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E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
544 Seiten
Deutsch
Penguin Random Houseerschienen am04.03.2019
Intensiv, lustig, hemmungslos und ergreifend - ein Buch voller Wahrheit
Ben hat die Nase voll von seinem geizigen Vater und seiner psychotischen Mutter. Ihn langweilt sein tristes Leben, nur ab und zu unterbrochen von kurzen Glücksmomenten beim Benzinschnüffeln. Gemeinsam mit seinem älteren Bruder Rikki macht er sich auf die Suche nach einem neuen Leben, nach seinem Leben, und nichts und niemand wird ihn aufhalten. Ziel ist Stavanger, ein paar Kilometer weiter nördlich. Dort lebt sein Onkel Rudi, der sich einen Dreck schert um Recht und Gesetz. Allein das große Geld zählt. Ben und Rikki verlassen ihr Zuhause mit der kleinen Hoffnung auf ein bisschen Glück, doch das Schicksal hat etwas anderes mit ihnen vor.

Tore Renberg (geb. 1972) nimmt in der norwegischen Literatur einen außergewöhnlichen Platz ein, da sein literarisches Werk eine große Spannbreite umfasst. Er ist einer von Norwegens populärsten und erfolgreichsten Autoren, vielfach preisgekrönt, seine Bücher erscheinen in 23 Ländern. Die Lungenschwimmprobe ist sein erster historischer Roman, für den er vor Ort in Leipzig akribisch recherchiert hat.
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Produkt

KlappentextIntensiv, lustig, hemmungslos und ergreifend - ein Buch voller Wahrheit
Ben hat die Nase voll von seinem geizigen Vater und seiner psychotischen Mutter. Ihn langweilt sein tristes Leben, nur ab und zu unterbrochen von kurzen Glücksmomenten beim Benzinschnüffeln. Gemeinsam mit seinem älteren Bruder Rikki macht er sich auf die Suche nach einem neuen Leben, nach seinem Leben, und nichts und niemand wird ihn aufhalten. Ziel ist Stavanger, ein paar Kilometer weiter nördlich. Dort lebt sein Onkel Rudi, der sich einen Dreck schert um Recht und Gesetz. Allein das große Geld zählt. Ben und Rikki verlassen ihr Zuhause mit der kleinen Hoffnung auf ein bisschen Glück, doch das Schicksal hat etwas anderes mit ihnen vor.

Tore Renberg (geb. 1972) nimmt in der norwegischen Literatur einen außergewöhnlichen Platz ein, da sein literarisches Werk eine große Spannbreite umfasst. Er ist einer von Norwegens populärsten und erfolgreichsten Autoren, vielfach preisgekrönt, seine Bücher erscheinen in 23 Ländern. Die Lungenschwimmprobe ist sein erster historischer Roman, für den er vor Ort in Leipzig akribisch recherchiert hat.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783641219376
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2019
Erscheinungsdatum04.03.2019
Seiten544 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1856 Kbytes
Artikel-Nr.4170731
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe


1    Benzin am Gravarslia

Die Temperaturen sanken.

Von einem Oktobertag zum anderen war es Herbst, und für die Leute im Vestlandet hieß es ab jetzt wieder frieren. Die Luft wurde frischer, sie stach auf der Haut, und Wolken trieben über dem Gandsfjord. Zeit, sich einen Schal um den Hals zu schlingen, Zeit, die seit letztem Winter im Keller verstaute Jacke rauszukramen, die knielange, die richtig warm hält, und Rikki und Ben kotzte es verdammt an, dass sie sich die Ärsche abfroren, als sie an diesem Montagabend mit Kiwi-Einkaufstüten und einer Plastikflasche bewaffnet zwischen den paar Bäumen am Gravarslia hockten und Benzin schnüffelten. Während sie darauf warteten, dass sie der Kraftstoff anheizte, ruhte ihr Blick auf dem Jahrmarkt, der unten am Maxi-Markt-Parkplatz stand wie ein bunter Geburtstagskuchen, entzündet in der Dunkelheit von Sandnes.

Rikki rutschte die Tüte zuerst aus der Hand, und langsam glitt er rückwärts ins Gras. Endlich kam das Gefühl, dass die Zunge hinter seinen kreuzbissigen Kauern zu einer fetten Sohle wurde. Endlich kapitulierte die Kieferklemme, sackte der Vorbiss in Richtung Boden, und in der Mundhöhle machten die Zähne sich quasi locker. Rikki seufzte, und auf seinen aufgesprungenen Lippen breitete sich ein schiefes Grinsen aus. Ein paar Sekunden lang versuchte er, den oberhalb der Baumwipfel funkelnden Sternenhimmel zu betrachten, dann gab er auf und konzentrierte sich lieber auf das Karussell in seinem Kopf.

Kurz darauf sank neben ihm sein jüngerer Bruder Ben ins Gras, auch ihm hatte das Benzin ganz schön eingeheizt, doch er machte die Augen nicht zu. Er riss sie auf, sie strahlten. Seine feminin weiche Gesichtshaut glühte glimmerbraun, seine ozeangrünen Augen funkelten mit dem Sternenhimmel um die Wette, und seine vollen Lippen waren leicht geöffnet.

»Hörst du Musik, ey?«, murmelte Rikki.

»Musik?«, kam es nach einer langen Pause von Ben.

»Mhm?«

»Musik, Musik, Musik«, wiederholte Ben, und sein Blick fraß sich wie ein schnappender Mund von Stern zu Stern.

»Ja, Musik. Hörst du ´ne Musik, ey?«

Bei einem Stern hielt Ben inne und liebkoste ihn regelrecht. »Neein ... Ich hör Hubschraubergeräusche ... Musik?«

»Jaa ... Hörst du keine Musik?«

Ben schüttelte langsam den Kopf und streckte die Zungenspitze nach dem Stern aus, leckte ihn sauber. »Nein, ich hör keine Musik.«

»Ich hör Musik«, murmelte Rikki mit noch immer geschlossenen Augen. »Faithless.«

»Hm.« Ben nickte. »Ich hör Faithless nicht.«

»Ich schon. Und zwar verdammt laut. Mit verdammt viel Bass.«

»Mhm.«

»Dieses, äh ... God is a DJ «, nuschelte Rikki.

Mühsam stemmte Ben den Oberkörper etwas hoch und betrachtete seinen abgeschossenen großen Bruder. »Läuft nur in deinem Kopf«, sagte er, tätschelte sich leicht die Wangen und zupfte den vom Herumliegen im Gras total verkrumpelten Hoodie zurecht.

»Mmmmmmhm, meinem Kopf, scheißgut.«

Mit Schwung wuchtete sich Ben in die Hocke und stand auf. Seine Beine zitterten, die Muskeln schwächelten. Er kramte das Feuerzeug und eine Prince aus der Hoodietasche und sog die kalte Luft durch die Zähne. Die Flamme des Feuerzeugs warf ein zitterndes Licht auf seine reine Haut. Ben nahm einen tiefen Zug, das Benzingas fickte noch immer sein Sehvermögen, hoffentlich beruhigte es sich bald.

»Eigentlich gehen wir nie auf den Jahrmarkt«, stellte er fest.

Rikki hörte nicht, was sein Bruder sagte. In seinem Kopf spielte gerade Faithless. Jetzt war Konzert. Gigantische Scheinwerferkegel glitten über seinen Gehirnhimmel. Ohne Kopfhörer im Körper deepen Technogroove zu erzeugen, das war echt pyro.

Ben trat auf dem Plateau drei Schritte nach vorn, vor die Eichen mit den dicken Wurzeln, blieb breitbeinig stehen und sah zum Jahrmarkt hinunter. Ein Blitzen und Blinken, monoton, beschwörend, wie eine abstrakte Installation. Ein gotischer Geräuschbrei stieg zu ihnen herauf, ein Durcheinander aus Schreien von Kindern, die in rotierenden Tassen lauthals kreischten, von Jugendlichen, die zwanzig Meter in die Höhe katapultiert wurden und sofort wieder in die Tiefe stürzten. Maschinendröhnen, Kolbenschläge. Ben klemmte sich die Zigarette zwischen die Schneidezähne und schob den Unterkiefer leicht vor und zurück.

So war das oft. Während Rikki sich mit Benzin richtig zudröhnte, war Ben nur die ersten Meter mit am Start. Es kam schon vor, dass sie zum Beispiel auf einer Party landeten und Rikki wie immer alles voll ausreizte, während sich Ben gegen Mitternacht ins nächtliche Dunkel verdrückte, herumstand, nachdachte und mit dem Mond eine rauchte.

»This is my church«, hörte er von hinten.

Ben nahm noch einen Lungenzug und schnipste die Kippe in die Nacht. Er drehte sich um, sein Bruder lag ausgestreckt wie ein Engel mit Hoodie unter dem Baum.

»This is my church«, wiederholte Rikki, und sein Lächeln reichte jetzt fast bis zu den Ohren.

»Jedem seine Kirche, Rikki«, flüsterte Ben.

Er wandte sich wieder dem glitzernden Jahrmarkt zu, der seinen Augen so gut gefiel, als wäre sein Blick ein kleines Kind und die Farben dort unten eine Babyrassel.

Bis Ben sechs gewesen war und Rikki sieben, hatte kaum jemand die zwei Söhne von Melissa Dahle und Frank Martin Digervold unterscheiden können. Sie hatten in ihrem Garten oben in Trones gespielt, wie Jungs es eben tun, also laut, und waren einander im Aussehen ähnlich gewesen. Im Sommer 2003 änderte sich das. Klein Bens Blick bekam plötzlich eine Schärfe. Er ging auf Distanz zur Welt, vor allem zu seinem Bruder. Wenn Melissa den beiden morgens Klamotten raussuchte, weigerte er sich, das Gleiche wie Rikki anzuziehen. Wenn es Zeit war fürs Abendessen, setzte er sich möglichst weit von seinem Bruder weg ans entgegengesetzte Tischende. Wenn Rikki weinte, lachte Ben. Wenn Rikki rannte, stand Ben still. Mehr und mehr musterte er seine Umgebung, er sah die Leute an, als schätzte er sie ab, wie ein Erwachsener, von Kopf bis Fuß. Wen er aber mit dem größten Interesse betrachtete, war sein großer Bruder Rikki. Als nähme er dessen Maße, Größe, Breite, Umfang, Tiefe und stellte all das sich selbst gegenüber. Als bildete der kleine Kerl seine Persönlichkeit förmlich im Kontrast zu der von Rikki aus. Als empfände er es als Beleidigung, einem anderen Menschen mal so ähnlich gewesen zu sein.

Im selben Sommer veränderte sich auch Bens Aussehen, und jetzt wurde es leicht, die beiden zu unterscheiden. Bens Augen wurden anders, das Haar bekam einen anderen Glanz, die Haut einen anderen Teint. Er sah zusehends der Familie mütterlicherseits ähnlich, worüber Melissa sich freute, denn in der Dahle-Familie hatte man extrem intensive Augen, rosige Haut und war bekannt dafür, schöne Kinder in die Welt zu setzen.

Was da aber sonst noch in Ben heraufzog, verwirrte sie. Sprach man mit ihm, antwortete er nicht. Er starrte einfach mit einer auffälligen, fast schon überheblichen Geistesabwesenheit ins Leere. Irgendwelche strahlte er eine unbehagliche Einsamkeit aus, war seltsam in sich gekehrt, und an manchen Tagen schien es ihr schon an der Grenze des Unnatürlichen, dass er so selten, ja so gut wie nie Angst hatte.

Rikki hingegen, der hatte Angst. Und während Ben nach und nach Gestalt annahm, bewunderte Rikki seinen kleinen Bruder immer mehr. Für ihn waren Bens Finger aus Eisen und die Hornhaut in Bens Augen aus kugelsicherem Glas. Anscheinend war in Ben eine Fabrik am Werk, eine, die ihn zu einem furchtlosen Superhelden umbaute. Rikki wünschte sich, auch so zu sein, er stand vor dem Spiegel und bat seinen Körper, doch vielleicht auch bald dem von Ben zu ähneln, aber sein Körper wollte und wollte einfach nicht. Rikki war ein grobes Stück Holz, und sein Geist blieb schlicht. Er entwickelte nichts von der Schönheit seines Bruders und noch weniger von dessen Exklusivität. So wirkte Ben nach und nach abstrakt und quasi übervoll, Rikki aber begreiflich und vorhersehbar. Er bekam Pickel und furchige Haut, die Stimme wurde raspelig, und alles an ihm erinnerte an die Familie väterlicherseits, wo sich alle anhörten, als hätten sie gegen den Sturm angebrüllt, seit sie aus dem Mutterleib geplumpst waren.

Ein Schwätzer war er sowieso, als schlechter Schüler sollte er sich bald erweisen, und wie fast alle Digervold-Männer hatte er keine Geduld. Ein gewöhnlicher und taktloser, riesiger Schlaks. Das Schlimmste aber waren seine Zähne. Die sahen aus, als hätte man ihm den Mund aufgesperrt, dann die Zähne in den Schlund geschleudert, und wo sie auch gelandet waren, hatten sie direkt Wurzeln geschlagen.

Von einer Zahnspange für den Jungen konnte Melissa aber lange träumen, denn einen größeren Geizkragen als Frank Martin Digervold hatte es am letzten Ende des Gandsfjord noch nie gegeben. Wir verbessern jetzt also die Natur, hä?, hatte Frank Martin nur gefragt. Und du willst dann bald Botox, oder wie? Und einen neuen Vorbau?

Wenn sie die Zähne dieses Waldtrolls in Ordnung bringen wolle, dann müsse Rikki schon selbst dafür aufkommen, meinte Frank Martin und zog seinem Sohn die Kosten für die Spange vom Taschengeld ab, das er sowieso schon bis auf die Knochen abgespeckt hatte, als Strafe für...

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Autor

Tore Renberg, 1972 in Stavanger geboren, ist Schriftsteller und Musiker. Seit seinem Debüt 1995 hat er mehrere preisgekrönte Romane geschrieben, die durch ihre Sprachgewalt für Aufsehen sorgten. Der kommerzielle Durchbruch gelang mit »Mannen som elsket Yngve« (»Der Mann, der Yngve liebte«), der zu einem der meistgelesenen Romane des Jahrzehnts in Norwegen avancierte und später erfolgreich verfilmt wurde.