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Dunkle Marsch

E-BookEPUB0 - No protectionE-Book
400 Seiten
Deutsch
Emons Verlagerschienen am22.09.2016
Journalist Gero Schlüter recherchiert für eine Reportage auf dem Gut der einflussreichen Itzehoer Familie Wenckenberg - kurze Zeit später wird er vergiftet. Hatte ein Familienmitglied Grund, ihn zu töten? Welche Rolle spielt Anette, die junge Frau mit dem Down-Syndrom? Lyn Harms bringt nicht nur wohlgehütete dunkle Geheimnisse, sondern weitere ungeheuerliche Verbrechen ans Licht...

Heike Denzau, Jahrgang 1963, ist verheiratet, hat zwei Töchter und lebt in dem kleinen Störort Wewelsfleth in Schleswig-Holstein. Bei der Vergabe des Krimi-Nordica Awards 2015 erlangte sie den zweiten Platz in der Kategorie 'Story'. Ihr Kriminalroman 'Die Tote am Deich' war für den Friedrich-Glauser-Preis 2012 in der Sparte 'Debüt' nominiert.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR15,00
E-BookEPUB0 - No protectionE-Book
EUR11,99

Produkt

KlappentextJournalist Gero Schlüter recherchiert für eine Reportage auf dem Gut der einflussreichen Itzehoer Familie Wenckenberg - kurze Zeit später wird er vergiftet. Hatte ein Familienmitglied Grund, ihn zu töten? Welche Rolle spielt Anette, die junge Frau mit dem Down-Syndrom? Lyn Harms bringt nicht nur wohlgehütete dunkle Geheimnisse, sondern weitere ungeheuerliche Verbrechen ans Licht...

Heike Denzau, Jahrgang 1963, ist verheiratet, hat zwei Töchter und lebt in dem kleinen Störort Wewelsfleth in Schleswig-Holstein. Bei der Vergabe des Krimi-Nordica Awards 2015 erlangte sie den zweiten Platz in der Kategorie 'Story'. Ihr Kriminalroman 'Die Tote am Deich' war für den Friedrich-Glauser-Preis 2012 in der Sparte 'Debüt' nominiert.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783960410898
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format Hinweis0 - No protection
FormatE101
Erscheinungsjahr2016
Erscheinungsdatum22.09.2016
Seiten400 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse4091 Kbytes
Artikel-Nr.3260221
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

ZWEI

Gero Schlüter drückte sich noch fester in den Hauseingang des Mehrfamilienhauses in der Itzehoer Geschwister-Scholl-Allee, als sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite die Haustür öffnete. Er hielt den Atem an, als er sah, dass es Karen war. Er hatte gehofft, dass sie heute Abend zur Fitness gehen würde, nachdem er sie heute Mittag vor dem Büro in der Innenstadt knapp verpasst hatte.

Er entspannte sich, als er sah, dass sie allein war. Der Kroate war nicht zu sehen. Er löste sich aus dem Eingang und überquerte die Straße. Karens Schritt stockte, als sie ihn auf dem kurzen Stück Weg zu ihrem am Straßenrand geparkten Auto wahrnahm.

»Karen!« Gero verfiel in Laufschritte.

Einen Moment lang sah es aus, als wolle sie auf dem Absatz umdrehen, aber sie blieb stocksteif stehen, als er vor ihr stand und sagte: »Häschen, ich â¦ ich muss kurz mit dir reden.«

Unwillig entriss sie ihm ihren Arm, über den seine Hand zart glitt. »Verschwinde, Gero! Josip kommt jeden Moment raus. Wenn er dich hier sieht, garantiere ich für nichts.«

»Du spinnst doch. Der Wichser kommt nicht. Du gehst zum Bauch-Beine-Po-Training.« Gero lächelte. »Ich kenn doch alle deine Termine, Häschen. Ich kenne dich.«

Seine Hand zuckte vor und packte Karens Unterarm, als sie die Flucht antreten wollte. Dieses Mal gelang es ihr nicht, seine Hand zu lösen. »Lass mich endlich in Ruhe!« Ihre Stimme wurde schrill und lauter. »Wir haben nichts mehr zu bereden.«

Gero riss Karen an sich heran. Seine Lippen streiften ihre, als er flüsterte: »Der Wichser ist in Drogengeschäfte verwickelt. Er â¦ er zieht dich da mit rein. Das kann ich nicht zulassen. Er â¦«

Karens erlöstes »Josip!« kam für Gero zeitgleich mit dem Schmerz, als sich stählerne Finger von hinten um seinen Hals krallten und ihn von ihr zurückzogen. Gero kam nicht dazu, auch nur einen Laut von sich zu geben, bevor ein viel intensiverer Schmerz in seinem Bauch ihn in die Knie gehen ließ.

»Du â¦ verdammter â¦ Pisser!« Die Worte kamen mit Pausen aus dem Mund von Josip Markovic, während er Gero wieder auf die Beine zog. Zwischen den Worten rammte er seine Faust in Geros Magen. Abschließend traf Gero eine harte Rechte am linken Auge. Mit einem Aufschrei fiel er zu Boden.

»Josip, hör auf, es reicht!«, hörte Gero dumpf Karens Stimme, in der Erwartung, gleich noch einen Tritt in den Magen zu bekommen. Aber es kamen keine weiteren Schläge.

Mit Schmerztränen in den Augen rappelte Gero sich auf. Er nahm wahr, dass sich ein Ehepaar, das mit einem Hund auf dem Gehweg lief, umdrehte und schnellen Schrittes davoneilte. Von der anderen Straßenseite wurde ihnen allerdings Aufmerksamkeit zuteil.

»Brauchen Sie Hilfe?«, rief ein junger Mann, der seinen Wagen gestoppt und die Seitenscheibe heruntergelassen hatte, Gero zu. »Soll ich die Polizei rufen?«

Josip Markovic lief auf die Straße, blieb aber zwei Meter vor dem Auto stehen. »Ja, Arschloch, ruf die Polizei! Weil ein Scheiß-Ausländer mal wieder einen von euch sauberen Deutschen vermöbelt hat. Das ist doch alles, was ihr seht! Aber dass der Wichser n Scheiß-Stalker ist, das interessiert euch nicht.«

»Josip«, Karen zerrte am Arm ihres Freundes, »hör jetzt auf, bitte! Lass uns raufgehen.«

Dem Autofahrer seinen Mittelfinger zeigend, ließ Josip sich schließlich von der Straße ziehen. Gero rief er zu: »Und dich mach ich kalt, Arschloch, wenn du ihr noch mal zu nah kommst. Richtig kalt!«

Zu Hause öffnete Gero umgehend das Eisfach seines Kühlschranks, in dem außer zwei Pizzapackungen ein noch bis zur Hälfte befüllter Eiswürfelbeutel lag. Er nahm den Beutel und presste ihn auf sein pochendes Auge. Schmerzerfüllt nahm er ihn sofort wieder herunter.

»Wichser! Scheiß-Kroate«, fluchte er, während er vom Heizkörper das Geschirrhandtuch riss, das dort zum Trocknen hing. Er wickelte den Beutel hinein und drückte ihn wieder auf das Auge. Jetzt war es auszuhalten. Er trat vor den Flurspiegel und nahm die kühlende Packung kurz herunter.

»Fuck.« Die Verfärbung trat bereits ein. Das würde ein schönes Veilchen geben. Und das ausgerechnet vor dem Ball bei den Wenckenbergs. Er presste die Eiswürfel wieder auf die schmerzende Stelle, ging ins Wohnzimmer und ließ sich auf das Sofa fallen. Doch er sprang gleich wieder auf. Der Gedanke an die Wenckenbergs hatte ihm etwas in Erinnerung gerufen. Er ging zum Schreibtisch, setzte sich auf den Drehstuhl und zog mit der freien rechten Hand die Schublade auf.

»Dann wollen wir doch mal sehen, was wir da haben«, murmelte er und griff nach dem roten Büchlein aus der Hutschachtel von Klara Wenckenberg. Als er es aufschlug und die Beschriftung auf dem inneren Buchdeckel las, vergaß er einen Moment sein pochendes Auge.

Es war kein Poesiealbum. In feiner Handschrift stand dort mit Tinte geschrieben:

Besondere Tage von Klara Michels

Ab 4. Februar 1941

Auffällig war, dass das Wort »Besondere« durchgestrichen und ersetzt worden war durch das darüber geschriebene Wort »Böse«. Die Korrektur war definitiv zu einem späteren Zeitpunkt durchgeführt worden, denn die wilden Striche und das Wort »Böse« stammten von einem anderen Stift.

Ein Tagebuch! Klara hatte es zweifellos zu ihrem fünfzehnten Geburtstag bekommen, denn in acht Monaten jährte er sich zum neunzigsten Mal.

Gero schlug die erste Seite auf und las. Klara hatte sie tatsächlich an ihrem fünfzehnten Geburtstag beschrieben. Sie erwähnte ihre Freude über das Buch und den Willen, die Seiten nicht an tägliche Nebensächlichkeiten zu verschwenden, sondern nur besonders erwähnenswerte Ereignisse aufzuschreiben. Außer dem Buch hatte sie eigene - das wurde ausdrücklich erwähnt -, von der Mutter gebackene Kekse bekommen und eine neue Bluse. Endlich eine neue Bluse. Die alten Blusen spannen über dem blöden Busen. Ich hasse meinen Busen. Die Jungs starren darauf.

Gero lächelte. Pubertäre Befindlichkeiten. Die waren wohl zu allen Zeiten gleich. Auch heute gab es bestimmt Mädchen, die mit ihren körperlichen Veränderungen haderten, wenn sie begannen.

Er las zwei weitere Seiten. Anscheinend hatte Klara ihrer Schwester Rosmarie ein neues Lied beigebracht, dessen Melodie die drei Jahre Jüngere sofort behalten hatte. Zwei Blümchen mit lachenden Gesichtern hatte sie dahinter gezeichnet.

Gero schluckte, als er den nächsten Absatz las, in dem es ebenfalls um die behinderte Schwester ging. Er war zwei Wochen nach dem ersten Eintrag datiert.

Heute bin ich mit Rosmarie zum Schlachter gegangen. Da haben wir Frau Siebke getroffen. Die war mit ihrer Tochter Lene da. Die kriegt ein Kind. Frau Siebke hat sich erschrocken, als sie Rosmarie gesehen hat, und hat ihrer Tochter etwas ins Ohr geflüstert. Aber ich habe es trotzdem verstanden. »Dreh dich nicht um, Lene, die Michels Klara steht hinter uns. Mit ihrer verhexten Schwester. Guck die nicht an, hörst du! Du darfst die auf keinen Fall angucken. Du hast ein Kind im Bauch.«

Auf dem Heimweg hab ich geweint. Weil ich so traurig war und auch vor Wut auf die alte Siebke. Rosmarie ist nicht verhext! Ich hoffe, sie kriegen auch ein Idiotenkind. Dann sehen die mal, wie das ist.

Gero atmete tief durch. Das war starker Tobak. Klara hatte diese Frau für das, was sie über die geliebte Schwester gesagt hatte, gehasst. Und doch nannte sie selbst Rosmarie ein Idiotenkind.

Das spiegelte wohl eindrücklich wider, wie damals über Behinderte gedacht wurde. »Idiot« war eine gängige Bezeichnung für Menschen mit geistiger Behinderung gewesen, wie Gero wusste. Auch in Lehr- und medizinischen Fachbüchern war der Begriff Idiotie gebraucht worden.

Bei seinen Recherchen zu Rosmarie war ihm so manches Mal eine Gänsehaut über die Arme gelaufen. Schon vor 1920 war die Saat gelegt worden, die die Nationalsozialisten Jahre später zu ungeheuerlichen Auswüchsen getrieben hatten. Die geistig Behinderten waren für lebensunwert, zu Ballastexistenzen erklärt worden. Eine Gesellschaft der Elite hatten die Anhänger der Eugenik schaffen wollen. Ärzte und Biologen hatten gehofft, Einfluss auf die Fortpflanzung der Menschen nehmen zu können. Die Kranken und Behinderten, die »rassisch Minderwertigen«, sollten ausgemerzt werden, während die »Hochwertigen« viele Kinder bekommen sollten.

Mit Tränen in den Augen hatte Gero damals das Recherchebuch zugeklappt. Leon, sein geliebter, fröhlicher Leon, sollte ein unwertes Leben haben? Sollte ein Parasit sein? Gero betete nicht oft. Eigentlich nie. Aber nach der Recherche hatte er Gott ausdrücklich dafür gedankt, dass Leon in der heutigen Zeit aufwachsen durfte.

Die andere Hand weiterhin auf das schmerzende Auge gepresst, sah er aus dem Fenster in den langsam dunkler werdenden Himmel. Klara war nicht immer die wohlhabende Wenckenberg-Matriarchin gewesen, sondern ein junges Mädchen aus einem weiß Gott nicht vermögenden Elternhaus in Cuxhaven. Ein Mädchen, das damals nicht gewusst hatte, wie ihre Zukunft aussah. Ein Mädchen mit den Sorgen und Problemen aller Jugendlicher ihrer Zeit. Ein Mädchen mit Wünschen und Träumen.

Gero knipste die Schreibtischlampe an, um weiterzulesen. Eine Seite war einer Erkrankung der Mutter gewidmet. Das schien Klara belastet zu haben. Und doch, da war sich Gero sicher, spiegelte dieser kurze Eintrag kaum wider, was sich wirklich in Klara abgespielt hatte. Sie hatte ihren eigenen Gefühlen wenig Raum in diesem Buch...
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