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Tau und Gras

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
160 Seiten
Deutsch
Unionsverlagerschienen am06.11.20151. Auflage
Galsan Tschinag erzählt hier die Geschichten, die der Stoff seiner Kindheit sind und die sich in seine Erinnerung eingegraben haben. Geschichten von seiner weitverzweigten Familie, von Festen, Heimsuchungen, Krieg und Liebe. Geträumte Wirklichkeit und als Realität erlebte Märchen verbinden sich und münden in einen Gesang an den Altai.

Galsan Tschinag, geboren 26.12.1943 in der Westmongolei, ist Stammesoberhaupt der turksprachigen Tuwa. Von 1962 bis 1968 studierte er Germanistik in Leipzig, seither schreibt er viele seiner Werke auf Deutsch. Er lebt den größten Teil des Jahres in der Landeshauptstadt Ulaanbaatar und verbringt die restlichen Monate abwechselnd als Nomade in seiner Sippe im Altai und auf Lesereisen im Ausland. Galsan Tschinag wurde mit vielen Auszeichnungen, darunter das Bundesverdienstkreuz, geehrt.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR11,95
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR9,99

Produkt

KlappentextGalsan Tschinag erzählt hier die Geschichten, die der Stoff seiner Kindheit sind und die sich in seine Erinnerung eingegraben haben. Geschichten von seiner weitverzweigten Familie, von Festen, Heimsuchungen, Krieg und Liebe. Geträumte Wirklichkeit und als Realität erlebte Märchen verbinden sich und münden in einen Gesang an den Altai.

Galsan Tschinag, geboren 26.12.1943 in der Westmongolei, ist Stammesoberhaupt der turksprachigen Tuwa. Von 1962 bis 1968 studierte er Germanistik in Leipzig, seither schreibt er viele seiner Werke auf Deutsch. Er lebt den größten Teil des Jahres in der Landeshauptstadt Ulaanbaatar und verbringt die restlichen Monate abwechselnd als Nomade in seiner Sippe im Altai und auf Lesereisen im Ausland. Galsan Tschinag wurde mit vielen Auszeichnungen, darunter das Bundesverdienstkreuz, geehrt.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783293303522
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2015
Erscheinungsdatum06.11.2015
Auflage1. Auflage
Seiten160 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse3357 Kbytes
Artikel-Nr.3421040
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe



Mein Onkel S.


Mein Onkel S. entstammte der reichsten Familie im Tuwa-Lande. Er war deren jüngster Sohn und daher ordentlich verhätschelt. Mit dreizehn noch bekam er von den Eltern das Gesicht gewaschen und die Nase geputzt, da er es von selbst nicht tat. Mit vierzehn tat es ihm ein um zwei Jahre älteres Mädchen sehr an. Die Erwachsenen mussten ihm die frühe Heirat gestatten, da er sonst am Ende womöglich noch Wälder gebrandschatzt und Seen vergiftet hätte, so verwirrt war der.

Als er dann verheiratet war, fand man ihn oft am Herd eingeschlafen. Die Frau musste ihn ausziehen und ins Bett schaffen. Ein Jahr später hieß es: »Hat die Welt je so etwas gesehen! Der hat dem Neugeborenen den Kopf mit Ruß beschmiert, da es ihm ohne Haar zu hässlich vorkam!«

Immer wieder gaben ihm seine Eltern Vieh, aber es dauerte nicht lange, und er war von neuem in aller Munde: »Der schleppt sich schon wieder am Stock. Eine Schande für die Eltern. Man wird es wohl noch erleben, dass ihm die Kinder zu Hause verhungern!«

Onkel S. wurde immer ärmer, aber seine Kinder - er hatte deren vierzehn - verhungerten auch dann nicht, als ihm die reichen Eltern nicht mehr reichlich gaben und er ihr letztes Pferd in den Schlamm getrieben hatte.

Eine Zeit lang ernährte der Onkel sich und die Kinderschar mitsamt der gebärfreudigen Frau auf einem sehr direkten Wege: Er nahm den Mitmenschen das Vieh und sonstige Besitztümer einfach weg. Machte man ihm dann Vorwürfe, prustete er sich auf. »Leben wir denn immer noch im Feudalismus? Es steht geschrieben, dass jegliche Reichtümer ohne Unterschied allen Menschen gehören!«

Viele stockten zunächst. Als man dann doch dahinter kam, dass es mit den neuen Gesetzen nicht ganz so großzügig stand, drohte dem Täter ein Gerichtsverfahren. Da band er ein paar aus der Fressmeute an einen langen Strick und machte sich mit ihnen auf den Weg zu den höheren Stellen. Bei diesem Anblick des Elends hielten die Leute die Zungen im Zaum, obwohl sie ihnen juckten, und manch einer machte sogar ein Schäfchen oder ein Kälbchen am Strick fest.

Später verlegte sich der Onkel auf den Handel, und hier erwies er sich als echter Könner. Es begann mit einem altersschwachen Gaul, den ein Vorbeireisender zurückgelassen hatte und keiner haben wollte. Onkel S. goss ihm einen ganzen Eimer Milchbranntwein in die Nüstern, sodass er anfing wie wahnsinnig zu tänzeln, und begab sich an eine Wegkreuzung, wo Menschen aus nah und fern vorbeizogen. Am Abend kehrte er mit einer tragenden Stute und einem Gewehr zurück. Wenige Tage darauf fohlte die Stute und Onkels Sattel prangte auf dem Rücken eines jungen fetten Wallachs, den er gegen das alte Gewehr eingetauscht hatte.

Diese Geschichte muss dann reichlich ausgeschmückt weitererzählt worden sein. Einmal kehrte ein Kasache in unserer Jurte ein, dem man schon am Gesicht ansah, dass er der Teufel in Person war. Dieser Teufel stellte sich als Keles vor, was unseren Vater erschrocken zurückfahren ließ. Den Namen kannte man. Es handelte sich hier um den listigsten Händler, den schamlosesten Betrüger - Dieb, Schurke, Hochstapler in einer Haut. Nun war er gekommen, um Onkel S. kennen zu lernen, weil er gehört hatte, dass sich hier eine junge Begabung offenbarte, wie er es nannte.

Unser Vater eilte schnell zum Onkel hinüber, um ihn vor dem gefürchteten Kerl zu warnen. Dieser aber durchschaute die Absicht - er setzte seine Tasche voller Teeziegel ab und blieb dem Jurtenherrn auf der Ferse.

Keles schritt mit ausgebreiteten Armen auf Onkel S. zu, drückte ihn an sich wie einen Bruder, den er Jahre nicht gesehen hatte, und stellte sich vor: »Es ist Keles, den du vor dir hast. Er ist gekommen, um sich mit dir zu verbrüdern, da ihm ans Ohr drang, du bist eine Begabung.«

Während des Tees, der zu Ehren des Gastes gekocht und darauf mit ihm getrunken wurde, saßen die beiden wie Brüder beisammen und unterhielten sich eifrig, bis der Teufel mit seinem eigentlichen Anliegen herausrückte: »Was gibt es bei dir einzuhandeln?« Der Onkel zog ein blaues Tuch aus der Hosentasche und legte es Keles auf die Hand: »Dies zum Beispiel.« Als Keles das Tuch aufwickelte und man sah, was drinnen war, entfuhr unserem Vater ein Ruf: »Bist du denn wahnsinnig geworden? Vaters Ring!« Sein Bruder winkte lässig ab: »Was regst du dich wegen diesem Tand auf? Der Bruder ist von weit her mit ehrlichem Gefühl gekommen.« Keles verstand sofort und klopfte dem Bruder auf die Schulter: »Mannesworte!« Der Warner sprang auf und verließ beleidigt die Jurte.

Keles sagte: »Hundert.« Der Onkel hörte nicht. Keles: »Zweihundert.« Der Onkel schien noch immer nicht zu hören. Keles: »Dreihundert.« Der Onkel lachte: »Lieber würde ich ihn in den Fluss werfen, wenn ich nicht Angst hätte, die Fische würden bei dem Anblick die Sprache finden.« Keles: »Vierhundert. Aber das ist mein letztes Wort.« Der Onkel wickelte den Ring wieder in das Tuch ein. Keles: »Fünfhundert: Du irrst dich, Bruder, wenn du glaubst, ich würde noch einen Schritt weiter gehen.« Wortlos reichte ihm der Onkel das Tuch. Keles drückte ihm die Scheine in die Hand.

Die Bruderschaft währte aber nicht lange, denn kurz darauf machte der Onkel ein schuldbewusstes Gesicht und stotterte unglücklich: »Bitte, Bruder, gib ihn wieder her! Hier ist dein Geld. Es tut mir Leid, aber ich habe plötzlich Angst bekommen vor meinem großen Bruder.«

Keles, sprachlos, stand da wie aus Holz, fand dann doch zurück zur Sprache: »Ich habe mich in dir geirrt, ich dachte, ich hätte es hier mit einem Mann zu tun, sehe nun aber, ich habe vor mir einen Hosenscheißer.« Der Onkel, der das Tuch schon eingesteckt und das Geld zurückgegeben hatte, flüsterte gequält: »Ja, das bin ich wohl, habe aber zu viel Angst vor dem Großen.«

Dann fiel er plötzlich in einen so flehenden Ton, dass wir meinten, er würde gleich anfangen zu weinen: »Versprich mir bitte, Bruder, deswegen nicht gekränkt zu sein!« Der Teufel zitterte am ganzen Körper und zischte: »Gekränkt? Ja, allerdings!« Der Onkel zog ein erbärmliches Gesicht, packte den andern am Ärmel: »Nein, das will ich nicht. Nimm ihn denn. Um unserer Bruderschaft willen.«

Damit zog er das Tuch wieder aus der Hosentasche und reicht es ihm. Keles´ Gesicht leuchtete auf, er befühlte das Tuch, drückte dem Onkel die Scheine wieder in die Hand und machte sich eilig davon. Man sah, er hatte Angst, der Mensch könnte seine Worte wieder zurücknehmen.

Am Abend kam der Onkel zu Vater und zeigte ihm den Ring: »Hältst du mich für so dumm, dass ich den weggeben würde?« Der große Bruder erschrak, der kleine aber beruhigte ihn: »Der berühmte Keles wird doch nicht darüber reden, dass er einem Hosenscheißer einen rostigen Eisenring abgeluchst hat für ganze fünfhundert. Das wäre zu schändlich.«

Onkel S. hatte Recht. Der Teufel ließ sich nie wieder blicken.

So ging es immer weiter und immer zu Onkels Vorteil. Aber wie gewonnen, so zerronnen - Onkels blieben arm. Einmal schimpfte unser Vater mit ihm: » Du kannst bei diesem verfluchten Geschäft noch so sehr Gewinne machen, ein armer Schlucker bleibst du doch.« Der Bruder lachte. »Ich treibe das Geschäft ja nur, weil er mir Spaß macht!« Ich meine, das konnte zumindest in einigen Fällen durchaus zutreffen.

Einmal hatte der Onkel einen sehr schönen Schimmel in Aussicht. Dann kam er jedoch nicht mit dem Pferd, sondern mit einem Sackfetzen, in den hundert kleine Messer eingewickelt waren. Und so begründete er seinen Entschluss: »Mit einem Pferd kannst du nur einmal handeln, gesetzt den Fall, dir krepiert das Tier nicht vorher; mit diesem Sack aber kannst du es ganze einhundert Male tun.«

Dass ihm sein Beruf nicht nur Gewinn, sondern auch Vergnügen brachte, beweisen mir heute die vielen lustigen Geschichten, die er uns Kindern damals erzählte, wenn er von seinen Geschäftsreisen zurückkehrte. Eine davon ist mir besonders lebhaft in Erinnerung geblieben. Der älteste Sohn des Onkels hatte, als er vom Militärdienst heimkehrte, eine vollständige Uniform mitgebracht. In einen Sack verpackt, führte der Onkel sie stets mit sich, wenn er ausritt.

Obwohl in jenen Gegenden ein sehr großzügiges Gastrecht herrschte, war es doch oft ziemlich ungewiss, ob man es bei jeder Familie, die einen über Nacht aufnahm, so traf, wie man es sich gerade wünschte.

Der Onkel wusste das natürlich, und er sorgte dafür, dass er überall aufs Zuvorkommendste behandelt wurde. Wenn es dem Abend zuging, zog er die Uniform an, steckte den Schafsunterkiefer in der Fahrradwerkzeugtasche - eine eigene Konstruktion - in den Seitenschlitz, sodass man ihn für eine Pistole im Halfter halten könnte, und ritt auf die fremde Jurte zu.

Die Gegend dort ist ausschließlich von Kasachen bewohnt. Und im Allgemeinen ist der Kasache nicht des Mongolischen mächtig. Also spielte er den Mongolen und gab den Leuten zu verstehen, dass er kein Kasachisch verstünde. Sie mühten sich dann auch nicht weiter, mit ihm in ein Gespräch zu kommen, sondern schlachteten schnell einen Hammel und behandelten ihn wie einen neuzeitlichen Fürsten, weil sie ihn für einen von der Staatssicherheit hielten. Am Morgen, wenn er erwachte, hockte die Jurtenfrau schon mit dem duftenden gepfefferten und gesalzenen Milchtee am Herd und wartete darauf, dass er aufstand. Und wenn er aus der Jurte trat, fand er sein Pferd bereits gesattelt vor.

So fuhren die...


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Autor

Galsan Tschinag, geboren 26.12.1943 in der Westmongolei, ist Stammesoberhaupt der turksprachigen Tuwa. Von 1962 bis 1968 studierte er Germanistik in Leipzig, seither schreibt er viele seiner Werke auf Deutsch. Er lebt den größten Teil des Jahres in der Landeshauptstadt Ulaanbaatar und verbringt die restlichen Monate abwechselnd als Nomade in seiner Sippe im Altai und auf Lesereisen im Ausland. Galsan Tschinag wurde mit vielen Auszeichnungen, darunter das Bundesverdienstkreuz, geehrt.

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