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Im Schatten des Leviathan

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
933 Seiten
Deutsch
hockebookserschienen am01.04.2023Überarbeitete Neuausgabe
Die Lebenserinnerungen von Gustav René Hocke (1908-1984) sind ein besonderer Genuss nicht nur für Literatur- und Kunsthistoriker - spannend wie ein Roman schildert »Im Schatten des Leviathan« die Etappen seines wechselvollen Lebens. Die Kindheit in Brüssel, die Gräuel des Ersten Weltkriegs, die Jahre des Studiums in Berlin, Bonn und zuletzt Paris, in denen die Grundlage für seine tiefe humanistische Bildung gesetzt wird. Der Einstieg in die journalistische Karriere, die ihn in sein Traumland Italien versetzt, dann der Horror des Nazi-Faschismus und des Zweiten Weltkrieges, der ihn in ein Kriegsgefangenenlager in den USA verschlägt. Ein Neustart ins Leben kommt Anfang der 50er Jahre, als er in Rom seine Karriere als Auslandskorrespondent wieder aufnimmt, seine Tätigkeit als Schriftsteller weiterentwickelt und eine neue Familie gründet. Rom und Umgebung werden ihm von da an und bis zu seinem Lebensende zur Heimat. Fundamental bleibt in seinem Schaffen lebenslänglich die Idee einer liberalen und auf humanistischen Werten gegründeten Gesellschaft als einzige Möglichkeit, sich dem »Leviathan«, d. h. der Allmacht des Staates, zu widersetzen. Unzählige Personen begegnen ihm auf seinem Lebensweg: bekannte Schriftsteller, Künstler, prominente Politiker, Geistliche, sogar der Papst persönlich. Die daran gebundenen Erinnerungen fügen sich wie Mosaiksteine zu einem Gesamtbild zusammen: Ein wesentlicher Teil des 20. Jahrhunderts wird durch ihn als kritischen und warnenden Beobachter wieder lebendig.mehr

Produkt

KlappentextDie Lebenserinnerungen von Gustav René Hocke (1908-1984) sind ein besonderer Genuss nicht nur für Literatur- und Kunsthistoriker - spannend wie ein Roman schildert »Im Schatten des Leviathan« die Etappen seines wechselvollen Lebens. Die Kindheit in Brüssel, die Gräuel des Ersten Weltkriegs, die Jahre des Studiums in Berlin, Bonn und zuletzt Paris, in denen die Grundlage für seine tiefe humanistische Bildung gesetzt wird. Der Einstieg in die journalistische Karriere, die ihn in sein Traumland Italien versetzt, dann der Horror des Nazi-Faschismus und des Zweiten Weltkrieges, der ihn in ein Kriegsgefangenenlager in den USA verschlägt. Ein Neustart ins Leben kommt Anfang der 50er Jahre, als er in Rom seine Karriere als Auslandskorrespondent wieder aufnimmt, seine Tätigkeit als Schriftsteller weiterentwickelt und eine neue Familie gründet. Rom und Umgebung werden ihm von da an und bis zu seinem Lebensende zur Heimat. Fundamental bleibt in seinem Schaffen lebenslänglich die Idee einer liberalen und auf humanistischen Werten gegründeten Gesellschaft als einzige Möglichkeit, sich dem »Leviathan«, d. h. der Allmacht des Staates, zu widersetzen. Unzählige Personen begegnen ihm auf seinem Lebensweg: bekannte Schriftsteller, Künstler, prominente Politiker, Geistliche, sogar der Papst persönlich. Die daran gebundenen Erinnerungen fügen sich wie Mosaiksteine zu einem Gesamtbild zusammen: Ein wesentlicher Teil des 20. Jahrhunderts wird durch ihn als kritischen und warnenden Beobachter wieder lebendig.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783957513397
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2023
Erscheinungsdatum01.04.2023
AuflageÜberarbeitete Neuausgabe
Seiten933 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse2674 Kbytes
Artikel-Nr.11377340
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe

I. ERSTE KINDHEIT

Idyll im Atelier - Feuer über Brüssel
1908 bis 1918

Anno Domini 1908 war Brüssel eine blühende Handelsstadt, Mittelpunkt eines bereits umstrittenen Kolonialreichs, vielsprachiges Zentrum eines behaglichen, vor allem kulinarischen Glücks. Das Zentrum wetteiferte, was Theater, Restaurants und Dancings angeht, mit der prächtigeren Ville lumière, mit Paris. Doch zogen manche Deutsche und Engländer die kleinere Kapitale des erst 1830 entstandenen belgischen Einheitsstaates vor. Auch geistige Anregungen gab es, was auch Baudelaire über das Brüssel seiner Zeit gesagt haben mochte. Die Oper, an der Place de la Monnaie, unweit der berühmten spätgotischen Grand Place und der Börse, im pseudo-griechischen Stil gebaut, erhielt auch internationales Lob. Manche Dichter, wie Verhaeren, waren weit über die Grenzen des kleinen Landes hinaus bekannt. Der deutsche Schriftsteller Wilhelm Hausenstein schrieb einmal, dass Brüssel, ein mixtum compositum von französischer Eleganz, flämischer Vitalität und wallonischem Scharfsinn, einem surrealistischen Gebilde gleiche, einem objet surrealiste; »hier ist ein Zirkel quadriert; hier ist eine Dialektik gelungen.«1

Als ich dort, sonntags um 12 Uhr, beim Glockenklang, am 1. März 1908 im Zeichen der Fische und mit dem Aszendenten in den Zwillingen geboren wurde, konnte ich natürlich nicht ahnen, dass diese inzwischen zum Teil arg verbaute Stadt, nach tragischen Wirrsalen unter den Völkern Europas, die provisorische Hauptstadt eines vorerst nur wirtschaftlich geeinten Europa werden sollte. Doch klang der europäische Akkord schon bei meiner Geburt mit.

Mein Vater Josef Hocke war ein deutscher Kaufmann und Kunsthandwerker (in Ledersachen)2. Er stammte aus Viersen (Rheinland), doch war sein Vater zu Leitmeritz in Böhmen geboren worden. Meine Mutter3 war die Tochter des belgischen Hofmalers Gustave de Nève4, dessen Großvater wiederum Franzose gewesen war. Meine Großmutter mütterlicherseits stammte aber aus Trier, wo sie, gegenüber der römischen Porta Nigra, als Tochter eines Bäckermeisters das Licht der Welt erblickt hatte5. Der Bruder meiner Mutter, Émile, war ein erfolgreicher Architekt. Er gehörte zu den Frankophonen Brüssels, wie auch mein Großvater. Flämisch sprach man aber auch. Der damaligen französischen Schicht Brüssels waren »völkische« Probleme noch fremd. Man lebte und dachte gleichsam auf natürliche Weise europäisch. Außer französisch sprachen viele auch deutsch und englisch. Literatur und Bücher kannten keine Grenzen. Die großväterliche Familie war auf die Oberstadt ausgerichtet, auf die Rue Royale, die Rue Ducale und die Rue du Trône. Dort herrschten ein sanfter Klassizismus und, wie Wilhelm Hausenstein in seinem geistreichen Essay über Brüssel schrieb, »stille und schlichte Noblesse« vor. »Es überwogen Takt und Mäßigung«6. Doch hatte mein Großvater, als Maler, seine Fühler auch stets nach der eher flämischen Unterstadt ausgestreckt, nach einer elementar widersprüchlichen Welt des Absurden, von der Hausenstein schreibt, es sei »nirgends in so beirrender Art zu Hause wie in Brüssel«. Und er fügte hinzu: »Brüssel ist auf das Chimärische objektiv angewiesen; es gehört zu der Lebensordnung, die Belgien, die Brüssel heißt; es gehört metaphysisch zu dieser Welt, zu dieser Stadt.7« So wuchs ich, gleichsam ab ovo in einer dramatischen Dialektik von Klassik und Manierismus auf. Ich lernte früh sehen und verstehen: gerade das Abstruse, das kühn Zusammengesetzte, das Gesetz in anscheinender Willkür.

Die ersten fünf Lebensjahre lebte ich in angenehmen wirtschaftlichen Umständen. Mein Vater hatte ein geräumiges Geschäft für Lederwaren an einem der Haupt-Boulevards von Brüssel. Es ging ihm vorzüglich, denn er hatte einige eigene Patente gut verkaufen können. Bald kamen aber die ersten wirtschaftlichen Rückschläge, die nur noch wenige Auslandsdeutsche verschonten. Im Jahre 1913 musste er das allzu prunkvolle Geschäft schließen. Wir zogen in eine bescheidene Wohnung von Alt-Brüssel. Mein Vater kehrte zu seinem geschickten Kürschner-Handwerk zurück. An diese Lebensumstände erinnere ich mich noch aus besonderem Grunde.

Mein Vater hatte als Dragoner in Darmstadt gedient. Nationalist war er gewiss nicht, doch hatte er eine Schwäche für ebenso farbenreiches wie zuverlässiges militärisches Wesen. Das verleitete ihn dazu, mir und meinem ein Jahr jüngeren Bruder Willy8 aus Deutschland Spielzeug-Uniformen (mit Pickelhauben) schicken zu lassen. Derart verkleidet, wurden wir im Sommer 1914, als die Kriegswolken immer düsterer wurden, zum Spielen auf einen Platz in der Nähe unserer Wohnung geschickt. Kein Wunder, dass die besonders lebhaften gamins9 von Brüssel uns immer aggressiver als sales boches10 beschimpften. Wir reagierten mit dem für sie doppelten Schimpfwort »dreckige Franzosen«. So brach der entsetzliche Krieg von 1914 schon vor seinem Ausbruch zwischen uns und unseren Spielgefährten aus.

Generalmobilmachung Anfang August 1914! An diesen Tag erinnere ich mich heute noch, als sei er gestern gewesen. Mein Vater packte seinen Koffer, um sich in Köln zu melden, wo er sofort eingezogen und als Artillerist an die Front geschickt wurde. Weinend sammelte meine Mutter unsere Habseligkeiten und floh - durch das höchst erregte Zentrum - mit uns zu ihren Eltern in den Vorort Schaarbeek, in die Rue Josse Impens 103, in der Nähe der Place des Bienfaiteurs und des Parc Josaphat.

Dort hatte mein Großvater Gustave de Nève ein stattliches Haus. Die obere Etage nahm sein Maler-Atelier, sechs Meter hoch, ein. In dieser Umwelt habe ich die zweite Stufe meiner Kindheit erlebt: unter dem Geruch von frisch geöffneten Farbtuben, von Fresken und Tafelbildern, unter dem herben Duft eben zugespitzter Bleistifte, im Anblick mancher malerischer Werke in progress und vieler Bücher in verstaubten Regalen. Mein Großvater war, so könnte man sagen, ein Schüler, zumindest ein Anhänger Courbets, doch mehr noch des holländischen Realismus. Er stellte sich nicht als ein »großer Meister« vor, doch war seine handwerkliche Technik verblüffend. Gerade das bewunderte ich damals am meisten - wie die Handfertigkeiten meines Vaters.

Doch dieses zweite Idyll wurde schlimm gestört. Nach dem Ausbruch des Krieges kam es auch über Brüssel zu den ersten Luftkämpfen. Eines Abends saßen wir alle, mein Großvater, meine Großmutter, meine Mutter, mein Bruder Willy und ich, verängstigt im Garten, als plötzlich ein gewaltiger Feuerschein den Himmel erleuchtete. Ein deutscher Zeppelin war abgeschossen worden. Unsere Umwelt sah plötzlich teuflisch aus. So hatte ich schon 1914, sechs Jahre alt, meine erste Begegnung mit dem moralisch blinden Leviathan.

***

Kurz danach zogen deutsche Truppen in Brüssel ein. Mein Großvater, ein liberaler Pazifist, der auf die »Preußen« nicht gut zu sprechen war, wurde kreidebleich, als er es erfuhr. Doch wollte er bei diesem Einmarsch dabei sein, und er nahm auch mich mit, weil ich - wahrscheinlich - diesen allerdings schändlichen Einbruch in ein kleines, wehrloses und neutrales Land nie vergessen sollte. Wie hätte ich dieses Erlebnis unterdrücken können, nachdem es bald danach ein zweites Mal geschah! Inzwischen war der Bruder meiner Mutter, Émile, auch Frontkämpfer in der belgischen Armee, während mein Vater, wie gesagt, auf deutscher Seite irgendwo Mordgeräte des kaiserlichen Heeres zu bedienen hatte. Für ein Kind schwer zu verstehen!

So standen mein Großvater und ich also am Ende der Landstraße Löwen-Brüssel und sahen uns den allzu leichten triumphalen Einzug deutscher Truppen in meine französisch-flandrisch-wallonisch-deutsche Heimat an. Ein Herr sprach meinen Großvater an und fragte ihn nach der Zeit. Er antwortete, die Deutschen würden von Minute zu Minute erwartet. Großvater stieß für mich unverständliche Laute aus. Er schwankte. Ich stützte ihn, auch wenn er damals noch jung war.

Dann trafen die Eindringlinge endlich ein: Kürassiere mit bewimpelten Lanzen auf den Steigbügeln. Forsche Männer, blendende Uniformen, hohe glänzende schwarze Stiefel. Sie blickten stolz auf die feindselige Menge hinab. Ich dachte: »So muss Vater jetzt aussehen.« Da scheute plötzlich ein Pferd. Die Zuschauer verloren die Fassung. Ich wurde zu Boden geschleudert. Mein Großvater rettete mich vor dem Getrampel weiterer aus der Reihe springender Pferde und trug mich, da ich fast bewusstlos war, nach Hause zurück.

***

Nun, es wurde bald friedlicher, weil Belgien zu einem Etappengebiet geworden war. Mein Vater hatte auf die »Deutsch-Angehörigkeit« meiner Mutter bestanden, und da sie ihn liebte, sagte sie ihm ein entsprechendes Verhalten zu. Sie wurde im Brüsseler Hauptpostamt in der Zensurbehörde für Briefe angestellt. Mein Bruder und ich wurden der Deutschen Schule in Brüssel anvertraut, die, früher einmal von guter Art, jetzt in jedes Fach, auch in die bürgerlichen Rechnungsarten, Lobeshymnen auf den großen »Feldherrn« Wilhelm II. einschmuggelte. Doch gab es ein paar Lehrer, die auf geradezu magische Art und Weise deutsche Gedichte und Märchen vortragen konnten. Ich verliebte mich, trotz dieser für mich noch nicht ganz verständlichen Ereignisse, in die deutsche Sprache. Sie klang mir wohler und tiefer als das Französische, das wir zu Hause fast nur redeten. Die deutsche Sprache kam mir vor wie ein außerordentlich verflochtenes Traumgebilde, wie rätselhafte Musik, wie Grundtöne aus den Welten der Märchen; trotz allem Bangen, trotz allem Zorn.

Doch konnte auch...
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