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Trauer über den Tod der Magie

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
204 Seiten
Deutsch
Rowohlt Verlag GmbHerschienen am19.10.20181. Auflage
In «Trauer über den Tod der Magie» erzählt Blanche McCrary Boyd von drei Kindheitsgefährten, die sich nach langer Zeit verwandelt wiederbegegnen: da ist die einst unscheinbare Mallory, die zu Hause blieb und nun erfolgreich als engagierte Rechtsanwältin wirkt; ihre ehemals brillante Schwester, die nach zerstörerischen Beziehungen und Selbstmordversuchen um ihr seelisches Gleichgewicht kämpft; und Shannon, ihr Adoptivbruder, der abtrünnige Intellektuelle, ermüdete Hippie, sanfte Heimwehkranke. Jeder auf seine Weise, stellen sie sich ihrer Bindung an die Familie, an die soziale und geschichtliche Landschaft, der sie - in den wilden sechziger Jahren - blind hatten entkommen wollen.

Blanche McCrary Boyd wurde 1945 in Charleston, Süd-Carolina, geboren und hat in Kalifornien studiert. Am Goddard College in Vermont war sie Dozentin für Women's Studies.
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Produkt

KlappentextIn «Trauer über den Tod der Magie» erzählt Blanche McCrary Boyd von drei Kindheitsgefährten, die sich nach langer Zeit verwandelt wiederbegegnen: da ist die einst unscheinbare Mallory, die zu Hause blieb und nun erfolgreich als engagierte Rechtsanwältin wirkt; ihre ehemals brillante Schwester, die nach zerstörerischen Beziehungen und Selbstmordversuchen um ihr seelisches Gleichgewicht kämpft; und Shannon, ihr Adoptivbruder, der abtrünnige Intellektuelle, ermüdete Hippie, sanfte Heimwehkranke. Jeder auf seine Weise, stellen sie sich ihrer Bindung an die Familie, an die soziale und geschichtliche Landschaft, der sie - in den wilden sechziger Jahren - blind hatten entkommen wollen.

Blanche McCrary Boyd wurde 1945 in Charleston, Süd-Carolina, geboren und hat in Kalifornien studiert. Am Goddard College in Vermont war sie Dozentin für Women's Studies.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783688114634
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2018
Erscheinungsdatum19.10.2018
Auflage1. Auflage
Seiten204 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse758 Kbytes
Artikel-Nr.4017416
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

1

Shannon Hart lernte Johanna Osborne durch eine Zeitungsannonce kennen. Unter der Rubrik Bekanntschaften stand dort:


Interessante Frau, 92, blind, erteilt für

das Vorlesen von Kierkegaard Griechisch-

oder Spanischunterricht. 964-5748.


Shannon hatte versucht, an seiner Collage zu arbeiten, die inzwischen beinahe eine ganze Wand im Hinterzimmer seines Lederladens bedeckte. Er hatte die Collage planlos aus kleinen Lederstückchen begonnen. Er klebte farbige Lederabfälle auf den gezackten Rand eines grobgenarbten Lederstücks, aus dem er ein Hemd genäht hatte. Spielerisch hatte er Streifen und Stückchen des dicken goldenen Leders daran geheftet, aus dem er Gürtel machte. Aus den dünnen Streifchen und feinen Schnipseln, die abfielen, wenn er die Gürtelkanten schnitt, hatte er fedrige Gebilde geschaffen. In der vergangenen Woche hatte er Messingnieten, winzige Seemuscheln, Glasschmuck von billigen Leuchtern hinzugefügt und sogar eine Pfauenfeder, die er in San Francisco gekauft hatte.

Heute warteten eine Menge Lederabfälle und drei billige glitzernde Halsketten, die er im Ramsch entdeckt hatte. Aber anstatt zu arbeiten, lag er seit einer Stunde auf seinem alten Schlafsack, rauchte zwei Joints, aß beinahe ein ganzes Pfund von dem geräucherten, scharf gewürzten Rindfleisch und las die Zeitung von gestern. Heute war Dienstag, und sein Laden blieb geschlossen.

Er wählte die in der Annonce angegebene Telefonnummer, und eine müde, gereizte Stimme meldete sich: «Sind Sie interessant?» fragte die Stimme. «Sonst möchte ich nicht mit Ihnen sprechen. Es haben viele angerufen, die glaubten, interessant zu sein. Vom vielen Telefonieren habe ich schon Arthritis. Übrigens, das mit Kierkegaard habe ich mir überlegt. Ich möchte lieber Tristram Shandy hören oder vielleicht Emerson. Haben Sie Emerson gelesen?»

«Nein», antwortete Shannon.

«Hm, wollen Sie Griechisch oder Spanisch lernen?»

«Spanisch, glaube ich.»

«Warum?»

«Weiß ich nicht.»

«Warum möchten Sie mich kennenlernen?»

«Ich weiß nicht, ob ich das will», antwortete Shannon.

«Gut», erwiderte sie, «kommen Sie.»

Ohne weitere Umstände gab sie ihm die Adresse. Er bemerkte, daß sie ihn nervös gemacht hatte. Er band seine langen blonden Haare zu einem Pferdeschwanz, setzte die Sonnenbrille auf und warf sich den selbstgeschneiderten schwarzen Lederumhang mit dem gelben Seidenfutter um. Jetzt fühlte er sich wieder wohler und ging in den Eissalon gegenüber, um eine doppelte Portion Schokoladeneis zu kaufen. Wie alle, die viel allein sind und sich genau beobachten, wußte er, daß er bestimmte Gewohnheiten angenommen hatte, die ihm eine gewisse Sicherheit verliehen. Milchprodukte beruhigten seine Nerven.

Sie wohnte nur ein paar Straßen von seinem Laden entfernt. Diese Gegend kannte er so gut, daß er den Weg dorthin rasch zurücklegte, ohne auf die Umgebung zu achten. Liebliches Kalifornien, dachte er, der Instantpudding Amerikas. Obwohl er dieses Land mochte, blieb es ihm irgendwie unbegreiflich. Vielleicht lag es an dem großen Unterschied zwischen Kalifornien und Charleston, seiner Heimatstadt.

Johanna Osbornes Wohnungstür stand offen, und als er klopfte, rief sie ihn sofort herein. Er blickte sich kurz um und sah, daß die Wohnung offenbar aus einem einzigen, blaßgrün gestrichenen Zimmer von etwa zehn Quadratmetern bestand. Er sah eine schmale Tür, die zum Badezimmer führte, und als er sich in den Sessel setzte, den sie ihm anbot, auch die zwei Meter tiefe Kochnische. Im Zimmer standen eine Schlafcouch und die zwei Sessel, auf denen sie saßen, ein Radio, ein Plattenspieler und viele schwarze, quadratische Kassetten mit der Aufschrift «Blindenbücher», die, wie er bald begriff, Langspielplatten enthielten. Ein verblaßter Druck von Van Goghs Sämann hing an der Wand über der Couch.

Aber Johanna Osborne nahm seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Er vergaß seine leichte Nervosität, die Langeweile, und es beruhigte ihn, daß sie ihn nicht sehen konnte. Obwohl die absurde Brille mit dem straßbesetzten Schmetterlingsgestell, die sie trug, und die Art, in der sie vorgebeugt im Sessel saß und ihn durch die ungefärbten Gläser anzustarren schien, gewisse Zweifel in ihm entstehen ließen. Nachdem er sie eine halbe Minute lang beobachtet hatte, war er sicher, daß diese milchigen Augen nichts sehen konnten.

Sie war klein, wohl unter einem Meter sechzig, und dicklich. Ein graues Haarnetz hielt ihre dünnen grauen Haare zusammen. Sie trug eine Kaufhauskette auf einem verblichenen grünen Kleid und eine schöne weiße, kunstvoll gestrickte Jacke. Jemand mußte viel Zeit darauf verwendet haben, diese Jacke zu stricken, stellte Shannon mit geübtem Blick fest. Johannas Gesicht mit seinen unregelmäßigen Zügen und der langen Nase war sicherlich nie attraktiv gewesen, obwohl man dies wegen der erloschenen Augen nicht mit Sicherheit behaupten konnte. Sie hatte außergewöhnliche Hände. Sie waren klein, aber wenn sie sich öffneten und schlossen, ihre Knie oder die Armlehnen des Sessels umklammerten oder losließen, sprach eine erstaunliche Kraft aus ihnen. Sie hatte dicke, gelbliche Fingernägel, die Haut der Finger und der Handrücken wirkte wie dicker, faltiger Stoff und war von Altersflecken übersät. Shannon stellte sich vor, daß die Haut sich abziehen ließe, wenn er kräftig daran zog.

Unerwartet spürte er einen Kloß im Hals. Er wußte, seine Beklommenheit würde sie verletzen, und er wollte so normal wie möglich sprechen.

«Sind Sie interessant?» fragte sie. «Wieso glauben Sie, interessant zu sein?»

Unhöflich fragte er zurück: «Weshalb tragen Sie eine Brille?»

Sie richtete sich eine Sekunde lang auf und lächelte. Ihre verfärbten Zähne sahen sehr alt aus, aber wenigstens die Vorderzähne schienen noch alle vorhanden zu sein. «Ich glaube, wir werden gut miteinander auskommen», erwiderte sie.

«Sind Sie völlig blind?» fragte er.

«Die Menschen erschrecken vor meinen Augen. Schon immer, lange bevor ich blind wurde, schon als ich ein junges Mädchen war. Ich fühle mich mit der Brille wohler. Das spricht für Sie, junger Mann. Die meisten Menschen wagen nicht, mich danach zu fragen. Aber jetzt sagen Sie mir, warum Sie mich angerufen haben.»

«Ich weiß nicht.»

«Aha. Dann sagen Sie mir, weshalb Sie es nicht wissen.»

«Ich habe Sie angerufen, weil ich nichts Besseres zu tun hatte.»

«Wo ist Ihre Freundin?»

«Ich habe keine ... sie ist für eine Woche nach Los Angeles gefahren ...»

«Warum ist sie in Los Angeles?»

«Ich langweilte mich», sagte Shannon, «aber jetzt langweile ich mich nicht mehr.»

Und es stimmte, er langweilte sich wirklich nicht. Malaise, déja vu, Lustlosigkeit, alle Symptome, aber es war keine Krankheit. Im College vor fünf Jahren, hatte er Mononukleose gehabt und sich dabei so gefühlt wie im letzten Jahr. Aber er wußte, dieses Mal hatte seine Langeweile damit nichts zu tun.

Für Shannon, jetzt achtundzwanzig Jahre alt, begann das Leben mit achtzehn, als er zum erstenmal den Süden verließ. Er hatte South Carolina verlassen und das College besucht, Philosophie studiert, ein halbes Jahr in der Schweiz gelebt, geheiratet und sich scheiden lassen. Er hatte einen Polit-Trip und einen Drogen-Trip hinter sich; er hatte den Sinn des Lebens gesucht und beschäftigte sich jetzt abgeklärt und friedlich mit Lederarbeiten. Und selbst nach zehn Jahren vermißte er den Süden noch immer. Aber er ging nicht zurück; er schrieb auch nicht seiner Mutter oder Jack Rhett. Jack Rhett fühlte sich von ihm enttäuscht. Das konnte er trotz der dreitausend Meilen fühlen, die zwischen South Carolina und Kalifornien lagen. Er wird darüber wegkommen, sagte sich Shannon, oder: Das ist sein Problem.

«Ich bin gescheit», sagte Johanna Osborne, «aber ich bin alt. Nein, das wollte ich eigentlich nicht sagen, ich bin eher intelligent. Aber es ist, als ob sich Türen schlössen. Stellen Sie sich meinen Geist wie ein riesiges Haus vor, ein riesiges Haus mit vielen Zimmern. Ich kann hören, wie sich in meinem Kopf Türen schließen. Ich bin alt.»

Shannon zögerte mit einer Antwort. Er wußte nichts darauf zu sagen; und da er zögerte, entdeckte er etwas Wichtiges. Ließ er das Schweigen im Raum stehen, dann durchbrach Johanna es früher oder später selbst.

«Ich verliere mich», fuhr sie fort, «ich vergesse Dinge. Carl sagte immer, ich sei unfähig, mich auf eine Sache zu konzentrieren. Ich hielt ihm entgegen, es komme daher, daß ich zu vieles könne. Carl kannte dieses Problem nicht.»

«Wer war Carl?»

«Mein Mann.»

«Oh», sagte Shannon, enttäuscht, daß diese außergewöhnliche Frau etwas so Gewöhnliches wie einen Mann gehabt haben sollte. Er glaubte, sie damit trösten zu müssen, daß er ihr sagte, auch er sei verheiratet gewesen.

«Carl war Anarchist, bevor es in Mode kam, Anarchist zu sein.»

Shannon lachte.

«Ja, ja, Sie lachen. Ich weiß, wir werden gute Freunde sein. Ich hatte auch Liebhaber. Glauben Sie nur nicht, ich sei fad gewesen. Ich habe auch eine Tochter, die an der Ostküste lebt. Ja, ich glaube, wir können Freunde werden. Aber jetzt sagen Sie mir noch einmal, wie Sie heißen.»

«Shannon, Shannon Hart.»

«Sie kommen aus dem Süden, Shannon? Das ist doch ein Südstaatenakzent oder?»

«Ja», antwortete er, wie immer leicht verärgert über diese Frage.

«Virginia?»

«South Carolina.» Warum tippen sie nur immer alle auf Virginia, fragte er sich, oder Georgia. Liegt es daran, daß sie zu viele Filme gesehen haben?

«Die Frage gefällt Ihnen wohl nicht?»

«Nein.»

«Gut, Mr.Shannon Hart, hören Sie...
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Blanche McCrary Boyd wurde 1945 in Charleston, Süd-Carolina, geboren und hat in Kalifornien studiert. Am Goddard College in Vermont war sie Dozentin für Women's Studies.