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Zum Siegen geboren

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
688 Seiten
Deutsch
FISCHER E-Bookserschienen am24.02.20171. Auflage
?Zum Siegen geboren? ist die Geschichte einer ungewöhnlichen Frau und der zwei großen Passionen ihres Lebens: die eine ist Sam Cumberland, jüngstes Mitglied einer der wohlhabendsten Pferdezüchterfamilien Amerikas, die andere sind jene Vollblutpferde, die sie und Sam trainieren und bei den großen Rennen gegeneinander antreten lassen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

William Kinsolving schloß 1958 seine Ausbildung an der Yale Universität ab, studierte dann an der Londoner Akademie für Musik und Drama und wurde Schauspieler in Film- und Fernsehproduktionen. Er schrieb Drehbücher und mehrere Romane.
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Klappentext?Zum Siegen geboren? ist die Geschichte einer ungewöhnlichen Frau und der zwei großen Passionen ihres Lebens: die eine ist Sam Cumberland, jüngstes Mitglied einer der wohlhabendsten Pferdezüchterfamilien Amerikas, die andere sind jene Vollblutpferde, die sie und Sam trainieren und bei den großen Rennen gegeneinander antreten lassen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

William Kinsolving schloß 1958 seine Ausbildung an der Yale Universität ab, studierte dann an der Londoner Akademie für Musik und Drama und wurde Schauspieler in Film- und Fernsehproduktionen. Er schrieb Drehbücher und mehrere Romane.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783105616253
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2017
Erscheinungsdatum24.02.2017
Auflage1. Auflage
Seiten688 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.2240500
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


Erster Teil Certainty

1955-1960


1

Die warme nächtliche Brise, die aus Süden kam und den Big Sandy River hinaufwehte, war eine Erlösung nach den kalten Stürmen aus dem Norden, die den ganzen Winter über den Ohio heruntergefegt waren. Die beiden Flüsse vereinigten sich nicht weit von dem Platz entfernt, an dem Annie frierend vor der Hütte ihres Vaters stand. Sie preßte die Arme an den zitternden Körper und drückte die Hände auf ihre Brust unter der weichen Schlafanzugjacke. Zum ersten Mal in diesem Jahr lag der aromatische Kiefernduft in der Luft. Annie atmete tief ein und hörte das dumpfe Signalhorn einer Diesellokomotive. Etwa fünf Meilen entfernt fuhr ein Zug durch Ashland und am diesseitigen Ufer des Ohio River entlang. Annie war mit fünfzehn größer als die meisten Jungen in der High School von Catlettsburg. Während des Winters hatten sich ihre Brüste entwickelt. Annie versuchte, sie zu verbergen, indem sie weite Pullover trug. Trotzdem warfen ihr die Jungen inzwischen andere Blicke nach, auch wenn sie es immer noch vermieden, mit ihr zu sprechen. Die Mädchen redeten zwar mit ihr, aber sie äußerten sich gemeiner als üblich über ihre Haare und Kleider. Annie atmete noch einmal tief die kalte Luft ein und schüttelte trotzig den Kopf.

Die Kinder in der Schule hatten Annie den Spitznamen »Rattennest« gegeben, weil ihre dichten bernsteinfarbenen Haare meist hoffnungslos zerzaust waren. Sie fuhr verdrießlich mit den Fingern durch ihre Mähne. In der Hütte gab es kein warmes Wasser. Wenn Annie sich die Haare waschen wollte, mußte sie Wasser auf dem Kohleofen erhitzen. Die Haare waren noch etwas feucht, denn sie hatte es geschafft, am Abend zuvor zu baden. Fröstelnd ging sie auf dem Feldweg in Richtung der Bahngeleise, die unten am Flußufer entlangliefen.

Im Winter schliefen Annies ältere Brüder, Jimmy Lee und Fungo, neben ihr in dem Doppelbett am Ofen. Sie rissen die Decken an sich, schnarchten mit offenem Mund und rochen nach Winterschweiß, den sie erst abwuschen, wenn der Fluß warm genug zum Schwimmen war. Jimmy Lee hatte sich in der Nacht an sie herangemacht, aber sie hatte ihn weggestoßen. Als er sie dann an den Haaren zog und mit den Fäusten auf den Rücken schlug, war Annie aus dem Bett gesprungen, schnell in die Turnschuhe geschlüpft und ins Freie gerannt. Sie war inzwischen auf solche Dinge vorbereitet, trug nachts immer ihre Jeans und knöpfte die warme Schlafanzugjacke sorgfältig bis oben zu.

Die Hütte bestand aus Brettern und Dachpappe. Annie hatte nie ein anderes Zuhause gehabt. Die Fußbodendielen lagen direkt auf der Erde, die im Winter steinhart gefror, im Frühling als Schlamm durch die Ritzen der Bretter nach oben drang und im Sommer zu Staub wurde, den der Wind im Herbst in die Zimmerecken blies. Es gab drei Räume, aber nur im größten stand ein Ofen. Die Jahreszeiten machten sich für Annie nicht nur durch den Zustand der Fußbodenbretter bemerkbar, sondern auch dadurch, wie viele Personen außer ihr in dem Bett neben dem Ofen schliefen. Schnee lag in der Frühlingsluft, und Annie sehnte sich fröstelnd nach einem warmen Pullover. Wenigstens würde es bald hell werden.

Bei dem Gedanken daran, was am Tag zuvor geschehen war, krümmte sie sich innerlich, und die Schamröte stieg ihr ins Gesicht. Am Dienstag hatte eine nette Frau von der Baptistenkirche in Catlettsburg wieder einmal ein Paket abgelegter Kleider zur Hütte gebracht. Die Sachen waren immer so sauber - sauberer als alles, was Annie besaß. Diesmal war ein hübsches Kleid dabei gewesen, das Annie tatsächlich paßte. Es war weiß mit gelben Streifen. Sie hatte sich nie viel aus ihren Kleidern gemacht, denn üblicherweise waren sie abgetragen und hingen lose an ihrem schlaksigen Körper. Das gelbgestreifte Kleid hatte vorne vom weißen Kragen bis zum Saum eine Reihe Knöpfe. An Brust und Taille saß es so perfekt, als sei es für Annie gemacht. Der Rock war weit, und die Ärmel mit den weißen Manschetten, die ebenfalls geknöpft wurden, reichten genau bis zu ihren Handgelenken.

Annie hatte beschlossen, das Kleid am nächsten Tag in der Schule zu tragen. Abends versuchte sie, sich die Haare zu waschen, aber ihre Brüder ließen sie nicht in Ruhe. Die beiden hatten keinen Schulabschluß und arbeiteten als Tellerwäscher in einem billigen Restaurant. Dienstags hatten sie ihren freien Abend, und Annie badete nie, wenn sie zu Hause waren.

Am nächsten Morgen band sie ihre Haare zu einem Pferdeschwanz. Vor ein paar Jahren hatte sie in einem Kleiderpaket ein Paar weiße Lackschuhe gefunden. Das Leder war inzwischen sehr brüchig, und die Schuhe drückten. Deshalb trug Annie sie ohne Strümpfe. Während sie bedächtig einen Knopf nach dem anderen zuknöpfte, freute sie sich über das schöne Kleid und lächelte glücklich. Ehe sie zum Schulbus ging, warf sie zögernd einen Blick in den Spiegel über dem Spülbecken. Annie fand, sie habe noch nie so hübsch ausgesehen.

Dann lief sie zur Landstraße und stieg in den Bus. Das neue Kleid, ihr großes Geheimnis, war unter der alten warmen Jacke verborgen. Aber sie stellte sich aufgeregt vor, wie die anderen reagieren würden, wenn sie das Kleid sahen, und sie dachte bereits darüber nach, was sie auf ihre Komplimente erwidern sollte.

Nachdem Annie die Jacke in ihren Spind gehängt hatte, rief Mary Lou McCasslin, das reichste und beliebteste Mädchen der Schule, das noch nie mit ihr gesprochen hatte, durch den Gang: »Wo hast du das denn her? Das ist ja mein Kleid!« Sie lachte. »Meine Mutter hat zwar gesagt, ich soll es wegwerfen, weil es zu alt ist. Aber trotzdem, Rattennest, das geht zu weit! Wie kommst du dazu, mein Kleid anzuziehen?«

Bei der Erinnerung an diese Demütigung blieb Annie stehen. »Ich gehe nie mehr zur Schule«, sagte sie laut in die Dunkelheit. Sie erschien ohnehin nicht regelmäßig zum Unterricht. Ihr Vater sorgte oft dafür, daß sie den Schulbus versäumte. Und wenn Schnee lag, konnte sie unmöglich die sechs Meilen auf der Landstraße nach Catlettsburg zu Fuß gehen. Das Lernen machte ihr Spaß, und sie war gut in der Schule, aber Annie wollte von zu Hause weg.

Sie hatte als Fünfjährige ihre Mutter verloren. Als sie zehn war, hatte ihr Vater sie brutal geschlagen und ihr dabei den Arm gebrochen. Nun schrieb man 1955; Annie war dreimal fünf Jahre alt und glaubte, es werde etwas geschehen, denn sie hatte bald wieder Geburtstag.

Beim Gehen dachte sie an das Buch, das der Klassenlehrer ihr geschenkt hatte. Er hatte Mary Lou McCasslins Bosheit im Gang gehört. Er war ein netter alter Mann, der Annie sonst nie zu beachten schien. Kurz vor dem Klingeln legte er das Buch mit der Bemerkung auf ihr Pult, sie dürfe es mit nach Hause nehmen. »Es wird dir gefallen, Annie«, sagte er. Das Buch hieß Große Erwartungen. Der Lehrer hatte noch nie jemandem ein Buch geschenkt. Annie wollte nicht noch mehr Aufmerksamkeit erregen und bedankte sich wortkarg.

Zwei Meilen entfernt ertönte das Signalhorn noch einmal. Ihr Vater saß im Signalhäuschen und wartete darauf, daß er die Weichen für die Nahverkehrszüge stellen konnte. Annie rannte, denn sie wollte unbedingt den Zug vorbeifahren sehen. Das hatte sie schon als kleines Mädchen getan; es war inzwischen eine Art Ritual.

Es war ein Stromlinienzug . Ihr Vater benutzte dieses altmodische Wort, aber Annie gefiel es. Es paßte für diesen Zug: ein glänzendes, pfeilschnelles Gefährt mit größtem Komfort und jeder erdenklichen Bequemlichkeit, mit Speisewagen, Salonwagen, Schlafwagen und Luxusabteilen. Annie kannte die Fahrpläne aller durchfahrenden Züge auswendig, solange sie denken konnte. Das hier war der George Washington. Er raste dreimal in der Woche durch die Morgendämmerung und in einen neuen Tag. Der George Washington kam aus Chicago und Cincinnati; in Ashland wurden Wagen aus Toledo und Lexington angehängt; wenige Minuten, nachdem er hier vorbeigebraust war, fuhr er von Kentucky über den Big Sandy River nach West Virginia und brachte seine privilegierten Fahrgäste in ihren luxuriösen Abteilen nach Charleston, Washington, Philadelphia und New York. Annie prägte sich immer alles genau ein, was sie durch die Fenster der Stromlinienzüge sah. Diese Bilder waren für sie wie Schnappschüsse einer Kamera. Annie dachte oft an einen Mann in einer kastanienbraunen Rauchjacke mit glatt zurückgekämmten Haaren, der eine Zigarettenspitze in der Hand hielt, und an eine nackte Frau, die in das frühe Morgenlicht blickte. Einmal hatte ein Junge in Annies Alter ihr die Zunge herausgestreckt; dann hatte sie einen Mann mit einem Schäferhund gesehen und eine Frau mit einer Halskette aus Goldmünzen. Während des Koreakriegs füllten Soldaten die luxuriösen Pullmanwagen - einer spielte für sie unhörbar Trompete. Einmal pinkelte ein ordengeschmückter Offizier von der hinteren Plattform des Salonwagens. Annie bewahrte diese Bilder in ihrer Erinnerung wie in einem Album auf.

Sie lief noch schneller, um am Gleis zu sein, wenn der Zug vorüberfuhr. »Mama, du fehlst mir schrecklich«, stieß sie heftig hervor, als sie das leise Donnern des näherkommenden George Washington hörte. »Ich schwör´ dir, Mama, irgendwann hau´ ich hier ab!«

Es begann zu schneien - Frühlingsschnee mit großen flauschigen Flocken. Ihre zwei Brüder und der Vater sagten immer, Annie sei schuld am Tod der Mutter, die sich nach Annies Geburt nie mehr erholt hatte. Aber Annie wußte noch genau, wie schlecht die drei ihre Mutter während der jahrelangen Krankheit behandelt hatten. Sie ließ sich nicht weismachen, daß sie die Ursache für ihren Tod war. Und wenn sie sich fürchtete oder wenn etwas sie verletzt...

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Autor

William Kinsolving schloß 1958 seine Ausbildung an der Yale Universität ab, studierte dann an der Londoner Akademie für Musik und Drama und wurde Schauspieler in Film- und Fernsehproduktionen. Er schrieb Drehbücher und mehrere Romane.