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Der Spiegelmacher

E-BookEPUB0 - No protectionE-Book
479 Seiten
Deutsch
Bastei Lübbeerschienen am18.07.20141. Aufl. 2014
Europa im fünfzehnten Jahrhundert. Michel Melzer, ein Spiegelmacher aus Mainz, reist in das ferne Konstantinopel, um sein Glück zu machen. Durch Zufall gelangt er dort in den Besitz einer Erfindung, die unermesslichen Reichtum verspricht: das Geheimnis der künstlichen Schrift. Dadurch gerät er in den Konflikt zwischen dem Kaiser von Byzanz und dem türkischen Sultan, dem Papst in Rom und dem Dogen von Venedig. Doch der Spiegelmacher lässt sich allein vom Zauber der schönen Lautenspielerin Simonetta blenden, die im Dienst einer fremden Macht steht, welche die Schwarze Kunst für ihre eigenen Zwecke missbrauchen will...mehr

Produkt

KlappentextEuropa im fünfzehnten Jahrhundert. Michel Melzer, ein Spiegelmacher aus Mainz, reist in das ferne Konstantinopel, um sein Glück zu machen. Durch Zufall gelangt er dort in den Besitz einer Erfindung, die unermesslichen Reichtum verspricht: das Geheimnis der künstlichen Schrift. Dadurch gerät er in den Konflikt zwischen dem Kaiser von Byzanz und dem türkischen Sultan, dem Papst in Rom und dem Dogen von Venedig. Doch der Spiegelmacher lässt sich allein vom Zauber der schönen Lautenspielerin Simonetta blenden, die im Dienst einer fremden Macht steht, welche die Schwarze Kunst für ihre eigenen Zwecke missbrauchen will...
Details
Weitere ISBN/GTIN9783838757711
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format Hinweis0 - No protection
FormatFormat mit automatischem Seitenumbruch (reflowable)
Erscheinungsjahr2014
Erscheinungsdatum18.07.2014
Auflage1. Aufl. 2014
Seiten479 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.2189542
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe
ZU ANFANG DAS ENDE

Es ist dies das Eintausendvierhundertachtundachtzigste Jahr seit der Fleischwerdung des Herrn, und gewiss wird es - so diese Welt das Jahrhundert überdauert - einmal heißen, es sei ein gar unwichtiges, unbedeutendes, unmaßgebliches Jahr gewesen. Was mich nicht juckt. In meinem Alter ist das Bedürfnis nach Wichtigkeiten ohnehin gering. Nein, für einen Greis wie mich gewinnen ganz andere Dinge an Bedeutung.

Wie viel Zeit habe ich verschwendet, irdische Güter anzuhäufen, wie viel Gefühl, um das zu erleben, was gemeinhin als Liebe beschrieben wird! Nun, da mein Bart weiß ist wie das Fell eines Schneehasen und meine Männlichkeit zwischen den Beinen hängt - erspart mir jeden Vergleich -, nun, da mein Buckel krumm und mein Augenlicht nur noch nützlich ist, den Tag von der Nacht zu unterscheiden, da ich also unzufrieden, unglücklich, schwermütig und von Gram zerrissen sein müsste, empfinde ich seltsame Zufriedenheit und ein gewisses Glück. Fragt nicht warum, es ist widersinnig genug.

Ich, Michel Melzer, Spiegelmacher von Mainz und Schwarzkünstler dazu, zähle hier im Gewölbe des Erzbischofs meine Tage, und ich wundere mich, wie lange ich schon zähle, und frage mich täglich, wie lange ich noch zählen soll, wo meine Uhr, die das Schicksal einem jeden hinstellt, doch längst abgelaufen sein müsste. Sind es achtundsiebzig Jahre oder weniger - was kümmert's mich? Und Euch schon gar nicht!

Obwohl ich seit Laurenzi Anno ichweißnichtmehr hier sitze und die Schergen mir alles andere als wohlgesinnt sind, obwohl mein Leben auf drei Schritte nach vorn und zwei zur Seite eingeengt ist, erscheint mir dieser Sommer als der glücklichste meines Lebens. Ihr werdet fragen, warum. Ich werde Euch die Antwort geben.

Teilt sich das Leben nicht von Anfang an in Licht und Schatten - in Krieg und Frieden, Arbeit und Muße, Leidenschaft und Gleichmut, Chaos und Harmonie? Wenn dem so ist, so lebe ich hier und jetzt am Ende meiner Tage in Frieden, Muße, Gleichmut und Harmonie. Gibt es ein besseres Leben als dieses?

Nun, da ich mich an diesen Ort gewöhnt habe, fernab von Chaos, Leidenschaft, Arbeit und Krieg; nun, da es mir Glück bedeutet, den Morgenstrahl der Sonne zu erwarten und das Abendgeläute von St. Alban zu vernehmen; nun empfinde ich mehr Zufriedenheit als in meinen sogenannten besten Jahren.

Meine Zelle teile ich mit einem Spinnentier, welches auf Nahrungssuche in der Dämmerung täglich denselben Weg an der Längswand gegenüber meiner Holzpritsche zurücklegt. Anfangs musste ich mich still halten, damit die Spinne ihren Weg zu dem vergitterten Fenster fortsetzte, doch seit geraumer Zeit haben wir uns so aneinander gewöhnt, dass das Getier in der Mitte der rauen Wand einhält, sich einmal um die eigene Achse dreht, als wollte es mir einen Gruß zuteilwerden lassen, und sich dann geradewegs seinem Ziel nähert, dem Mauervorsprung der Luke, auf dem es seine Nahrung findet.

Ich hätte wirklich nicht geglaubt, dass ich auf meine alten Tage noch zum Arachnologen würde. Doch ich schätze die Spinne. Nicht nur, weil sie mir alles Ungeziefer vom Leibe hält, sondern auch wegen ihrer prophetischen Gabe. Sie vermag durch ihr Verhalten das Wetter vorherzusagen, und dabei irrt sie nie. Bewegt sie sich hastig und schnell, so kündet sie Sturm, Regen und düstere Wolken an. Ist ihr Lauf aber gleichmäßig ruhig, so bedeutet dies einen heiteren Himmel. Dem nicht genug, wies mir die Spinne sogar den rechten Weg, meine Erinnerungen der Nachwelt weiterzugeben, was mir von höchster Stelle untersagt worden war, weil die hohen Herren nichts mehr fürchten als die Wahrheit. Und Ihr wisst ja, wer die Wahrheit redet, findet selten geneigte Zuhörer.

Ich glaube, sie wollten mich mundtot machen, sogar leibestot, als sie mir Papier und Feder, meinen kostbarsten Besitz, wegnahmen. Doch die Pfeffersäcke in den schwarzen Talaren vergaßen mich zu verbrennen. Sie scheinen noch immer nicht begriffen zu haben, dass die größte Gefahr von den Gedanken ausgeht; und Gedanken nehmen ihren Lauf, solange der Mensch atmet.

Also folgte ich, in Gedanken verloren, dem immer wiederkehrenden Lauf der Spinne bis zu jenem Tag, an welchem sie, Gott weiß warum, einen anderen Weg einschlug, und zwar auf jene Seite, wo mein Lager stand. Sie kam mir zum Greifen nahe, und plötzlich verschwand die Spinne in einer Mauerritze, der ich bisher keine Beachtung geschenkt hatte.

Als sie tags darauf nicht mehr auftauchte, versuchte ich den Spalt in der Mauer zu erkunden. Verwundert stellte ich fest, dass der Ziegel locker in der Wand steckte, und nach heftigem Rütteln löste sich der Stein aus dem Gemäuer. Wie erschrak ich, als in der armdicken Öffnung das bleiche Gesicht eines Mannes erschien. Doch noch mehr als ich erschauerte der andere. Er glaubte wohl, Beelzebub in Person blicke aus der Mauer.

So dauerte es eine Weile, bis wir uns durch das enge Loch ein Bild voneinander gemacht und so viel Zutrauen zueinander gefunden hatten, dass wir uns überwanden, ein Gespräch aufzunehmen. Es endete für uns beide mit der Erkenntnis, dass wir einander nicht zu fürchten hatten; schließlich erduldeten wir das gleiche elende Schicksal. Der andere - ich nenne ihn so, weil er sich weigerte, seinen Namen zu sagen -, dieser andere büßte für den Frevel, eine Nonne der heiligen Hildegard verführt und sie gesegneten Leibes gemacht zu haben, was nach dem Willen der Kirche zwar eine Sünde, aber durchaus absolutabel sei, solange der Samenspender sich heftigst bekreuzige und die Tat ebenso entschieden leugne. Beides aber lehnte er ab. Als die ehrwürdige Mutter gar ein Paar gesunder Zwillinge gebar - was selbst in zölibatären Kreisen als besonderer Segen des Allerhöchsten betrachtet wird - und als der gesegnete Vater sein augustinisches Gewand an den Nagel hängen und die Nonne heiraten wollte, da wurde er von den Oberen des Irrsinns bezichtigt und hierher gebracht. Er meint deshalb, dies sei gar kein Gefängnis, sondern ein Irrenhaus.

All das und noch mehr erfuhr ich durch das Loch in der Mauer in einer einzigen Nacht. Aus Furcht vor Entdeckung schob ich den Stein wieder an seinen Ort. Am folgenden Tag ließ mich der andere wissen, er verfüge über Papier und Tinte und die Möglichkeit, seine Gedanken niederzuschreiben, doch - behauptete er - ihm selbst sei nicht an Worten gelegen.

Am dritten Tag hatten wir bereits Zutrauen zueinander gefasst, und der andere erbot sich, als er erkannte, wie sehr ich unter dem Schreibverbot litt, wohl mehr aus Langeweile, aufzuzeichnen, was ich zu sagen hätte.

Und bei Gott, ich habe viel zu berichten! Zwar weiß keiner von uns beiden, ob er diese Mauern je lebend verlassen und ob nicht die ganze Arbeit vergeblich sein wird; aber mir geht es darum, meine Ehre zu retten. Und besteht nur ein Funken Hoffnung, dass meine Aufzeichnungen den Kerker überdauern, so will ich nichts unversucht lassen.

Zwar gönne ich den Reichen ihr Gold, den Frommen das ewige Leben und den Erleuchteten die Glückseligkeit ihres Wissens, aber jenem perfiden Gensfleisch gönne ich nicht den Triumph, sich als Weltveränderer zu brüsten, weil es nicht die Wahrheit ist. Jeder Triumph ist das Ergebnis eines himmelschreienden Betruges; und das, was ich zu berichten habe, ist die Geschichte meines lebenslangen Kampfes gegen jenen Rivalen, der, von Kussmäulern und Sausuhlen umgeben, mit dem Satan im Bunde stand oder jenen Zwischenwesen, welche Oriens, Amaymon, Paymon und Egim heißen. Das hat man zwar auch mir nachgesagt, aber ich schwöre bei der Liebe zu Simonetta, dem einzigen Lichtblick in meiner Dunkelheit: Es ist nicht die Wahrheit - auch wenn es den Anschein haben mag, weil ich schon bald mit völliger Blindheit geschlagen sein werde.

Schon immer galten Menschen, die sich mit Dingen beschäftigten, welche anderen fremd und unerklärlich sind, als Magier, Zauberer und Meister der Schwarzen Kunst. Merkwürdig nur, dass noch keiner den Pfaffen diesen Vorwurf machte, wo sie doch jahraus, jahrein nichts anderes tun. Als ich noch Spiegel schliff, mit deren Hilfe fromme Menschen die Strahlen des Heiligen Geistes und tumbe Tore die wundertätige Wirkung der vollgeschissenen Windeln des lieben Jesuleins einzufangen glaubten, da schien mein Werk sogar dem Papst im fernen Rom genehm. Als aber aus meinen Spiegeln lüsterne Weiber hervorlugten und ihre Röcke hoben bis zur Scham und ihre fetten Brüste zeigten ohne Tuch darüber, da nannte mich der Erzbischof in aller Öffentlichkeit einen Hexenmeister und meine Kunst verwerflich, obwohl gerade er wissen müsste, dass die Wahrheit im Auge des Betrachters liegt - zumal er selbst zu meinen besten Kunden zählte.

Als ich vermittels jener Kunst, um die ich mich seit Jahr und Tag mit dieser Ausgeburt des Satans streite, an einem Tag der heiligen Mutter Kirche mehr an Pfründen einbrachte als die Mönche von dreißig Klöstern, da wurde mir neben gutem Lohn sogar ein vollkommener Ablass zuteil, welcher für alle Zeiten alles verzieh, was ich je an Sünden begangen haben sollte und begehen würde. Ihr seht ja, was so eine Sündenvergebung wert ist: nicht das Papier, auf dem sie gedruckt ist! Dabei habe ich nichts verbrochen, außer dass ich mit eigenen Augen gesehen habe, was ich nie hätte sehen dürfen - und, bei allen Heiligen, mein Augenlicht war damals noch scharf wie das eines Adlers.

Aber ich will nicht klagen, auch wenn es jeden Tag um mich herum dunkler wird. Ich habe genug gesehen, viel mehr, als sich...
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