschwundenen Pergament führt sie nach Paris, wo gerade ein amerikanischer Professor in die Schlagzeilen geraten ist, der einen scheinbar völlig unmotivierten Säureanschlag auf ein Bild von Leonardo da Vinci verübt hat ...mehr

Produkt

KlappentextDie junge, couragierte Anne von Seydlitz ist der Verzweiflung nahe, als ihr Mann, ein Münchner Kunsthändler, bei einem mysteriösen Autounfall ums Leben kommt. Das einzige, was ihr bleibt, ist ein Film, dessen Aufnahmen alle dasselbe Motiv zeigen: ein Pergament mit einer alten koptischen Inschrift. Bald wird Anne klar, dass dieses Schriftstück ein Geheimnis birgt, denn für das Original wird ein phantastischer Preis geboten. Die Suche nach dem verschwundenen Pergament führt sie nach Paris, wo gerade ein amerikanischer Professor in die Schlagzeilen geraten ist, der einen scheinbar völlig unmotivierten Säureanschlag auf ein Bild von Leonardo da Vinci verübt hat ...
Details
Weitere ISBN/GTIN9783838757704
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format Hinweis0 - No protection
FormatFormat mit automatischem Seitenumbruch (reflowable)
Erscheinungsjahr2014
Erscheinungsdatum18.07.2014
Auflage1. Aufl. 2014
Seiten349 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.2189541
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe
Zweites Kapitel
DANTE UND LEONARDO
verschlüsselte Geheimnisse
1

Es ist Unsinn, wenn Menschen behaupten, jemand, der mit seinem Leben abgeschlossen hat, sei nicht bei klarem Bewusstsein. Vossius war so klar, dass ihm - entgegen sonstiger Gewohnheit - sogar ständig irgendwelche Zahlen in den Sinn kamen, Zahlen, die für ihn und die Situation, in der er sich befand, ohne jede Bedeutung waren. So überlegte er allen Ernstes, ob er wirklich zwanzig Francs ausgeben sollte für den Lift, der ihn zur dritten Plattform bringen würde, oder ob er ein paar Francs sparen und zu Fuß die Treppe bis zur ersten Plattform hinaufklettern sollte. Einer Schemazeichnung neben der Kasse entnahm er, dass jene zwar nur 57 Meter hoch lag; aber um sich zu Tode zu stürzen, genügte das allemal. Doch dann sagte er sich, du stirbst nur einmal, und er wollte Paris noch einmal von oben sehen, aus dreihundert Metern Höhe. Also reihte er sich geduldig ein in die Schlange vor einem der Kassenschalter, mit dem festen Vorsatz, zum Preis von zwanzig Francs seinem Leben ein Ende zu setzen, von ganz oben.

Besucher des Eiffelturmes werden auf eine harte Geduldsprobe gestellt, weil die Menschenschlangen, die das Wahrzeichen erstürmen wollen, an allen Tagen schier endlos sind, sogar an einem unfreundlichen Herbsttag wie diesem. Von ihm selbst ausgehend begann er die Wartenden vor sich zu zählen. Er kam auf über neunzig und errechnete, dass, würde der Vorgang des Kartenerwerbs bei jedem Einzelnen nur zwanzig Sekunden in Anspruch nehmen, er eine halbe Stunde warten müsste.

Gewiss, das sind unsinnige Gedanken im Angesicht des Todes, aber sie sollen auch nur deshalb wiedergegeben werden, um die Klarheit seiner Gedanken zu beschreiben, die ihm der eine oder andere vielleicht im Nachhinein absprechen möchte. Das ging sogar so weit, dass er verstohlen - also mit jener betonten Zufälligkeit, die keinem aufmerksamen Beobachter verborgen bleibt - die Menschen vor und hinter sich musterte, ob sie nicht die absonderliche Ruhe in seinem Verhalten wahrnahmen, die einen Menschen kennzeichnet, der nur noch ein Ziel vor Augen hat. Er ertappte sich sogar dabei, dass er lautstark hüstelte, obwohl er gar kein Bedürfnis dazu verspürte - nur um keinen falschen Eindruck zu erwecken.

Irgendwann während dieser endlos scheinenden Minuten des Wartens kamen ihm Zeitungsmeldungen in den Sinn, die sein Sprung vom Eiffelturm nach sich ziehen würde. Vielleicht unter »Vermischtes« oder - noch verachtenswerter - ein Einspalter unter »Lokales« zwischen einem Verkehrsunfall in der Rue Rivoli und einem Wohnungseinbruch im Quartier Latin. Dabei war das, was er mit sich in den Tod nahm, von so großer Bedeutung, dass es alle Schlagzeilen dieser Welt am nächsten Tag verdrängt hätte.

Angst vor dem, was er vorhatte, kannte er nicht, weil man ohnehin vor dem Tod keine Angst zu haben braucht, nur vor dem Sterben, und das würde in seinem Fall so schnell vonstattengehen, dass keine Zeit zum Lamentieren bliebe. Irgendwo hatte er gelesen, man würde überhaupt keinen Schmerz spüren, wenn man sich von einem hohen Turm stürzte, weil einen kurz vor dem Aufschlag das Bewusstsein verlasse.

Skepsis verursachte bei ihm nur der Gedanke, wer das wirklich wissen konnte, ob dies nicht nur graue Theorie war - denn die Praxis hatte ja wohl keiner überlebt. Dennoch kamen bei ihm keine Zweifel auf, obwohl ihm natürlich bewusst war, dass der Entschluss, seinem Leben ein Ende zu setzen, nicht seinem eigenen Wollen entsprang. Doch der Entschluss war so stark, dass ihn nichts davon abbringen würde.

Irgendwie hatte der feste Entschluss in ihm sogar einen seelischen Aufschwung hervorgerufen, sodass er einer eleganten vorbeiparadierenden Blondine - anders konnte man die Zurschaustellung ihres neuen Kostüms nicht nennen - hinterherpfiff, wobei er die Augen verdrehte wie ein barocker Heiliger. Nie im Leben hätte er das vorher fertiggebracht, ein Mann seines Standes und Alters!

Er hatte, das wurde ihm auf einmal klar, ein pflichtbewusstes, von der Gesellschaft mit Bewunderung verfolgtes Leben geführt und stets jenes Verhalten an den Tag gelegt, das man von ihm in seiner Position erwartete. Nicht ohne Stolz hatte er sein Leben gelebt, das Leben eines angesehenen Wissenschaftlers, Professors für Komparatistik. Er hatte sich dieses Fach ausgesucht, weil er dank seines hervorragenden Gedächtnisses besonders dafür geeignet war und es als wichtig ansah, obwohl höchstens einer von tausend erklären kann, dass es sich hierbei um vergleichende Literaturwissenschaft handelt.

Den Musen, genauer einem Forschungsauftrag der California State University in San Diego, hatte er seine Ehe geopfert - was heißt: geopfert, die ehrbare Durchschnittsehe wäre auch ohne den Entschluss, nach Leibethra zu gehen, zerbrochen. So hatte es sich gut gefügt, das von der Gesellschaft verordnete Ideal des menschlichen Zusammenlebens ohne großes Aufsehen aufzulösen und den Zwang eines amerikanischen Lehrstuhls einzutauschen gegen die Freiheit eines internationalen Forschungsinstituts.

Vossius machte ein paar langsame Schritte auf sein Ende zu. Er empfand es als unangenehm, dass die hinter ihm sofort auf Tuchfühlung nachrückten. Allmählich wurde ihm das Warten lang, die Menschenschlange lästig, und in ihm begann das unerklärliche Gefühl hochzukriechen, das einen befällt, der sich in die Enge getrieben fühlt.

Diese Art von Bedrängnis hatte ihn zeit seines Lebens von organisierten Veranstaltungen abgehalten, die nach seiner Bekundung bereits dann als solche bezeichnet werden mussten, wenn sich mehr als sechs Personen um einen Tisch versammelten. Vossius hatte es sich angewöhnt, schwierige Gedankengänge nicht im Sitzen, sondern im Gehen zu lösen wie Aristoteles und seine Schüler. Enge macht dumm, lautete eine seiner oft zitierten Behauptungen, die er mit zahlreichen Beispielen aus der Geschichte zu untermauern wusste.

Überhaupt hatte der Professor Angewohnheiten, die außerhalb des Gewöhnlichen lagen, ihn also zu einem ziemlich ungewöhnlichen Mann stempelten. Dazu gehörte auch, dass Vossius sich in unregelmäßigen Abständen von zwei bis vier Monaten eine Hungerkur verschrieb, bei der er acht Tage nur Mineralwasser zu sich nahm. Der Grund für diese Selbstkasteiung waren nicht etwa Gewichtsprobleme, wie man vielleicht annehmen könnte, Vossius glaubte vielmehr, auf diese Weise seine Konzentration und das Denkvermögen an sich zu fördern. Auch dem Geheimnis des Barabbas war er während einer solchen Hungerkur auf die Spur gekommen.

Dieses Fasten entsprach also mehr einer Philosophie als dem Gedanken an seine Gesundheit, mit der Vossius eher Raubbau trieb. Denn sein Beruf erschien ihm nie ein Mittel zum Zweck des Geldverdienens, das eine sorgsam bemessene 40-Stunden-Woche zur Folge gehabt hätte; nein, sein Beruf war ihm Bedürfnis, man könnte beinahe sagen Sucht, von der er auch des Nachts nicht ablassen konnte. Nächtliche Ausritte in die Welt der Komparatistik, bei denen er irgendeine Spur bis zur totalen Erschöpfung verfolgte (Cola und schwarze Zigaretten taten dabei ein Übriges), führten ihn oft an den Rand des Zusammenbruchs. Nein, gesund hatte Vossius nie gelebt. Sein Beruf war eine jener Leidenschaften, die einen verzehren, aber niemals umzubringen vermögen.

Hätte er geahnt, dass er eines Tages zum Opfer seines eigenen Wissens werden würde, er hätte nie und nimmer diesen furchtbaren Beruf erwählt; als biederer Beamter oder Handwerker mit Sinn für die Kunst hätte er ein anständiges Leben geführt, ohne je vor sich selbst flüchten zu müssen. Sokrates irrte - und es war gewiss nicht das erste Mal -, wenn er sagte, Wissen sei das einzige Gut für den Menschen und Unwissenheit das einzige Übel. Unwissenheit kann ein großes Glück bedeuten und Wissen ein grausames Unglück, dafür gibt es unzählige Beispiele. Und es ist überhaupt nicht böse gemeint, wenn man sagt, die Unwissenden seien die Glücklicheren: Sie sind es. Ihr Leben ist ein Paradies und ihre Arbeit Broterwerb und nicht mit dem Dickicht von Zweifeln behaftet, das undurchdringlich ihr Wissen umgibt, weil Wissen nichts anderes ist als eine immer wiederkehrende Form des Zweifels.

Was anderes als Zweifel hat der Menschheit die höchste Erkenntnis beschert? Und hätte er, Vossius, nicht gezweifelt, ob Dante, Shakespeare, Voltaire und Goethe, ja, selbst ein Leonardo nicht mehr waren als geniale Geschichtenerzähler, ob sie nicht Mitwisser waren eines unvorstellbaren Mysteriums, er wäre unwissend geblieben, aber glücklich.

So aber musste er sich vor sich selbst fürchten, vor seinem Wissen und vor denen, die hinter diesem Wissen her waren. (Dass er auf der Flucht war vor den Folgen einer Straftat, hatte Vossius in diesem Augenblick verdrängt.) Lässig, beinahe gelangweilt, was aber, wie schon erwähnt, keineswegs seinem inneren Zustand entsprach, stopfte er die Hände in die Hosentaschen. Seine Rechte zuckte unwillkürlich zurück, als er das Fläschchen in seiner Tasche spürte.

Es war nicht das Fläschchen an sich, das ihn erneut in Aufregung versetzte, sondern das Werk, das sein ätzender Inhalt verrichtet hatte, farblos, geruchlos, ölig. H2SO4. Während er mit den Fingern über das kantige Fläschchen strich, blickte er abermals nach allen Seiten, aber er konnte keine Bewegung ausmachen, aus der er hätte schließen können, dass man ihn verfolgte.

Aus dem Kanaldeckel, auf dem er stand, quoll der ekelerregende Geruch erwärmten Abwassers, und Vossius wollte, um dem zu entgehen, aus der Reihe treten, doch er harrte aus, um nur nicht aufzufallen. Lächerlich, dachte er, wie leicht es war,...
mehr