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Briefe an Alice

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
186 Seiten
Deutsch
Rowohlt Verlag GmbHerschienen am17.08.20181. Auflage
Mit ihren «Briefen an Alice» schreibt Fay Weldon aufs amüsanteste Virginia Woolfs «Ein Zimmer für sich allein» fort: Wie halten es begabte Frauen heute mit der Literatur? Tante Fay - etablierte Schriftstellerin und gerade in Australien auf Tournee - berät brieflich ihre Nichte - Punk-Mädchen, mürrische Literaturstudentin und Möchtegern-Autorin. Die Tante rät dem unzivilisierten Gör zum Lesen der Klassiker (vor allem: Jane Austen) und vom dilettantischen Schreiben ab. Doch der Schnellkurs wirkt anders als geplant: Alice plumpst durchs Examen - und zimmert ein Romänchen, das erfolgreicher wird als sämtliche Werke der Profi-Tante zusammen. Nutznießer der mißlungenen Belehrung sind Fay Weldons Leser: sie hören Bemerkenswertes über den Unterschied zwischen Literatur und Autobiographie und über die Bedingungen, unter denen Frauen seit je schrieben.

Fay Weldon, geboren 1931 in Alvechurch, Worcestershire, ist Autorin von Romanen, Drehbüchern und Theaterstücken.
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Produkt

KlappentextMit ihren «Briefen an Alice» schreibt Fay Weldon aufs amüsanteste Virginia Woolfs «Ein Zimmer für sich allein» fort: Wie halten es begabte Frauen heute mit der Literatur? Tante Fay - etablierte Schriftstellerin und gerade in Australien auf Tournee - berät brieflich ihre Nichte - Punk-Mädchen, mürrische Literaturstudentin und Möchtegern-Autorin. Die Tante rät dem unzivilisierten Gör zum Lesen der Klassiker (vor allem: Jane Austen) und vom dilettantischen Schreiben ab. Doch der Schnellkurs wirkt anders als geplant: Alice plumpst durchs Examen - und zimmert ein Romänchen, das erfolgreicher wird als sämtliche Werke der Profi-Tante zusammen. Nutznießer der mißlungenen Belehrung sind Fay Weldons Leser: sie hören Bemerkenswertes über den Unterschied zwischen Literatur und Autobiographie und über die Bedingungen, unter denen Frauen seit je schrieben.

Fay Weldon, geboren 1931 in Alvechurch, Worcestershire, ist Autorin von Romanen, Drehbüchern und Theaterstücken.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783688113514
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2018
Erscheinungsdatum17.08.2018
Auflage1. Auflage
Seiten186 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse738 Kbytes
Artikel-Nr.3834718
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Erster Brief Die Stadt der Erfindung

Cairns, Australien, Oktober

 

Meine liebe Alice,

es tat gut, Deinen Brief zu bekommen. Ich bin hier sehr weit fort von zu Hause, fast im Exil. Und Du fragst mich um Rat - das wärmt und gibt mir das Gefühl, ich müsse wohl etwas wissen; oder wenigstens mehr als Du. Der Eindruck, man wisse immer weniger, je älter man wird, ist entmutigend. Als ich Dich das letzte Mal sah, warst Du zwei Jahre alt, blond und engelhaft. Nun, höre ich, bist Du achtzehn, färbst Dir die Haare mit Pflanzenfarben schwarz und grün, und Deine Mutter, meine Schwester, ist beunruhigt. Vielleicht bedeutet Dein Brief an mich einen Schritt in Richtung auf eine mögliche Versöhnung zwischen Dir und ihr? Ich werde mich in Euer Verhältnis nicht einmischen; ich werde mich auf die Fragen beschränken, die Du aufwirfst.

Nämlich Jane Austen und ihre Bücher. Du erwähnst nebenbei, daß Du am College englische Literatur belegt hast und Jane Austen lesen mußt; daß Du sie langweilig, unbedeutend und irrelevant findest und Dir nicht vorstellen kannst, was für einen Zweck das haben soll, daß Du sie liest, wo die Welt doch in der Krise steckt und die Zukunft katastrophal aussieht.

Du liebes Kind! Meine liebe hübsche kleine Alice, jetzt mit schwarz-grünem Haar -

Besteht die mindeste Hoffnung, daß ich Dir erklären kann, was LITERATUR ist, die in Großbuchstaben? Gescheit genug bist Du. Du konntest mit vier Jahren lesen. Aber dann hast Du Dich, ganz vernünftig, dem Fernsehen zugewandt und es als Dein Fenster zur Welt benutzt; hast Deinen Hunger auf Information, auf Geschichten mit Anfang, Mitte und Ende mit den leicht verfügbaren, schmackhaften Stoffen aus dem Kasten im Wohnzimmer gestillt, und (wenn meine Erinnerung an Deine Mutter mich nicht trügt) sicher auch in Deinem eigenen Zimmer. Du hast Dich in Schlaf gewiegt mit Bildern von Gewalt und den gröberen Formen menschlichen Agierens und Reagierens; mit Geschichten, in denen es für jede schlichte Handlung ein schlichtes Motiv gibt, in denen nichts unerklärlich ist und sogar Gott auf nicht rätselhafte Weise handelt. Und jetzt wird Dir klar, daß dies nicht genug ist; Du hast den Verdacht, daß es noch mehr gibt, daß Deine eigenen Gefühle und Reaktionen tausendmal komplizierter sind, als die blecherne Tele-Darstellung von Wirklichkeit es je vermuten ließ; Du spürst, das ahne und hoffe ich, etwas von Unendlichkeit, vom Zauber der Schöpfung, vom Wunder der Liebe, vom Glanz des Daseins; Du siehst Dich, erfüllt von Deinem ungezähmten neuen Verständnis, Deiner unerwarteten Vision, nach Gefährten um und triffst auf die gleichen Zombie-Blicke, die gleichen bleichen Gesichter und gefärbten Wattehaare; und schließlich wendest Du Dich der Bildung, der Literatur, den Büchern zu und findest sie Dir verschlossen.

Nicht verzweifeln, kleine Alice. Halt nur durch, und Du wirst sehen, Jane Austen bietet Dir alles. Gerade eben ist eine Kokosnuß vom Baum gefallen und hat knapp den Kopf eines meiner Mitgäste verfehlt, hier in diesem Hotel an einem strahlend blauen tropischen Meer, wo den Seeigeln in der Paarungszeit (die sich nicht klar bestimmen läßt) im flachen Wasser unsichtbare, zehn Meter lange Fäden wachsen, von deren bloßer Berührung ein Kind sterben kann und sicher auch ein leicht schockierbarer Erwachsener. Bleib aus dem Wasser, und die Kokosnüsse erwischen Dich!

Aber auf dem kleinen Bücherregal hier steht ein Exemplar von Jane Austens Emma, mit allen Merkmalen eifrigen Gebrauchs. Die anderen Bücher sind noch zerlesener - Thriller und Schnulzen, wenig haltbare Dinge. Diese Bücher eröffnen ein kleines quadratisches Fenster, durch das Du auf die Welt blicken und die Marionetten beobachten kannst, die sie draußen für Dich tanzen lassen. Sie haben wenig Ähnlichkeit mit Menschen, mit irgend jemandem, der Dir je begegnet ist oder begegnen könnte. Diese Gestalten existieren nur für die Zwecke der Handlung, und die Bücher, in denen sie auftauchen, bedrohen den Leser in keiner Weise; sie legen ihm oder ihr nicht nahe, nachzudenken oder gar sich zu verändern. Aber da sie so sicher sind, bleiben sie natürlich auch ohne Wirkung - sie können niemals Einsichten vermitteln. Und weil sie keine Einsicht hervorbringen, sind sie unbedeutend. (Außer natürlich, es wird an sie geglaubt: dann werden sie gefährlich. Zu glauben, eine Schnulze spiegle das wirkliche Leben wider, heißt, in dauernder Enttäuschung zu leben. Es wird von einem erwartet, daß man ihnen glaubt, solange man sie liest, und keinen Augenblick länger.) Diese Bücher, die abgegriffenen, die Thriller und Schnulzen, sind austauschbar. Sie werden dazu benutzt, die Grillfeuer anzuzünden, wenn die Sonne hinter den wilden Bergen versinkt und Hunger in der Luft liegt - nicht nur nach einem Steak mit Chilisauce, sondern ein echtes menschliches Verlangen nach Lebendigkeit, Sex, Erfahrung, Wandel. Die Seiten lodern auf, werden rot, werden schwarz, verlöschen. Das Steak brutzelt, dank einem Exemplar von Gorki Park. Alle essen.

Aber niemand verbrennt Emma. Niemand würde das wagen. Zu viel ist darin konzentriert: zu viel Geschichte, zu viel Achtung, zu viel vom Wesen der Kultur - und die ist, das muß ich Dir sagen, mit ihrer Literatur verbunden. Mit LITERATUR, die etwas anderes ist als einfach nur Bücher. Natürlich hat Hitler es fertiggebracht, auch Literatur und nicht einfach nur Bücher zu verbrennen und damit die kulturelle Vergangenheit seiner Nation, und keiner hat es je vergeben oder vergessen. Man muß wirklich böse sein, um Literatur verbrennen zu können.

Wie kann ich Dir dieses Phänomen erklären? Wie kann ich Dich von dem Vergnügen an einem guten Buch überzeugen, wenn Du McDonald an der einen Straßenecke und An American Werewolf in London an der nächsten hast? Ich leide selbst an der weit verbreiteten nervösen Furcht vor Literatur. Wenn ich in Ferien fahre, lese ich erst die Thriller, dann die Science-fiction-Bücher, dann die Sachbücher und dann Krieg und Frieden oder welches Buch ich mir gerade zu lesen vorgenommen habe, längst gelesen haben sollte, halb lesen möchte und doch erst ganz lesen möchte, sobald ich angefangen habe. Natürlich fürchtet man sich davor, natürlich ist man davon überwältigt: man sieht mit Vorfreude und Angst der Ohnmacht entgegen, dem fast erotischen Genuß, den eine gute Passage in einem guten Buch vermittelt; wenn etwas Unbenennbares passiert. Ich weiß nicht, was da passiert: ist es die Lust der Begegnung einer Denkweise mit einer andern, unbehindert von den dazugehörigen Körpern? Die Lust daran, daß unsere eigene Erfahrung plötzlich Form und Gestalt anzunehmen beginnt? Aber ja, rufen wir, ja, ja, so ist es! Aber wir müssen stark sein, um wissen zu wollen; wenn plötzlich etwas passiert, wenn wir auf die Idee stoßen und entdecken, daß sie mehr ist als die Summe der Teile, aus denen sie besteht - wenn wir begreifen, daß die Idee mehr ist als die Summe der Erfahrungen. Es kostet Mut zu begreifen, nicht nur was wir sind, sondern warum wir sind.

Vielleicht bekommst Du es in Deinem Seminar über englische Literatur besser erklärt. Ich hoffe es. Ich bezweifle es. An solchen Orten (so kommt es mir wenigstens vor) nehmen die Leute vorne am Pult etwas, das sie nicht ganz verstehen, von dem sie aber vermuten, es sei bemerkenswert, und zerlegen es in seine Bestandteile, in der Hoffnung, so sein wahres Wesen zu entdecken. Genausogut kannst Du eine Fliege zerstückeln und hoffen, daß die Stücke das Geschöpf erklärlich machen. Danach weiß man mehr, versteht aber weniger. Man besitzt mehr Informationen und weniger Weisheit. Ich möchte nicht (unbedingt) die literaturwissenschaftlichen Seminare beleidigen oder auch nur einen Moment lang behaupten, Du wärst außerhalb ihrer Obhut besser dran als unter ihr: ich sage nur, sei vorsichtig. Und ich spreche als eine Autorin, die in (einigen) literaturwissenschaftlichen Seminaren und (vielen) Frauenstudien-Kursen untersucht wird; und ich sage bewußt «als eine Autorin», denn sie erforschen nicht nur meine Romane (auf Werke der schöpferischen Phantasie, wie sie das nennen, darf jeder Jagd machen), sondern sie möchten schließlich am liebsten mir zu Leibe rücken, und ich bin kein tauglicher Forschungsgegenstand.

Ich, als Autorin von Romanen, bin nämlich eine Sache für sich. Was Du von mir liest, ist die letzte von drei oder vier Fassungen, ist Fiktion - und das bedeutet, eine ordentlich formulierte Sicht von der Welt. Aber ich selbst, wie ich lebe, rede, Rat erteile, diesen Brief schreibe, bin nur ein erster Entwurf; bitte vergiß es nicht. Als die Person, die versucht, Dich dazu zu bewegen, mit Genuß Emma und Überredungskunst und Mansfield Park und Die Abtei von Northanger und Stolz und Vorurteil und (bei Gelegenheit) Vernunft und Gefühl und (so oft wie möglich) Lady Susan zu lesen, bin ich jemand ganz anderes. Glaub mir oder laß es bleiben, ganz wie Du willst. Aber hör mir bis zum Ende zu.

Du mußt lesen, Alice, bevor es zu spät ist. Du mußt Deinen Kopf mit den erfundenen Bildern der Vergangenheit füllen, mit je mehr davon, desto besser. Mit den literarischen Bildern aus Beowulf und Chaucers Weib von Bath und Falstaff und Elizabeth Bennet und dem Mädchen mit dem grünen Hut - und mit Hazel aus Unten am Fluß, wenn es sein muß. Diese Bilder werden Dir zumindest helfen, Dir das Einmaleins des Lebens anzueignen, und je mehr Bilder Du im Kopf behältst, desto prächtiger wird der sternenbesetzte Baldachin der Erfahrung, unter dem Du,...
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