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Jungen weinen nicht

E-BookEPUB0 - No protectionE-Book
317 Seiten
Deutsch
Bastei Lübbeerschienen am30.09.20191. Aufl. 2019
'Sei ein Mann und heul nicht!', fordert sein Vater, wenn er ihn beim Boxtraining ins Gesicht schlägt. 'Halt still und verrat nichts', flüstert sein Onkel, wenn er sich an ihm vergeht. 'Lauf weg mit mir, ich liebe dich', bittet ihn seine erste große Liebe. Doch das hieße, mit allem zu brechen, was er kennt. Mikey wächst in einer archaischen Roma-Community auf und wird jahrelang gedemütigt und gequält, weil der sensible, nachdenkliche Junge nicht den Erwartungen von Männlichkeit entspricht. Mit 15 sucht er sein Heil in der Flucht - mit dramatischen Folgen.





Mikey Walsh wurde 1980 als erster Sohn einer Roma Familie geboren. Er verließ seine Community mit fünfzehn Jahren nach einer Kindheit voller Gewalt und Missbrauch, weil er als schwuler Mann nicht akzeptiert worden wäre. Heute lebt er in London, arbeitet als Lehrer für Kunst und Schauspiel und engagiert sich für die Rechte Homosexueller.
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Produkt

Klappentext'Sei ein Mann und heul nicht!', fordert sein Vater, wenn er ihn beim Boxtraining ins Gesicht schlägt. 'Halt still und verrat nichts', flüstert sein Onkel, wenn er sich an ihm vergeht. 'Lauf weg mit mir, ich liebe dich', bittet ihn seine erste große Liebe. Doch das hieße, mit allem zu brechen, was er kennt. Mikey wächst in einer archaischen Roma-Community auf und wird jahrelang gedemütigt und gequält, weil der sensible, nachdenkliche Junge nicht den Erwartungen von Männlichkeit entspricht. Mit 15 sucht er sein Heil in der Flucht - mit dramatischen Folgen.





Mikey Walsh wurde 1980 als erster Sohn einer Roma Familie geboren. Er verließ seine Community mit fünfzehn Jahren nach einer Kindheit voller Gewalt und Missbrauch, weil er als schwuler Mann nicht akzeptiert worden wäre. Heute lebt er in London, arbeitet als Lehrer für Kunst und Schauspiel und engagiert sich für die Rechte Homosexueller.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783732572366
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format Hinweis0 - No protection
FormatFormat mit automatischem Seitenumbruch (reflowable)
Erscheinungsjahr2019
Erscheinungsdatum30.09.2019
Auflage1. Aufl. 2019
Seiten317 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.4026013
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe

1
Die Geburt eines Schweinejungen

Meine Großeltern zogen gerade mit dem Rest ihres Konvois durch Berkshire, als bei meiner Granny Ivy hinten im Wagen die Fruchtblase platzte. Damals, in der Nachkriegszeit, bekamen die meisten Zigeunerfrauen ihre Kinder zu Hause mit der Unterstützung anderer Frauen, aber Ivy, nicht ganz einen Meter zwanzig groß und deshalb nicht selten mit einer Pygmäin in Strickjacke verwechselt, auch wenn sie das Temperament eines Ogers hatte, wäre niemals in der Lage gewesen, eine Hausgeburt ohne die Hilfe einer echten Hebamme und einer Handvoll Ärzte zu überstehen.

Das nächste Krankenhaus war das Royal Berkshire Hospital, und Ivy hatte keine andere Wahl. Sie musste dorthin, um ihr Kind zu bekommen, und brachte einen strammen Jungen zur Welt: Tory. Ein paar Jahre später kehrte sie zurück und produzierte Zwillinge: meinen Vater Frank und seine Schwester Prissy. Ivys Jüngster und absoluter Liebling, Joseph, folgte zwei Jahre danach.

Ivy und mein Großvater, Old Noah, waren echter Zigeuneradel, und das Engagement, das die Leute im Royal Berks ihnen entgegengebracht hatten, blieb in Erinnerung. Als Joseph geboren wurde, kamen bereits alle neuen Zigeunerbabys dort zur Welt.

Reading ist eine große Stadt vor den Toren Londons. Sie besitzt keine besonderen Sehenswürdigkeiten oder Attraktionen, aber das Royal Berks bescherte ihr die höchsten Besucherzahlen unter den Zigeunern im ganzen Land. Sobald der Geburtstermin näher rückte, fanden sich fast alle Familien auf einem der vielen Campingplätze rund um die Stadt ein.

Als ich an der Reihe war, geschah es in Anwesenheit von meinem Vater, Großvater Noah, Granny Ivy, meiner anderen Granny Bettie, Tante Minnie - der Schwester meiner Mutter - und deren Mann Onkel Jaybus. Unter Zigeunern waren Geburten, wie Hochzeiten und Beerdigungen, Ereignisse, die man gemeinsam erlebte, und diese hier gehörte erst recht dazu, nicht nur weil meine Mutter Herzgeräusche hatte und man sich um ihre Gesundheit sorgte, sondern vor allem, weil die ganze Familie fest davon ausging, dass sie ihnen einen Jungen schenken würde.

Meine Eltern hatten bereits eine Tochter, meine Schwester Frankie, und deshalb musste dieses Baby hier einfach der Sohn sein, auf den mein Vater gewartet hatte.

Als man mich meiner Mutter in die Arme legte, sagte Granny Ivy mit ihren schwarz gefärbten bauschigen Haaren, dem Mund voller Goldzähne und dem Körperbau eines Kindes: »Das ist das fetteste Kind, das ich je gesehen habe, Bettie! Ein kleiner Schweinejunge.«

Alle anderen, die sich um das Bett versammelt hatten, kicherten, nickten und strichen sich zustimmend übers Kinn.

Ich habe keine Ahnung, wie schwer ich war - oder wie ich aussah -, aber die Nacht, in der Bettie Walsh ein Schweinchen zur Welt brachte, ist in die Familiengeschichte eingegangen.

Jahrelang prahlte meine Mutter damit, dass ich sie fast umgebracht hätte. Meine gesamte Kindheit hindurch hörte ich die Frauen gackernd und johlend über den Tag reden, an dem Bettie ihr Riesenferkel nach Hause brachte. Wenn es einen Preis für das größte, hässlichste und fetteste Baby gegeben hätte, dann hätte ich den größten, hässlichsten und fettesten Pokal bekommen. Und nachdem ich unzählige Male dasitzen und höflich mitanhören musste, wie erschrocken alle bei meinem Anblick gewesen waren, war ich der Ansicht, ihn auch verdient zu haben.

Das Erste, was mein Vater gleich nach meiner Geburt tat, war, mir eine goldene Kette mit einem winzigen Paar goldener Boxhandschuhe um den Hals zu hängen. Die Kette war angefertigt worden, bevor sie überhaupt gewusst hatten, dass ich ein Junge werden würde; sie war ein Symbol künftigen Ruhms und der größten Hoffnung meines Vaters.

In jedem Land gibt es einen Mann, der die Krone im Lieblingssport der Zigeuner trägt: Bare-Knuckle Fighting - Boxen mit bloßen Händen. Diese Krone ist der Heilige Gral unter den Männern; doch selbst, wenn sie es nicht unbedingt auf die Krone abgesehen haben, ist das Kämpfen Teil ihres Alltags. Für einen Zigeunermann wäre es unmöglich, sich in Gesellschaft anderer Zigeunermänner zu bewegen, ohne immer wieder zum Kampf aufgefordert zu werden. Und wer herausgefordert wird, muss diese Herausforderung annehmen. Egal wie gering seine Chance ist, zu gewinnen, er muss seine Ehre verteidigen, auch wenn er bloß als blutige und geschundene Kerbe im Gürtel eines ehrgeizigen Fighters endet - oder häufiger, irgendeines Arschlochs, das sich gerne prügelt.

Jeder Mann, der eines Tages die Krone tragen will, muss vorher eine ganze Kompanie von Gegnern bekämpfen - und besiegen. Und das Leben eines wahren Zigeuner-Champions ist hart. Um es zu bleiben, muss er ständig kämpfen, denn es gibt immer einen neuen, ehrgeizigen, jüngeren Herausforderer, der nur darauf wartet, seinen Platz einzunehmen.

Das ist der Grund, warum unsere Familie als etwas Besonderes betrachtet wurde, denn sie trug die Bare-Knuckle-Krone, seit mein Urgroßvater Mikey sie zum ersten Mal gewonnen hatte.

Er war während des Blitzkriegs aus Osteuropa nach Großbritannien gekommen - heimatlos und ohne Geld, mit seiner Frau und ihren Kindern: drei Söhne und zwei Töchter. Der Krieg hatte die Zigeuner, von den Nazis gehasst und verfolgt, beinahe ausgerottet. In Europa waren nicht wenige davon überzeugt, dass wir bereits ausgelöscht waren und nur noch als winzige Fußnote zu den anderen Völkern und Kulturen existierten, die dem Holocaust zum Opfer gefallen waren. Doch ein paar von uns hatten überlebt. Und in den Jahren nach dem Krieg kamen sie zusammen und bauten ihre Gemeinschaft wieder auf.

Als meine Urgroßeltern nach Großbritannien kamen, nutzten sie jede Möglichkeit, um Geld zu verdienen. Mikeys Frau Ada verkaufte Glücksbringer und sagte die Zukunft voraus, während er für Geld boxte und die Fäuste gegen jeden erhob, der bereit war, ein paar Pfund in den Ring zu werfen. Die beiden verdienten bald gutes Geld, und Mikeys Ruf als Kämpfer wuchs.

Bald hatten sie genug, um sich ein Stück Land zu kaufen, und auf diesem errichteten sie ein Camp, ein Zuhause für Zigeuner, um sie von den Straßenrändern, Feldern und Rastplätzen zu holen. Sie verlangten bezahlbare Mieten, boten gute Gesellschaft, Unterbringung für die Tiere und Schutz vor den Vorurteilen der Außenwelt. Und die Zigeuner standen förmlich Schlange, um bei ihnen ihre Zelte aufzuschlagen.

Mein Urgroßvater Mikey musste nicht länger kämpfen, um Geld zu verdienen, aber seine Gier nach Blut und dem Triumph des Sieges hatte er nicht verloren. Und so wurde es sein Schicksal, weiterzukämpfen. Jeder mutige junge Kämpfer im Land, der Ruhm suchte, wollte sein Glück gegen den Champion versuchen. Und Mikey besiegte sie alle, bis er schließlich nach vielen Jahren unbesiegter Glückseligkeit zu alt wurde, um gegen jüngere, stärkere Männer zu bestehen, und geschlagen wurde. Sein Sohn Noah, der damals noch zu jung war, um zu kämpfen, schwor, sich sein Geburtsrecht zurückzuholen, und als er sechzehn war, tat er genau das. Er boxte den Mann, der einst seinen Vater besiegt hatte, in Grund und Boden.

Fest entschlossen, die Krone von nun an in der Familie zu halten, erzog Noah seine Söhne zu wahren Gladiatoren unter den Zigeunern. Von Kindesbeinen an zwang er seine Jungs, gegen erwachsene Männer zu kämpfen und sogar gegeneinander, bis sie jegliche Angst und Skrupel verloren hatten.

»Schlag sie, dass sie nie wieder aufstehen. Ein. Guter. Treffer. Puste den Mann aus wie eine Kerze«, wiederholte er immer wieder, und diese Sätze wurden für seine Söhne zum Mantra.

Als mein Vater in die Pubertät kam, hatte er bereits so ziemlich jeden Mann im gesamten Land, der einen Kampf wert gewesen war, geschlagen. Er sehnte sich nach der Krone und der Anerkennung seines Vaters, die sie ihm gebracht hätte. Doch eben diese Krone, die mein Vater so gerne gehabt hätte, gehörte bereits seinem älteren Bruder Tory, der nicht nur der beste Kämpfer unter den Zigeunern war, sondern auch deutlich reicher und besser aussah als mein Vater. Außerdem war er der absolute Liebling ihres Vaters. Er war so erfolgreich, dass er sogar außerhalb der Zigeuner-Gemeinschaft zum Box-Champion wurde.

Gegen seinen Bruder hatte mein Vater keine Chance, und nun, da er seine eigenen Hoffnungen hatte begraben müssen, konzentrierte er sich auf seinen Sohn. Er war fest davon überzeugt, dass ich der Kämpfer sein würde, der alle anderen besiegte, auch die beiden strammen Söhne meines Onkels Tory, Tory junior und Noah, die sich, obwohl sie damals selbst kaum mehr als kleine Kinder waren, bereits darauf vorbereiteten, Box-Champions zu werden.

Meine beeindruckende Größe und Hässlichkeit bei der Geburt bestärkten meinen Vater nur noch in seinem Enthusiasmus. Und sobald die Kette mit den goldenen Handschuhen um meinen Hals hing, forderte er einen entsprechenden Namen für mich.

Meine Mutter mochte die beliebten Zigeunernamen wie Levoy, John, Jimmy oder Tyrone nicht besonders. Mit ihrem Faible für den Achtziger-Jahre-Glamour von Denver Clan wollte sie mich unbedingt Blake nennen - was mein Vater und seine Familie, besonders Old Noah, ebenso unbedingt verhindern wollten.

»Das ist ein verdammt hässlicher Bastard«, sagte er zu meinen Eltern. »Den könnt ihr nicht Blake nennen.«

Meine Mutter war die raue und direkte Art ihres Schwiegervaters mittlerweile gewohnt, aber diesmal war er zu weit gegangen. Sie bestand darauf, dass ich Blake heißen sollte - bis mein Vater sich einmischte und erklärte, ich solle nach seinem Großvater benannt werden, dem großen alten Box-Champion...

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Autor

Mikey Walsh wurde 1980 als erster Sohn einer Roma Familie geboren. Er verließ seine Community mit fünfzehn Jahren nach einer Kindheit voller Gewalt und Missbrauch, weil er als schwuler Mann nicht akzeptiert worden wäre. Heute lebt er in London, arbeitet als Lehrer für Kunst und Schauspiel und engagiert sich für die Rechte Homosexueller.