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Das grüne Auge

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
213 Seiten
Deutsch
Lenos Verlagerschienen am15.03.2021
Eine junge Frau auf einer Insel der Komoren schenkt einem Jungen das Leben. Er hat ein schwarzes und ein grünes Auge, Zeichen eines Fluchs, wie sie glaubt. Verzweifelt bringt sie das Neugeborene auf gefährlicher Route übers Meer auf die Nachbar­insel Mayotte, die zu Frankreich gehört, und überlässt es dort der Krankenschwester Marie. Diese nennt den Jungen Moïse und gibt sich Mühe, dem Kind ein liebevolles Zuhause zu bieten. Doch als Marie unerwartet stirbt, ist Moïse auf sich allein gestellt. Er schliesst sich einer der Jugendbanden an, die die Strassen des Elendsviertels beherrschen, das alle Gaza nennen. Hier behauptet ihr Anführer Bruce mit Drogenhandel und roher Gewalt seine Autorität. Für Moïse eine neue Welt, die ihn auf der Suche nach seinen Wurzeln nicht mehr loslässt. Nathacha Appanah erzählt mit poetischer Kraft von der brutalen Lebensrealität einer Jugend, die sich selbst überlassen ist. Sie rückt einen wenig beachteten Teil Frankreichs in den Fokus. Und nicht zuletzt ist ihr Roman auch eine Fabel über Abstammung und Identität. Der Roman wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Prix France Télévisions und dem Prix Femina des lycéens. Ausserdem war er nominiert für den renommierten Prix Goncourt.

Nathacha Appanah, geboren 1973 in Mahébourg (Mauritius). Die Autorin und Journalistin mit indischen Wurzeln lebt seit 1998 in Frankreich, 2008-2010 lebte sie auf Mayotte. Sie veröffentlichte Artikel u.a. in der Zeitschrift 'GEO' und im 'Air France Magazine' sowie Reportagen auf France Culture und RFI. Ihr literarisches Werk umfasst sieben Romane und mehrere Essays. Sie wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Auf Deutsch erschienen bislang 'Blue Bay Palace' und 'Der letzte Bruder'.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR22,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR15,99

Produkt

KlappentextEine junge Frau auf einer Insel der Komoren schenkt einem Jungen das Leben. Er hat ein schwarzes und ein grünes Auge, Zeichen eines Fluchs, wie sie glaubt. Verzweifelt bringt sie das Neugeborene auf gefährlicher Route übers Meer auf die Nachbar­insel Mayotte, die zu Frankreich gehört, und überlässt es dort der Krankenschwester Marie. Diese nennt den Jungen Moïse und gibt sich Mühe, dem Kind ein liebevolles Zuhause zu bieten. Doch als Marie unerwartet stirbt, ist Moïse auf sich allein gestellt. Er schliesst sich einer der Jugendbanden an, die die Strassen des Elendsviertels beherrschen, das alle Gaza nennen. Hier behauptet ihr Anführer Bruce mit Drogenhandel und roher Gewalt seine Autorität. Für Moïse eine neue Welt, die ihn auf der Suche nach seinen Wurzeln nicht mehr loslässt. Nathacha Appanah erzählt mit poetischer Kraft von der brutalen Lebensrealität einer Jugend, die sich selbst überlassen ist. Sie rückt einen wenig beachteten Teil Frankreichs in den Fokus. Und nicht zuletzt ist ihr Roman auch eine Fabel über Abstammung und Identität. Der Roman wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Prix France Télévisions und dem Prix Femina des lycéens. Ausserdem war er nominiert für den renommierten Prix Goncourt.

Nathacha Appanah, geboren 1973 in Mahébourg (Mauritius). Die Autorin und Journalistin mit indischen Wurzeln lebt seit 1998 in Frankreich, 2008-2010 lebte sie auf Mayotte. Sie veröffentlichte Artikel u.a. in der Zeitschrift 'GEO' und im 'Air France Magazine' sowie Reportagen auf France Culture und RFI. Ihr literarisches Werk umfasst sieben Romane und mehrere Essays. Sie wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Auf Deutsch erschienen bislang 'Blue Bay Palace' und 'Der letzte Bruder'.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783857879883
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2021
Erscheinungsdatum15.03.2021
Seiten213 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1009 Kbytes
Artikel-Nr.5669165
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Marie

Sie müssen mir glauben. Woher ich zu Ihnen spreche, da nützen falscher Schein und Lügen nichts. Wenn ich den Meeresgrund betrachte, sehe ich Männer und Frauen mit Dugongs und Quastenflossern schwimmen, ich sehe Träume an den Algen hängen und Säuglinge in den Weihwasserbecken schlafen. Von da, wo ich zu Ihnen spreche, gleicht dieses Land einem glühenden Staubkorn, und ich weiss, dass ein Nichts genügen wird, damit es Feuer fängt.

Ich erinnere mich nicht an mein ganzes Leben, denn hier bleibt nur der Rand der Dinge übrig und das Geräusch von allem, was nicht mehr ist.

Daran erinnere ich mich.

Ich bin dreiundzwanzig, und der Zug fährt ein, blau und schmutzig. Ich verlasse das Tal meiner Kindheit, wo ich ein schwaches, verlorenes, von den Bergen erdrücktes kleines Ding war. Ich kann das Schwarz des Winters nicht mehr sehen, das auf die Häuser und die Gesichter heruntertropft, ich ertrage den Schimmelgeruch nicht mehr, der schon frühmorgens in der Luft liegt, ich ertrage meine Mutter nicht mehr, die den Kopf verliert, dauernd redet und den ganzen Tag Chansons von Barbara hört.

Ich bin vierundzwanzig und immer noch gleich schwach und verloren. Ich schliesse in einer grossen Stadt meine Ausbildung zur Krankenschwester ab. Ich lebe in einer geräumigen Wohnung mit drei anderen Studentinnen zusammen, und es gibt Abende, da wirken der Lärm, das Licht und die Gespräche auf mich wie ein schwarzes Loch, das mich verschlingt. Ich habe mehrere Liebhaber, ich bumse wie eine Frau, die ich nicht kenne und die mich ein wenig anekelt. Ich nehme, verlasse, nehme von neuem, und niemand sagt etwas. Ich beschliesse, nachts zu arbeiten, im Krankenhaus. Manchmal strecke ich mich auf den aufgedeckten, noch warmen Betten aus und versuche mir vorzustellen, wie es ist, jemand anders zu sein.

Ich bin sechsundzwanzig, und ich lerne Chamsidine kennen, der Krankenpfleger ist wie ich. Als er mich zum ersten Mal anspricht, geschieht etwas Merkwürdiges mit mir. Mein Herz, dieses solide in meiner Brust befestigte Organ, sinkt in meinen Plexus hinunter und schlägt von nun an hier, in meiner Mitte, meinem Zentrum. Chamsidine hat breite Schultern und kann einen erwachsenen Mann in den Armen tragen, ohne das Gesicht zu verziehen. Wenn er lächelt, muss ich tief in den Bauch atmen, um nicht ohnmächtig zu werden. Wenn er lacht, mit seinem schallenden, sprudelnden Lachen, spüre ich, wie mein Geschlecht sich öffnet wie eine Blume, und ich presse die Beine zusammen. Alle Krankenschwestern sind ein bisschen in diesen grossen Schwarzen vernarrt, der von einer Insel kommt, die Mayotte heisst, aber er entscheidet sich für mich, ich weiss nicht, warum, an einem Abend, als ich Dienst habe. Ich bin schüchtern, vor diesem Mann. Ich bin sechsundzwanzig und ich falle. Er spricht zu mir, als hätte er schon lange auf mich gewartet. Er erzählt mir Geschichten und Legenden aus seiner Heimat, erzählt, was ihm als Kind passiert ist, wie er einmal dies gemacht hat, wie ihm seine Mutter jenes sagte, und ich höre wortlos zu, hingerissen. Ich habe das Gefühl, Cham habe auf einer fruchtbaren grünen Kinderinsel gelebt, einer Insel, auf der von morgens bis abends gespielt wird und wo die Tanten, Cousinen und Schwestern alles wohlwollende Mütter sind. Wenn ich morgens aufstehe in der lärmigen Stadt, denke ich an dieses Land.

Ich bin siebenundzwanzig und ich heirate. Ich erinnere mich nicht an mein Kleid, aber ich erinnere mich, dass meine Mutter mit mir vor dem Rathaus wartet. Der Wind ist so stark, dass er die Töpfe mit den Buchsbäumen, die im gepflasterten Hof des Rathauses stehen, umgeworfen hat. Chamsidine verspätet sich. Meine Mutter sagt Pass auf, Marie, die Männer sind alle gleich. Da kommt Cham dahergelaufen, er lacht.

Ich bin achtundzwanzig und lebe auf Mayotte, einer französischen Insel, die in der Strasse von Mosambik liegt. Wir haben den ersten Stock eines Hauses in der Gemeinde Passamainti gemietet, ein paar Kilometer von der Hauptstadt Mamoudzou entfernt. Ich arbeite als Nachtschwester im CHR, dem Regionalkrankenhaus. Chamsidine hat eine Stelle in der Klinik von Dzaoudzi. Jeden Morgen, wenn ich um sechs Uhr früh meinen Dienst beende, gehe ich, wie auch immer meine Nacht gewesen ist, wie hart der Dienst auch gewesen sein mag, langsam, leicht, so leicht durch den Morgen. Ich laufe den Abhang hinunter und weiss, dass das kleine Mädchen auf mich wartet. Sie ist rot vom Staub, ihre Hände und Füsse sind grob wie jene der Arbeiter, ihre Haare schmutzig und grau. Sie wartet auf mich und lächelt. Bevor ich den Dienst verliess, habe ich aus der Cafeteria mitgenommen, was herumlag, eine Packung Kekse, eine Orange, einen Apfel. Zwischen ihr und mir ist eine seltsame Verbindung entstanden, seit ich hier arbeite. Ich bleibe vor ihr stehen, sie lächelt mich an, und ich gebe ihr, was ich zu geben habe. Sie sagt nie etwas, nie guten Tag, nie danke, nie auf Wiedersehen. Sie streckt rasch die Hand aus, ich spüre, dass sie nicht den Eindruck erwecken will, sie bettle, übrigens sieht sie mich an, sie blickt mir in die Augen, nie auf das, was ich ihr in die Hand lege. Sie schliesst sogleich die Finger und versteckt ihre Hand hinter dem Rücken. Ihr Lächeln wird etwas breiter. Das ist ein kleiner Bonus, dem kleinen Nichts entsprechend, das ich ihr gebe. Ich weiss nicht, ob sie Französisch versteht. Ich habe ihr nie meinen Namen gesagt und sie nie nach ihrem gefragt. Vielleicht lebt sie in der Wellblechhütte, die ich zwischen den kümmerlichen Bäumen auf dem Hügel erkenne. Vielleicht lebt sie versteckt in den Wäldchen wie viele Familien illegaler Einwanderer. Vielleicht wird das, was ich ihr gebe, unter mehreren Leuten geteilt. Vielleicht. Aber an diese Sachen denke ich nicht viel. Ich tue, was ich tue, das kostet mich nichts, sie muss mir deswegen nicht dankbar sein, es dauert kaum dreissig Sekunden, ich gehe weiter und vergesse das kleine Mädchen.

Ich verlangsame den Schritt vor der bunten Menschenansammlung, die darauf wartet, dass die Büros der Präfektur aufmachen. Die Gespräche scheinen unbeschwert, die Sonne ist noch zurückhaltend. Die blauweissrote Flagge flattert hoch. Vor dem geschlossenen Gitter kann man noch darauf hoffen, eine Nummer zu ergattern, dank der man bei einem Beamten vorstellig werden und ihm, endlich, seinen Fall, sein Leben, das Wie und Was erklären, die Unterlagen mit dem Gesuch um eine Aufenthaltserlaubnis hinterlegen, eine Empfangsbescheinigung verlangen, sich nach einer Aufenthaltskarte erkundigen, auf eine Verlängerung, auf Gehör, einen Aufschub, ein »Sesam, öffne dich« hoffen kann.

Auf der anderen Seite des Gehsteigs, sozusagen gegenüber, befindet sich eine andere bunte Menschenansammlung, jene vor der Krankenstation. Pro Tag werden hundert Nummern verteilt, und es gibt Leute, die seit vier Uhr morgens warten. Auch hier ist es noch ruhig. Wenn ich vorbeikomme, berühren sich die beiden Gruppen fast, ich bin mittendrin, ich frage mich, wie viele von ihnen, rechts oder links, in Kwassa-kwassas hier gelandet sind, diesen behelfsmässigen Booten, in denen sich die illegalen Einwanderer zusammendrängen, die von den anderen Inseln des Komorenarchipels herüberkommen.

Ich erinnere mich an dies: Ich schlängle mich unauffällig zwischen den beiden Gruppen durch, als würde ich zwischen zwei scharfen Messerklingen durchschlüpfen, und einmal auf der anderen Seite angekommen, kann ich nicht anders, als tief Luft zu holen, wie erleichtert.

Ich gehe weiter bis zum Pier; unterwegs kaufe ich Bananen, Paprika, Tomaten. Ich atme die Gerüche dieses Landes ein, das ich so liebe, ich schaue auf den Grund des Wassers, ich bewundere die Frauen. Ich beobachte gern die Kinder, die in der Reede tauchen. Sie nehmen auf der Betonmole Anlauf, ihre dünnen schwarzen Beine flitzen rasend schnell vorbei. Am Ende angekommen, springen sie mit angezogenen Knien, ausgebreiteten Armen und einem Freudenschrei in den Ozean.

Wenn die Fähre einläuft, dieses blauweisse Boot, das zwischen Petite-Terre und Grande-Terre hin- und herfährt, sehe ich schon von weitem Cham, jeden Tag schöner, jeden Tag unwirklicher in seiner Art, wie er mir gehört.

Wir gehen nach Hause, wir schlafen, wir lieben uns und erwachen mitten am Tag. Wenn ich nicht arbeite, betrachte ich gern die Nacht von unserem Balkon aus. An gewissen Stellen ist sie blau, an anderen schwarz. Die Sterne drängen sich zu Hunderten am Himmel. Ich liebe es, den Flügelschlag der Flughunde zu vernehmen. Auf der glatten Fläche des Meeres bewegen sich gelbe Punkte, wie Glühwürmchen. Es sind die Lichter der Fischerboote, die mit einer am Mast aufgehängten Öllampe ausfahren, um die Fische anzulocken.

Ich habe eine solche Lust auf dieses Land, eine Lust, alles zu nehmen, alles zu verschlingen, das Meer Schluck für Schluck, den Himmel Happen für Happen.

Ich bin neunundzwanzig, und Sie müssen mir glauben. Jeden Tag steigert sich die Erwartung, jeden Tag wächst die Hoffnung, ein Kind zu bekommen. Ich bete die Monate mit Träumen, Lachen und Liebkosungen herunter. Abzählreime steigen aus meiner Kindheit herauf wie durch Zauber, Tourne tourne petit moulin frappent frappent petites...
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Autor

Nathacha Appanah, geboren 1973 in Mahébourg (Mauritius). Die Autorin und Journalistin mit indischen Wurzeln lebt seit 1998 in Frankreich, 2008-2010 lebte sie auf Mayotte. Sie veröffentlichte Artikel u.a. in der Zeitschrift "GEO" und im "Air France Magazine" sowie Reportagen auf France Culture und RFI. Ihr literarisches Werk umfasst sieben Romane und mehrere Essays. Sie wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Auf Deutsch erschienen bislang "Blue Bay Palace" und "Der letzte Bruder".