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Manierismus in der Literatur

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
355 Seiten
Deutsch
hockebookserschienen am31.08.2016Überarbeitete Neuausgabe
Märchen, Traum- und Zauberwelten, Horror, Wahnsinn und das Abstruse ... Phantastische Kunst und Literatur ist keine Erfindung unserer Zeit: Es gibt sie, seitdem Menschen künstlerisch tätig sind. In seinem originellen und atemberaubenden Streifzug durch die Kunst- und Literaturgeschichte Europas legt Gustav René Hocke anhand seines beeindruckenden Wissens den kulturgeschichtlichen Strang der Phantastik oder des Manierismus frei, der sich von der Antike bis in unsere heutige Zeit wie ein Roter Faden durch alle Epochen europäischer Kunstgeschichte zieht, bis er in unserer Zeit zu einer dominierenden Kunstform aufblüht. Mit »Manierismus in der Literatur« ist das zweite der vier zentralen Werke von Gustav René Hocke zur europäischen Geschichte der Phantastik nun erstmals als E-Book erhältlich.mehr

Produkt

KlappentextMärchen, Traum- und Zauberwelten, Horror, Wahnsinn und das Abstruse ... Phantastische Kunst und Literatur ist keine Erfindung unserer Zeit: Es gibt sie, seitdem Menschen künstlerisch tätig sind. In seinem originellen und atemberaubenden Streifzug durch die Kunst- und Literaturgeschichte Europas legt Gustav René Hocke anhand seines beeindruckenden Wissens den kulturgeschichtlichen Strang der Phantastik oder des Manierismus frei, der sich von der Antike bis in unsere heutige Zeit wie ein Roter Faden durch alle Epochen europäischer Kunstgeschichte zieht, bis er in unserer Zeit zu einer dominierenden Kunstform aufblüht. Mit »Manierismus in der Literatur« ist das zweite der vier zentralen Werke von Gustav René Hocke zur europäischen Geschichte der Phantastik nun erstmals als E-Book erhältlich.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783957511195
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2016
Erscheinungsdatum31.08.2016
AuflageÜberarbeitete Neuausgabe
Seiten355 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse3444 Kbytes
Artikel-Nr.3265278
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe
2.
Sprachliches Doppelleben
»Ehrliche Verstellung«
Künstlichkeiten dieser Art dienen einem verbergenden Esoterismus, genauso wie die damals so geschätzte Hieroglyphik und Emblematik. Buchstaben-Kombinationen werden in den verschiedenen Formen des literarischen Manierismus im Europa des 17. Jahrhunderts (in Spanien Conceptualismo, Cultismo und Gongorismo, in England Euphuism, in Italien Marinismo, in Frankreich Préciosité, in Deutschland »Vernunft-Kunst«)[42] auch zu Methoden, um eine doppelte sprachliche Schicht zu erzeugen, einen sprachlichen Doppelsinn, eine sprachliche Ver-Stellung. Zum Lebensstil der Epoche gehört die so vielfach angepriesene Verstellung des persönlichen Verhaltens. Man lebt auf zwei Ebenen, einer intim-persönlichen und einer öffentlich-gesellschaftlichen. Diese auch charakterliche Esoterik und Exoterik bilden ein Grundthema im Handorakel von Gracián. Ein italienischer Dichter, Torquato Accetto, schrieb 1641 eine Schrift über die »Dissimulazione onesta«, die ehrliche Verstellung.[43] Gepriesen wird die Kunst der Verstellung. Man soll »änigmatisch« sein und »hintergründig«. Ja, die Schönheit ist nach Torquato Accetto nichts anderes als eine »liebenswürdige Verstellung« (Tutto il bello non è altro che una gentil dissimulazione).[44] Gracián erkennt Góngora, der neben Shakespeare und John Donne auch für uns noch der größte Lyriker des 17. Jahrhunderts ist, als Meister an, weil er »con mudar alguna letra«, mit der Umstellung einiger Buchstaben höchste Wirkungen erziele.[45] Durch die Verstellung von Buchstaben könne man vor allem rätselhafte »correspondencias«, Entsprechungen, erzeugen. Sogar theologische Mysterien würden uns auf diese Weise erschlossen. So wird aus »Dios« (Gott) »Di« »os« (Gib uns) z. B. das Leben, das Sein usw.[46] Es entstehen auf diese Weise geistvolle Zweideutigkeiten (»Equivocos ingeniosos«)[47]. Wortlabyrinthe sind somit nicht nur Ausdruck einer höchsten Subtilität. Sie dienen auch einer Verschlüsselung der Welt.
Geheimbotschaften
In den Tragödien und Komödien Shakespeares wimmelt es nicht nur von Wortspielen. Durch Buchstaben-Kombinationen und geheime Wortentsprechungen soll es darin ganze »Geheimbotschaften« geben. Man bemüht sich seit vielen Jahren um ihre Entzifferung. Bis 1950 sind darüber Hunderte von Büchern erschienen. Man hat aus solchen Chiffren vor allem herauslesen wollen, dass Bacon sich als Verfasser einzelner Stücke enthüllt. Vor Kurzem ist über diese chiffrierten Geheimbotschaften im Werke Shakespeares ein neues scharfsinniges Werk erschienen.[48]

Es gibt eine europäische Kryptologie und Aenigmatologie am Rande der Literatur, aber auf die Literatur stärker einwirkend als der Nicht-Adept glaubt.[49] Die »Geheim«-Schriften stehen besonders im 16. und 17. Jahrhundert in hoher Blüte. Leonardo ist auch hier der unerreichte Ahnherr. Reuchlin hat eine Geheimschrift entworfen. Galilei schrieb an Kepler chiffrierte Briefe über seine Entdeckungen. Von Trittenheim gibt es eine »Polygraphia« mit »Clavis«. Meist handelt es sich um Buchstaben-Kryptogramme, d. h. jeder Buchstabe kann mit einem anderen vertauscht werden. Das berühmteste Chiffre-System hat Lord Francis Bacon entwickelt.[50] Dazu gehört schon ein »Alphabet mit zwei Buchstaben«. Bacon erläuterte sein System mit folgenden Worten: »Die Chiffre hat die Eigenschaft, dass durch sie irgendetwas als irgendetwas bezeichnet werden kann.« Hier findet man zumindest einen Schlüssel für die Mentalität Hamlets, für die Vertauschbarkeit von Leben und Spiel, von Traum und Wirklichkeit ⦠im »Schnittpunkt« der »Phantasie«. Athanasius Kircher schuf die erste praktisch brauchbare Code-Schrift in seiner »Polygraphia nova et universalis« (Rom 1663), einem der heute am meisten gesuchten Bücher dieses unerschöpflichen deutschen Jesuiten. Ein Lehrbuch der Kryptografie schrieb (1665) ein anderer deutscher Jesuit, Gaspar Schott, die »Schola Stenographica«.

Novalis fragt: »Sollten ⦠die Kräfte die Verba ⦠Dechiffrierungskunst sein?«[51] Im 20. Jahrhundert entwirft Karl Jaspers seine Philosophie als ein System zum Lesen der »metaphysischen Chiffre-Schrift«.[52] Das Lesen von Poesie wurde schon früh zu einer Dechiffrierungskunst. Die Tendenz des Versteckens und Verbergens kann in extrem verspielten Fällen sogar zur »Poesie« des Rebus-Rätsels führen, wie in den »Sonetti figurati« von G. B. Palatino.[53]
Buchstaben-Zauberer
Arthur Rimbaud hat eine »Alchimie du Verbe« geschrieben und in einem Gedicht »Voyelles« die Farben der Vokale (z. B. A noir, E blanc usw.) durch Farben charakterisiert. In seiner »Alchimie du Verbe« schreibt er: »Je notais l inexprimable« (Ich schrieb das Unaussprechbare nieder). »Ich erklärte meine magischen Sophismen mit der Halluzination der Wörter.«[54] Mallarmé hat den Dichter einen »Buchstabenzauberer« genannt und in einem Brief die »Alchimisten« als »Vorfahren« bezeichnet.[55] Kennzeichnungen von Buchstaben durch Farben findet man schon in alten tibetanischen Sekten. Über Buchstaben-Magie haben neben vielen anderen zeitgenössischen Autoren auch Jünger und Benn geschrieben. »Wenn Sie in Zukunft auf ein Gedicht stoßen«, empfiehlt Gottfried Benn, »nehmen Sie bitte einen Bleistift wie beim Kreuzworträtsel.« Der Dichter »besitzt einen Ariadnefaden«. Jeder Mensch hat ein besonderes Sensorium, »es gilt der Chiffre, ihrem gedruckten Bild, der schwarzen Letter, nur ihr allein«.[56] Der Erfinder des heutigen »Lettrisme«, Isidore Isoù (geb. 1925 in Rumänien), schreibt in einem Traktat: »Die Zentralidee des Lettrisme geht davon aus, dass es im Geiste nichts gibt, was nicht Buchstabe ist oder Buchstabe werden kann.«[57]

Die Traktatisten des literarischen Manierismus im 17. Jahrhundert empfehlen als besonders wirkungsvolle »maniera« ausdrücklich die künstliche Buchstaben- und Wortverbindung. Nichts darf einfach sein, schreibt Matteo Peregrini in seinem Traktat »Delle Acutezze« (1639), sondern es muss auf das »grandemente raro« geachtet werden, auf das höchst Seltene[58]. Concettistisches Schreiben heißt über »maniere di legamento« verfügen.[59] »Schöne Dinge werden gemacht.« Gottfried Benn schreibt: »Ein Gedicht wird gemacht.« Manieristisches Dichten heißt souveräne Beherrschung einer sprachlichen Verbindungskunst, ein wissendes, geistig bestimmtes Dichten. Daher wird Dichtkunst für Paul Valéry eine »fête de l intellect«, eine Feier des Geistes.

Dichten hat im 17. Jahrhundert vielfach wenig mehr mit dem klassischen Mit-teilen zu tun. Dichten heißt in erster Linie ästhetisches Wirken durch sprachliche Kombinationen. Das ist eine weitere entscheidende Feststellung für den gesamten europäischen Manierismus, vom antiken »Phantasiai-Asianismus«, von der spätrömischen Literatur, von der spätmittelalterlichen Dichtung über die Epoche Góngoras, Marinos, Donnes, Shakespeares, Harsdörffers, der zweiten schlesischen Dichterschule bis zur romanischen und germanischen Frühromantik, zur »antiklassischen« und »anti-idyllischen« Lyrik von 1880 bis heute.[60] Das Mittel der Mitteilung, die Sprache, der Buchstabe, das Wort, die Metapher, der Satz, die Periode, die lyrische Sinnfigur (concetto) werden autonom. Es wird auf ihren ursprünglichen Funktionswert verzichtet. Novalis: »Die Kraft ist der unendliche Vokal, der Stoff der Konsonant.« »Es können Augenblicke kommen, wo ABC-Bücher ⦠uns poetisch erscheinen.«

Das bewusste Hantieren mit »rein äußerlichen« Buchstaben-Kombinationen beobachtend, sind wir schon auf den Drang zur Verschlüsselung, Verdunkelung, Verstellung gestoßen. Wir fanden eine Grundtendenz: das bewusste, wissende, »machende« Dichten. Wir begegnen schon am Ende dieser Motivkette weiteren Elementen.
Virtuosität und Extremismus
Bewusstes Hantieren? Absichtliche Verschlüsselung! Es gibt auch eine andere Maniera, ja, eine artifizielle Manía der klanglichen Beziehungen im Sprachlichen. Der Kryptografie entspricht eine Art lyrisch-verblüffender Phono-Graphie. Einer unserer maßgebenden Literaturtheoretiker des 17. Jahrhunderts, Emanuele Tesauro, hat in seinem »Aristotelischen Fernrohr«[61] eine regelrechte Buchstaben-Ästhetik, ein phonetisches Instrumentarium für manieristische Virtuosen geschrieben.[62] Die Tonqualität aller Vokale und Konsonanten wird genau bezeichnet, klangmalerische Wirkungen, d. h. »Sympathien« und »Antipathien«, die zwischen Lauten bestehen, werden beschrieben, wirkungsvolle Klang-»Konkordanzen« und »Dissonanzen« empfohlen. Seitenlang werden alle erdenklichen »maniere« dargestellt. Das geht bis zum onomatopoetischen Extremismus einer puren Buchstabenlyrik, sozusagen eines Lettrisme avant la lettre. So preist Tesauro die »metrischen Noten« seines Zeitgenossen Mario Bettini, dessen Nachtigall-Gedicht, nach welchem man nicht mehr wisse, ob dieser Vogel ein Dichter sei oder der Dichter ein »rosignuolo«. Die von Tesauro zitierten Verse Bettinis lauten:

 

»Quitó, quitó, quitó, quitó
quitó, quitó, quitó, quitó,
zízízízízízízízí
quoror tiú zquá pipiquè.«[63]

Das ist liebenswürdiger Extremismus, virtuoses Gesellschaftsspiel, oft nachgeahmt von den Nürnberger...
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