Hugendubel.info - Die B2B Online-Buchhandlung 

Merkliste
Die Merkliste ist leer.
Bitte warten - die Druckansicht der Seite wird vorbereitet.
Der Druckdialog öffnet sich, sobald die Seite vollständig geladen wurde.
Sollte die Druckvorschau unvollständig sein, bitte schliessen und "Erneut drucken" wählen.

Die restlose Erfassung

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
176 Seiten
Deutsch
FISCHER E-Bookserschienen am06.04.20181. Auflage
Die NS-Vernichtungspolitik wäre ohne administrative Erfassungs- und Sortiertechniken nicht möglich gewesen. Götz Aly und Karl Heinz Roth konfrontieren den Leser mit der paradoxen Erkenntnis, daß der Rückfall in die Barbarei mit den Methoden einer modernen Bürokratie vorbereitet wurde.

Götz Aly ist Historiker und Journalist. Er arbeitete für die »taz«, die »Berliner Zeitung« und als Gastprofessor. Seine Bücher werden in viele Sprachen übersetzt. 2002 erhielt er den Heinrich-Mann-Preis, 2003 den Marion-Samuel-Preis, 2012 den Ludwig-Börne-Preis. Bei S. Fischer erschienen von ihm u.a. 2011 »Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800-1933« sowie 2013 »Die Belasteten. ?Euthanasie? 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte«. Im Februar 2017 erschien seine große Studie über die europäische Geschichte von Antisemitismus und Holocaust »Europa gegen die Juden 1880-1945«. Für dieses Buch erhielt er 2018 den Geschwister-Scholl-Preis.Literaturpreise:Heinrich-Mann-Preis für Essayistik der Akademie der Künste Berlin 2002Marion-Samuel-Preis 2003Bundesverdienstkreuz am Bande 2007National Jewish Book Award, USA 2007Ludwig-Börne-Preis 2012Estrongo Nachama Preis für Zivilcourage und Toleranz 2018Geschwister-Scholl-Preis 2018
mehr
Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR15,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR12,99

Produkt

KlappentextDie NS-Vernichtungspolitik wäre ohne administrative Erfassungs- und Sortiertechniken nicht möglich gewesen. Götz Aly und Karl Heinz Roth konfrontieren den Leser mit der paradoxen Erkenntnis, daß der Rückfall in die Barbarei mit den Methoden einer modernen Bürokratie vorbereitet wurde.

Götz Aly ist Historiker und Journalist. Er arbeitete für die »taz«, die »Berliner Zeitung« und als Gastprofessor. Seine Bücher werden in viele Sprachen übersetzt. 2002 erhielt er den Heinrich-Mann-Preis, 2003 den Marion-Samuel-Preis, 2012 den Ludwig-Börne-Preis. Bei S. Fischer erschienen von ihm u.a. 2011 »Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800-1933« sowie 2013 »Die Belasteten. ?Euthanasie? 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte«. Im Februar 2017 erschien seine große Studie über die europäische Geschichte von Antisemitismus und Holocaust »Europa gegen die Juden 1880-1945«. Für dieses Buch erhielt er 2018 den Geschwister-Scholl-Preis.Literaturpreise:Heinrich-Mann-Preis für Essayistik der Akademie der Künste Berlin 2002Marion-Samuel-Preis 2003Bundesverdienstkreuz am Bande 2007National Jewish Book Award, USA 2007Ludwig-Börne-Preis 2012Estrongo Nachama Preis für Zivilcourage und Toleranz 2018Geschwister-Scholl-Preis 2018
Details
Weitere ISBN/GTIN9783104907925
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2018
Erscheinungsdatum06.04.2018
Auflage1. Auflage
Seiten176 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse3276 Kbytes
Artikel-Nr.2702104
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


Einleitung


»Abzählen! ... Rascher! Nochmals von vorne anfangen! ... Abzählen!« Diese deutsch gesprochenen Befehle eines Nazifeldwebels beherrschen die Komposition »A Survivor from Warsaw« von Arnold Schönberg. Das Melodram für »1 Sprecher, Männerchor und Orchester« wurde 1948 in den USA, wo Schönberg im Exil lebte, uraufgeführt. Die Zuhörer waren nach dem letzten Ton erstarrt, und nach Minuten des Schweigens begann das verwirrte Ensemble, das 99taktige Opus 46 zu wiederholen. Wann immer engagierte Nachkriegsdirigenten dieses Stück in die Matthäus-Passion plazierten oder an den Freudenchor der 9.Symphonie angehängt hatten, waren Pfiffe die Antwort des deutschen Publikums gewesen. »Abzählen!« Schönberg hatte die merkwürdige Genauigkeit hinter den monströsen Naziverbrechen thematisiert. Doch kaum einer hat seine Interpretationen nazistischer Sozialtechnik aufgegriffen und untersucht, wie aus Menschen »Karteiträger« wurden, wie die bürokratische Abstraktion sie entmenschlichte und in eine neue Realität überführte, die des Todes.

Dabei war es nicht die Ideologie von Blut und Boden, auch nicht das bis Ende 1944 durchgehaltene Prinzip von Kanonen und Butter, mit denen die Nationalsozialisten ihre Macht festigten und ihre Verbrechen bewerkstelligten - es waren nackte Zahlen, Lochkarten, statistische Expertisen und Kennkarten. Jede Marsch- und Arbeitskolonne existierte zunächst als Zahlenkolonne, jeder Vernichtungsaktion ging die Erfassung voraus, die Selektion an der Rampe beendete die Selektion auf dem Papier. Figuren wie Heinrich Himmler und Reinhard Heydrich sollten nicht nur als blutrünstige Führer, sondern auch als rationale Menschen erkannt und dargestellt werden, als Leute, die auf der Grundlage sehr genauer Überlegungen gehandelt haben.

Der Präsident der Deutschen Statistischen Gesellschaft, Friedrich Zahn, stellte damals fest: »Schon ihrem Wesen nach steht die Statistik der nationalsozialistischen Bewegung nahe.« Und weiter: »Die Bevölkerungspolitik erfreut sich des besonderen Staatsinteresses. Sie ist nicht mehr bloß quantitative Bevölkerungspolitik, sie hat sich zur qualitativen und psychologischen Bevölkerungspolitik entwickelt, verlangt dementsprechend von der Statistik vermehrte und vertiefte Erkenntnis, die dann mit der unserem Führer eigenen Energie in die Tat umgesetzt werden kann.«[1] Für das »deutsche Aufbauwerk«, dem die Statistik diente, waren Individualität und subjektiv widersprüchliches Handeln nur Störfaktoren. Um sie auszuschalten, galt es, möglichst weitgehend in das private und das gesellschaftliche Leben der Menschen einzudringen, es zu registrieren, nach Merkmalen aufzugliedern und Menschen nach einzelnen Merkmalen zu isolieren.

Unter Anleitung der Polizei, der Gesundheits- und Sozialverwaltung und des Statistischen Reichsamts entstand nach 1933 in wenigen Jahren ein bizarres und zugleich effizientes System verschiedener Karteien, Zählungen, Meldegesetze und Kennkarten. Es diente der restlosen Erfassung und Klassifizierung der Bevölkerung; für die als deutschblütig Klassifizierten galten 1940 vier Kategorien: hochstehend bzw. hochwertig, durchschnittlich, tragbar und tiefstehend bzw. minderwertig.

Die Volkszählungen 1933 und 1939 waren längst nicht die einzigen Erfassungsaktionen: Das Arbeitsbuch (1935), das Gesundheitsstammbuch (1936), die Meldepflicht (1938), die Volkskartei (1939) und zuletzt die Personenkennziffer (1944) waren die bürokratischen Voraussetzungen für ein abgestuftes System von Lohn und Strafe, für »Auslese« und »Ausmerze«. Mit dem Urmaterial der Volkszählung von 1939 wurde in Berlin-Dahlem die Volkstumskartei angelegt, eine Kartei aller Nichtarier im Deutschen Reich; sie enthielt Namen, Geburtstag, Geburts- und Wohnort, Beruf und Mischlingsgrad ... Das Rassenpolitische Amt der NSDAP begann seit 1934/35 in einzelnen seiner Gauämter mit dem Aufbau von »Asozialenkarteien«, 1935/36 folgte die Sonderregistrierung der Juden, Zigeuner und sonstiger »Fremdvölkischer«. Verkartet wurden seit 1934 auch die als erbkrank Angesehenen von den Gesundheitsämtern. Die Reichsstelle für Sippenforschung wurde mitsamt ihren Vorläufern zur Durchgangsstelle für den immer häufiger eingeforderten Nachweis der »Deutschblütigkeit« und »Erbgesundheit«. Seit 1936 beteiligten sich Gestapo und Kriminalpolizei immer intensiver an dem Verkartungsboom und starteten mit der »Zigeunererfassung« ein Pilotprojekt, das die Erfassung der Juden qualitativ ergänzte. All diese Einzelinitiativen speisten die zentralen Aktivitäten und radikalisierten sie.



»Karteiführer« im Erfassungswesen der SS. 1938 unterstanden dem SS-Erfassungsamt 3198 »Erfassungsstellen«, 160 »Obererfassungsstellen« und 18 »Haupterfassungsstellen«. [Bildnachweis]



Schon vor dem Krieg überschritt die nationalsozialistische Statistik die Reichsgrenzen: 1938 hatten die deutschen Statistiker die Rohstoff- und Arbeitskräftesituation in sämtlichen später besetzten osteuropäischen Ländern durchgerechnet. Im Sommer 1939 war eine Studie des 1938 aus dem Statistischen Reichsamt vorübergehend ausgegliederten Reichsamts für wehrwirtschaftliche Planung über die Stellung ethnischer Minderheiten in Polen abgeschlossen worden: die Analyse der sozialen Spannungen zwischen den einzelnen Bevölkerungsgruppen und deren alten, noch offenen Rechnungen war eine Grundlage für die spätere Besatzungsherrschaft, die durch Ausrottung ebenso gekennzeichnet ist wie durch die systematisch geförderte Kollaboration »hilfswilliger« Völker.



Unbekanntes jüdisches Mädchen mit Judenstern und Evakuierungsnummer, fertig zum Transport [Bildnachweis]



In seiner von Hitler ausdrücklich befürworteten Niederschrift »Einige Gedanken über die Behandlung der Fremdvölkischen im Osten« schreibt Himmler: »Bei der Behandlung der Fremdvölkischen im Osten müssen wir darauf sehen, so viel wie möglich einzelne Völkerschaften anzuerkennen und zu pflegen, also neben den Polen und Juden, die Ukrainer, die Weißrussen, die Goralen, die Lemken und Kaschuben. Wenn sonst noch irgendwo Volkssplitter zu finden sind, auch diese.« Die Bevölkerung des Ostens müsse in möglichst »viele Splitter zergliedert« werden, und auch die einzelnen Völkerschaften selbst seien »in unzählige kleine Splitter und Partikel aufzulösen«.2

Entsprechend wurde seit Herbst 1939 in den neu annektierten Ostgebieten jeweils mit besonderer Intensität gezählt, so am 17. Dezember 1939 in Oberschlesien und im »Warthegau«. In Prag wurde 1939 das Statistische Amt für das »Reichsprotektorat Böhmen und Mähren« geschaffen, ein Jahr später das Statistische Amt in Krakau, für den »Generalgouvernement« genannten Teil des besetzten Polens. Die Publikationsstelle in Berlin-Dahlem, die dem SD eng verbunden war und von 1943 an direkt der SS unterstand, stellte seither fortlaufend Zahlenmaterial über alle neu unterworfenen Völker zur Verfügung - für den Dienstgebrauch.

Den Zusammenhang zwischen Erfassen und gewalttätigem Unterdrücken dokumentiert ein Fernschreiben Heydrichs:


»Betr. Räumung der neuen Ostprovinzen

Auf grundsätzlichen Befehl des Reichsführers SS wird die Räumung von Polen und Juden in den neuen Ostprovinzen durch die Sicherheitspolizei durchgeführt (...) Die Räumung nach dem Fernplan erfolgt nach den Unterlagen der Volkszählung. Nach dieser besitzen alle Personen in den neuen Provinzen ein Exemplar. Das Volkszählungsformular gilt als vorläufiger Ausweis, der zum Aufenthalt berechtigt. Daher müssen vor dem Abtransport allen Personen diese Formulare abgenommen werden. Der Aufenthalt nach der Volkszählung ohne dieses Formular wird in den neuen Provinzen auf Befehl des RFSS (=Reichsführer SS, d. Verf.) mit Erschießen bedroht. Durch diese Maßnahme wird es möglich sein, die Rückkehr der ausgesiedelten Personen zu verhindern, nachdem eine wirksame Grenzkontrolle zum Gouvernement praktisch kaum voll erreichbar erscheint. Voraussichtlich wird die Volkszählung am 17.12.1939 stattfinden, so daß der große Räumungsplan erst nach diesem Zeitpunkt, also etwa ab. 1.1.1940 beginnen kann.«3


Allein aus dem »Warthegau« sollten in einem ersten Schritt über eine halbe Million Menschen in das Generalgouvernement deportiert werden. Aber nicht irgendwelche. »Für die Berechnung der Evakuierungszahlen aus den einzelnen Kreisen ist die volkstumsmäßige Gliederung, die politische Zusammensetzung und die wirtschaftlich-soziale Struktur ausschlaggebend. An Unterlagen stehen hierfür statistische Angaben (Volkszählungslisten usw.) aus deutschen und polnischen Quellen, die Ermittlungsergebnisse der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes und die Erhebungen der Landräte zur Verfügung.« SS-Sturmbannführer Rapp schloß diesen Bericht mit der Bemerkung: »Dabei bleibt zu berücksichtigen, daß es sich nicht um eine wahllose Massenabschiebung handelt, sondern ein individuell bestimmter...
mehr

Autor

Götz Aly ist Historiker und Journalist. Er arbeitete für die »taz«, die »Berliner Zeitung« und als Gastprofessor. Seine Bücher werden in viele Sprachen übersetzt. 2002 erhielt er den Heinrich-Mann-Preis, 2003 den Marion-Samuel-Preis, 2012 den Ludwig-Börne-Preis. Bei S. Fischer erschienen von ihm u.a. 2011 »Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800-1933« sowie 2013 »Die Belasteten. >Euthanasie