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Kennst du das Land

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
320 Seiten
Deutsch
Unionsverlagerschienen am05.03.2018
Mit der Ankunft des jungen Studenten Galsan Tschinag in Leipzig beginnen diese Lebenserinnerungen. In der Nomadenjurte aufgewachsen, ist ihm hier alles fremd und neu: das Essen mit Messer und Gabel, das Wasserklosett, der Umgangston der Menschen und der Himmel über der grauen Stadt. Aber mit unbändigem Wissensdrang stürzt er sich auf alles, was er hier lernen kann, gewinnt Freunde unter Studenten, Professoren und Schriftstellern und wird bald zu einem Meister der deutschen Sprache. Inmitten der reichen europäischen Kultur und Geschichte fühlt er sich zunächst klein und unbedeutend. Erst als er eine deutsche Forscherin durch seine Heimat führt, wird ihm klar: Auch sein eigenes Land, seine Sprache und seine Leute haben der Welt einzigartige Erkenntnisse zu schenken.

Galsan Tschinag, geboren 26.12.1943 in der Westmongolei, ist Stammesoberhaupt der turksprachigen Tuwa. Von 1962 bis 1968 studierte er Germanistik in Leipzig, seither schreibt er viele seiner Werke auf Deutsch. Er lebt den größten Teil des Jahres in der Landeshauptstadt Ulaanbaatar und verbringt die restlichen Monate abwechselnd als Nomade in seiner Sippe im Altai und auf Lesereisen im Ausland. Galsan Tschinag wurde mit vielen Auszeichnungen, darunter das Bundesverdienstkreuz, geehrt.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR13,95
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR11,99

Produkt

KlappentextMit der Ankunft des jungen Studenten Galsan Tschinag in Leipzig beginnen diese Lebenserinnerungen. In der Nomadenjurte aufgewachsen, ist ihm hier alles fremd und neu: das Essen mit Messer und Gabel, das Wasserklosett, der Umgangston der Menschen und der Himmel über der grauen Stadt. Aber mit unbändigem Wissensdrang stürzt er sich auf alles, was er hier lernen kann, gewinnt Freunde unter Studenten, Professoren und Schriftstellern und wird bald zu einem Meister der deutschen Sprache. Inmitten der reichen europäischen Kultur und Geschichte fühlt er sich zunächst klein und unbedeutend. Erst als er eine deutsche Forscherin durch seine Heimat führt, wird ihm klar: Auch sein eigenes Land, seine Sprache und seine Leute haben der Welt einzigartige Erkenntnisse zu schenken.

Galsan Tschinag, geboren 26.12.1943 in der Westmongolei, ist Stammesoberhaupt der turksprachigen Tuwa. Von 1962 bis 1968 studierte er Germanistik in Leipzig, seither schreibt er viele seiner Werke auf Deutsch. Er lebt den größten Teil des Jahres in der Landeshauptstadt Ulaanbaatar und verbringt die restlichen Monate abwechselnd als Nomade in seiner Sippe im Altai und auf Lesereisen im Ausland. Galsan Tschinag wurde mit vielen Auszeichnungen, darunter das Bundesverdienstkreuz, geehrt.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783293309951
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2018
Erscheinungsdatum05.03.2018
Seiten320 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1891 Kbytes
Artikel-Nr.3421572
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe



2


Nach dem schweren Anfang im Schoß der Mutter Leipzig geht es mit mir von Tag zu Tag unaufhaltsam bergauf. Die anfangs wildfremd und widerlich schwer empfundene Sprache ergibt sich mir wesentlich leichter als gefürchtet. Die Gründe dazu werden mir erst viel später geläufig: Ich bin von zu Hause aus ungebildet, was auch heißen dürfte, wenig verbildet. Allem voran war ich geschützt vor der Müllflut von außen, genannt Information, sodass mein Hirngefäß noch genügenden Leerraum zur Aufnahme von Neuem hatte. Dann war ich mitten in einer schriftlosen, nur erzählenden Gemeinschaft aufgewachsen und hatte daher von Anfang an gelernt, gut zuzuhören und das Gehörte ins Gedächtnis einzuprägen. Und schließlich war ich, lange bevor ich in die Schule musste, als Schamanenlehrling geschult, aus dem Stegreif Lob- und Bittgesänge zu erfinden und diesen Fund an Worten in eine Weise einzukleiden, und das Ganze laut und klar bis zu den Höhen und Tiefen, über erblickbare Ebenen und fühlbare Weiten hinauszusingen, um die Geister in ihren gedachten Sitzen zu erreichen. Das alles hatte die Pforte meiner Sinne offen und deren Wege und Stege zueinander frei gehalten. So verfügte ich nicht nur über ein überdurchschnittliches Auffassungsvermögen, sondern Vergesslichkeit war mir ein Fremdwort. Dies wiederum hatte zur Folge, dass sich die Sprache, die vor mir zunächst wie ein großes Fragezeichen gestanden, bald in eine liebe Gespielin verwandelte. Später dachte ich, während ich mich an weitere Fremdsprachen heranmachte, so sehnsüchtig an die Zeit zurück, in der ich Deutsch habe lernen dürfen. Ja, da meinte ich, dies sei die Sprache, die einfach für mich erschaffen war, denn mir war, als hätte sie sich nicht worte-, sondern sätzeweise in mich hineinbegeben.

Ich kann das auch sachlicher ausdrücken: Ich habe mich ganz einfach so, so, so sehr bemüht, die Sprache zu erlernen. Habe alles, was ich an Geschriebenem entdeckte, bei Schildern um mich herum angefangen, in meinen Lehrstoff verwandelt. Habe alles, was ich an Lauten, Wörtern, Sätzen hörte, kindisch-spielerisch nachgeahmt. Das Radio, das Fernsehen, die Zeitung, jeder Mensch, den ich sprechen hörte - alle, alle waren mir Lehrer. Der Verantwortliche für unsere Gruppe, Wolfgang Brunner, ein Mann in den ausgehenden Dreißigern, war der Beste, den ich unter allen Lehrern zeitlebens habe kennenlernen dürfen und auch müssen. Oder auch so: Er war mir nicht nur Lehrer, sondern auch Bruder, Vater, Freund. Wir zwei müssen viele Gemeinsamkeiten gehabt haben und mochten uns einfach von Anfang an. Er war mir das Geschenk des Himmels. Vielleicht war ich ihm es auch. Denn ich blieb ihm zeitlebens treu als Schüler, als Freund. Das letzte Mal besuchte ich ihn, als er bereits über die achtzig war, kurz vor seinem Tod. Wir verbrachten in seiner Wohnung in Borsdorf bei Leipzig einen unvergesslich schönen Tag, schwelgten in Erinnerungen, schmiedeten aber auch Pläne für die Zukunft: Er wollte mich zu Hause besuchen und meinen Enkelkindern in drei Wochen Deutschkenntnisse vermitteln.

Das vorläufige Ergebnis dessen ist: Ich werde von allen wahrgenommen. Ja, dass solches geschieht, nehme ich selbst wahr. Es sind menschliche Blicke, die von den Lehrkräften wie auch die von den Kommilitonen, die mich treffen und eine kurze Weile in mich hineinzustochern scheinen, neugierig, wie es da drinnen aussähe. Gut möglich, dass ich manchen wie ein Lebewesen vorkomme, das noch vor Kurzem viel Tierisches an sich gehabt, nun aber mit jedem Tag immer mehr Menschliches aufweist. Ich nehme diese neugierigen, stochernden, forschenden Blicke nicht nur wahr, ich genieße sie geradezu. Denn ich halte sie rundweg für Gewogenheit. Denn die herbe Erfahrung mit der weniger ansehnlichen Kehrseite des Erfolges liegt noch um einige Zeithügel vor mir. So lebe ich vorerst arg- und sorglos und bemühe mich unermüdlich und unerschütterlich weiter, wie ein Küken mit wachsenden, erstarkenden Flügeln.

So wie es mit der Sprache aufwärtsgeht, so geht es auch mit dem Sport. Der junge, gesunde Nomadenkörper, der sich zeitlebens vielfach anzustrengen gehabt hat, nimmt den neuesten Anspruch, diese Beugungen und Windungen des Fleisches und der Sehnen, recht gelassen hin und kommt den Anforderungen schnell nach. Dem Expander, den ich ausspanne, schraube ich alle paar Wochen eine weitere Feder zu. Die Hanteln fühlen sich in meinen Griffen immer leichter an. Nach einem Vierteljahr ist der Expander mit allen sechs Federn voll bespannt, und ich kaufe neue Hanteln, die fünf Kilo drücken. Mein Körper verändert sich beinah zusehends. Wirkt in der Oberfläche immer wirbeliger und wächst merklich in die Breite wie auch in die Höhe: Gegen Ende des Winters überhole ich den Mitbewohner deutlich in der gesamten Körpergröße! Anfangs sind wir in der Länge gleich gewesen, wobei ich ihm in der Schulterbreite unterlegen war. Oh, es ist mir eine Freude, meinen nackten Körper mit angespannten Muskeln bei Licht zu betrachten und in der Dunkelheit zu befühlen!

An dieser Stelle habe ich zwei kleine Einschübe unterzubringen. Erstens, da wir gerade bei der Körpergröße sind, fällt mir ein, dass ich in den drei Sprachen, die mir am geläufigsten sind, drei verschiedene Eigenschaftswörter benütze, um ein und dasselbe zu vermitteln. Auf Deutsch sage ich: Bin eins siebzig groß. Auf Mongolisch: eins siebzig hoch. Und in meiner Muttersprache, auf Dwadl: eins siebzig lang.

Zweitens, der Mitbewohner. Der Korrektheit halber sollte es heißen: Mein ehemaliger Mitbewohner. Denn wir wohnen nicht mehr zusammen. Weder ich noch er tat etwas dafür, es regelte sich von selbst, sodass ein Knoten an der Spule des Lebens gelöst ist. Dieser Glücksfall verdankt sich dem Umstand, dass die Wohnräume in der unmittelbaren Nähe des Instituts für frisch Eingetroffene gebraucht werden, daher verlegt man solche, die sich bereits zu orientieren wissen, in entferntere Wohnheime: Ich lande in der Liviastraße 5 und teile ein Zimmer mit dem um fast dreißig Jahre älteren, sehr viel angenehmeren Chilenen Ruben Escribano. Dort werde ich wohnen, bis ich das Sprachinstitut beende. Und von dort werde ich in das Studentenwohnheim in der Nürnberger Straße 48 weiterziehen - da schon als Germanistikstudent an der Karl-Marx-Universität.

Also gelte ich schon als einer, der sich in der Weltstadt selbstständig zu bewegen weiß. Und zwar haste ich da im Eiltempo nach einem dichtmaschigen Plan, webe an meinem neuen Leben, sozusagen durch die Zeit rennend. Erst viel später werde ich imstande sein, mir Rechenschaft darüber abzulegen, was dieses neue Leben mir gebracht und was es mich auch gekostet hat. Zu dessen Gewinnen gehört der Sieg, den ich bei der Schlacht gegen die gefestigte Gewohnheit in mir davontrage.

Kurz vor Weihnachten legen wir die ersten Prüfungen ab. Ich erziele in der Gruppe die besten Ergebnisse und gewinne den ersten Preis: zwei Wochen Urlaub im Erzgebirge, in der alten, schönen Stadt Annaberg. In dem Augenblick, wie mir die Ehre zuteilwird, freue ich mich gewiss sehr darüber. Aber was dies für mein weiteres Leben wirklich zu bedeuten hat, das werde ich erst viel später begreifen: Es war mein Aufbruch zu einem unbekannten Gipfel, der Anfang einer stillen, steilen Laufbahn. Ja, von da an nimmt der in mir längst erwachte Ehrgeiz ein neues Ausmaß an: Hat er bislang geglüht und geknistert, fängt er nun an zu lohen und zu fauchen. Ich lebe in einem veränderten, und zwar erhabenen, weihevollen Zustand, ähnlich dem, den ich später immer wieder haben werde, wenn ich gerade mitten im Niederschreiben eines Gedichts, mitten im Beschreiben der Schlüsselszene einer dramatischen Geschichte stecken werde. Etwas Neues dazuzulernen, mich zu verändern, vor- und aufwärts in Richtung eines gedachten Gipfels zu bewegen, wird mir zum Hochgenuss. So wird mir auch das darauffolgende Studium an der Universität zur Religion, imstande, mich anzuziehen und zu packen.

Mir ist, als gehe vor mir ein Tor auf, hinter welchem die Tage, Wochen, Monate und Jahre meiner weiteren Menschwerdung knospen und mich mit ihrer duftenden Wolke und erfrischenden Brise anwehen. Was mich schon beschwingt und beflügelt, doch ich ahne noch nicht, dass ich zum Liebling zunächst des Herder-Instituts, später der Karl-Marx-Universität und zum Schluss auch noch der Stadt Leipzig werden würde. Hunderte Zeithügel, Dutzende Zeitberge weitergewandert und mit ebenso zahlreichen, kaum sichtbaren Peitschenstriemen und Knüppelbeulen gezeichnet, werde ich mich oft fragen müssen: War es denn dir wirklich gegeben, einmal als Liebling so vieler mächtiger Wesen gelten zu dürfen? Die Antwort darauf wird sich nicht so einfach ergeben. Und wird einmal lauten: Unwichtig, ob das so ganz gestimmt hat. Wichtiger ist, wie du es empfunden hast. Denn es hat dich mit Nähr- und Zündstoff versorgt, all die Jahre hindurch im Rauschzustand zu bleiben, um deinen neugeborenen Geist und neu aufgeladenen Körper vor Kinderkrankheiten wie Trägheit und Erschöpfung zu schützen!

Ja, doch, Leipzig bekommt mir richtig gut. Ich habe jeden Grund, mich des Lebens zu erfreuen und mir hochtrabende Pläne zu schmieden. Da ich so eingestellt lebe, verursache ich anderen keinen Grund, mitten im ohnehin fortwährend abschabenden Fluss und abschälenden Sturm des Lebens sich auch noch an mir zu reiben. Viele Jahre später werde ich den Dalai-Lama kennenlernen. Und werde an meine Leipziger Zeit zurückdenken: Der aus seinen Wurzeln entrissene Nomadenjunge würde trotz seiner blauäugigen Wahnvorstellung mit der Friedfertigkeit und...


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Autor

Galsan Tschinag, geboren 26.12.1943 in der Westmongolei, ist Stammesoberhaupt der turksprachigen Tuwa. Von 1962 bis 1968 studierte er Germanistik in Leipzig, seither schreibt er viele seiner Werke auf Deutsch. Er lebt den größten Teil des Jahres in der Landeshauptstadt Ulaanbaatar und verbringt die restlichen Monate abwechselnd als Nomade in seiner Sippe im Altai und auf Lesereisen im Ausland. Galsan Tschinag wurde mit vielen Auszeichnungen, darunter das Bundesverdienstkreuz, geehrt.

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