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Das Buch vom Verschwinden

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
271 Seiten
Deutsch
Lenos Verlagerschienen am22.05.20231. Auflage
Was wäre, wenn um Mitternacht plötzlich die gesamte palästinensische Bevölkerung Israels auf unerklärliche Weise verschwände, als ob sie von Außerirdischen entführt worden wäre? Ariel, der Journalist, und Alaa, der Freelance-Kameramann, leben im selben Wohnhaus in Tel Aviv. Beide sind sie Israelis, Ariel ju?discher und Alaa palästinensischer Herkunft, beide lieben ihre Heimatstadt, in der sie aufwuchsen und Freunde geworden sind. Eines Morgens sind im ganzen Land die Palästinenserinnen und Palästinenser verschwunden. Der gesellschaftliche Verlust ist sofort spu?rbar, die Verwirrung riesengroß. Es fahren keine Busse mehr, im Spital fehlen Ärzte, der beste Hummusladen bleibt geschlossen. Handelt es sich um einen Generalstreik, einen geplanten Angriff? Oder gar um ein Wunder Gottes zur Rettung Israels? Auf der Suche nach Alaa findet Ariel in dessen Wohnung ein rotes Notizbuch, die Lebensgeschichte von Alaas Großmutter. Er nimmt sich vor, die Aufzeichnungen ins Hebräische zu u?bertragen und eine Chronik der Zeit vor dem Verschwinden zu verfassen. Ibtisam Azem gelingt ein eindru?ckliches, originelles Plädoyer wider das Vergessen und fu?r ein friedliches Zusammenleben.

Ibtisam Azem, geboren 1974 in Tayyibe (Israel), ist eine palästinensische Autorin und Journalistin. Sie studierte in Freiburg i.Br. Islamwissenschaften, Germanistik und Anglistik sowie in New York Sozialarbeit. In Berlin arbeitete sie fu?r die Deutsche Welle. Seit 2012 lebt Ibtisam Azem in New York, wo sie als UNO-Korrespondentin fu?r das Nachrichtenportal al-Araby al-Jadeed tätig ist. Sie ist Mitherausgeberin des Onlinemagazins Jadaliyya und hat zwei Romane veröffentlicht.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR26,00
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR18,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR15,99

Produkt

KlappentextWas wäre, wenn um Mitternacht plötzlich die gesamte palästinensische Bevölkerung Israels auf unerklärliche Weise verschwände, als ob sie von Außerirdischen entführt worden wäre? Ariel, der Journalist, und Alaa, der Freelance-Kameramann, leben im selben Wohnhaus in Tel Aviv. Beide sind sie Israelis, Ariel ju?discher und Alaa palästinensischer Herkunft, beide lieben ihre Heimatstadt, in der sie aufwuchsen und Freunde geworden sind. Eines Morgens sind im ganzen Land die Palästinenserinnen und Palästinenser verschwunden. Der gesellschaftliche Verlust ist sofort spu?rbar, die Verwirrung riesengroß. Es fahren keine Busse mehr, im Spital fehlen Ärzte, der beste Hummusladen bleibt geschlossen. Handelt es sich um einen Generalstreik, einen geplanten Angriff? Oder gar um ein Wunder Gottes zur Rettung Israels? Auf der Suche nach Alaa findet Ariel in dessen Wohnung ein rotes Notizbuch, die Lebensgeschichte von Alaas Großmutter. Er nimmt sich vor, die Aufzeichnungen ins Hebräische zu u?bertragen und eine Chronik der Zeit vor dem Verschwinden zu verfassen. Ibtisam Azem gelingt ein eindru?ckliches, originelles Plädoyer wider das Vergessen und fu?r ein friedliches Zusammenleben.

Ibtisam Azem, geboren 1974 in Tayyibe (Israel), ist eine palästinensische Autorin und Journalistin. Sie studierte in Freiburg i.Br. Islamwissenschaften, Germanistik und Anglistik sowie in New York Sozialarbeit. In Berlin arbeitete sie fu?r die Deutsche Welle. Seit 2012 lebt Ibtisam Azem in New York, wo sie als UNO-Korrespondentin fu?r das Nachrichtenportal al-Araby al-Jadeed tätig ist. Sie ist Mitherausgeberin des Onlinemagazins Jadaliyya und hat zwei Romane veröffentlicht.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783039257058
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2023
Erscheinungsdatum22.05.2023
Auflage1. Auflage
Seiten271 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse2883 Kbytes
Artikel-Nr.11762241
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

1
Alaa

Mutter eilte mit zwei verschiedenen Schuhen aus dem Haus. Ihre Locken hatte sie mit einem schwarzen Haarband festgezurrt, so dass die Panik sich in ihrem Gesicht noch schärfer abzeichnete und ihre blauen Augen grösser wirkten. Das weisse Hemd quoll ihr auf der einen Seite wild aus dem grauen Rock. Ich folgte ihr. Sie schien wie von Sinnen, wie sie durch die Strassen des Adschami-Viertels hetzte und nach Grossmutter suchte. Als wolle sie sich selbst einholen, rannte sie schneller und schneller. Als sie meine Schritte hinter sich hörte, drehte sie sich um. Ihre Arme waren dünn wie ein Besenstiel.

Sie fuchtelte und gestikulierte: »Geh heim für den Fall, dass sie zurückkommt!«

»Papa ist doch zu Hause«, erwiderte ich.

»Dann geh zu ihrem Haus und danach zum al-Saa-Platz. Such dort weiter!«

Mutter lief von Tür zu Tür, sie wirkte wie eine verloren zappelnde Ameise. Als sie auf die Türen einzuschlagen begann, bekam ich Angst, dass sie sich die Hand bricht. Ohne Rücksicht auf Verluste hämmerte sie drauflos. Sie grüsste niemanden, sondern fragte sogleich nach Grossmutter. Wenn auf ihr Klopfen keine Antwort kam, atmete sie tief durch und brach vor der verschlossenen Tür in Schluchzen aus. Worauf sie zum nächsten Haus ging und sich dabei mit den Ärmeln Tränen aus dem Gesicht wischte.

Mutter ging voran, und ich folgte ihr wie ein Kind. Ich hatte ganz vergessen, wie schnell sie ist. Mit vierzig waren mir aus der Kindheit nur Erinnerungen geblieben, die plötzlich sehr weit entfernt schienen. Ich fürchtete, dass sie sich weh tut, nie zuvor hatte ich sie so verstört gesehen. Ab und zu drehte sie sich zu mir um und wunderte sich, dass ich ihr noch immer folgte. Weshalb ich nicht direkt neben ihr ging und stets ein, zwei Schritt Abstand hielt, weiss ich nicht. Mir fehlte die Kraft, diese Frau - meine Mutter - direkt zu konfrontieren. Ich bat sie, nach Hause zu gehen, und versprach, ganz Adschami Haus für Haus nach Tata abzusuchen. Wieder fuchtelte und gestikulierte sie, als wäre ich eine lästige Fliege, mit der sie in ihrem gerechten Zorn nichts zu tun haben wollte. Und sie kämpfte sich weiter, von einem Haus zum nächsten. Die Häuser jedoch spuckten sie aus.

Etwa eine Stunde zuvor war ich im Haus meiner Eltern eingetroffen, um den Sonnenuntergang von Jaffa aus zu sehen. Ich besuche sie zweimal pro Woche, gewöhnlich zwei Stunden vor Sonnenuntergang. Sobald wir alle müde geworden sind, fahre ich zurück in meine Wohnung in Tel Aviv. Tata war vor sechs Monaten zu meinen Eltern gezogen. Mutter hatte darauf bestanden, nachdem sie sie bewusstlos mit einem verrenkten Fuss im Bad aufgefunden hatte. Grossmutters Haus in Adschami liegt an der al-Kunt-Strasse, nicht mehr als zehn Gehminuten entfernt. al-Kunt ist der alte Name, Tata hat auf ihm bestanden, auch wenn ich an ihrem Briefkasten »Schaarei-Nikanor-Strasse« angeschrieben habe. Doch was rede ich, Tata hatte nicht darauf bestanden, diesen Namen zu verwenden, es war ihr Name ⦠so hiess diese Strasse. Als ich ein Kind war, hörte sich al-Kunt sonderbar an. Doch irgendwann verstand ich, dass al-Kunt (Conte) ein Titel ist, den der Vatikan dem Palästinenser Talmâs für seine grosszügigen Spenden verliehen hatte, dank denen die maronitische Kirche gebaut werden konnte. Hier hatte er gewohnt, und so war die Strasse nach seinem Ehrentitel benannt worden. Seit Tata bei meinen Eltern wohnte, bestand sie darauf, jeden Morgen an ihrem alten Haus die Rosen zu giessen. Mutter bestand ihrerseits darauf, sie zu begleiten, und abends vor Sonnenuntergang wurde Tata entweder von ihr oder von Vater wieder abgeholt. An diesem Morgen hatte Tata vorgegeben, zu müde zu sein. Ungefähr eine Stunde nachdem Mutter weggegangen war, verliess sie das Haus auf eigene Faust, wie ich von Vater später erfuhr. Ein Umstand, der mich erstaunte, jedoch nicht dermassen in helle Panik versetzte wie Mutter, als sie von ihren Erledigungen und einem Besuch bei einer Freundin heimgekehrt war.

Der Tag verprasste seine letzten Minuten. Ich hatte genug davon, Mutter hinterherzurennen, also liess ich sie ziehen und eilte zum al-Saa-Platz, den Tata so liebte. Tata. So nannten wir sie, weil sie das andere Wort für Grossmutter - Sitti - nicht mochte. Schon nach wenigen Metern machte ich kehrt. Dort würde sie nicht sein, am al-Saa-Platz konnte man sich nirgends in Ruhe hinsetzen und Jaffa betrachten. Sie musste am Meer sein, und zwar nicht an dem Ufer, das bei Adschami liegt, sondern am Ufer nahe der Altstadt. Sie liebte diesen Ort, weshalb, weiss ich nicht. Also ging ich Richtung Meer, zum Hügel, auf dem Tata so gern sass. Um möglichst schnell hinzukommen, musste ich durch die Künstlergassen in der Altstadt, ich hasste diesen Weg.

Würde ich sie finden? Würde ich Tata antreffen? Mein Herz verkrampfte sich. Mit stockendem Atem schlängelte ich mich durch die engen Gassen zwischen den Puppenhäusern, so nenne ich die Galerien der Künstler. Auf den Stufen der alten Gassen fühlte ich plötzlich einen Stich in der Brust, als würde sich die Lunge - den Gassen gleich - verengen. Als Kind hatte ich hier immer meinen eigenen Schatten beobachtet, wie er sich zwischen den anderen Schatten bewegte. Manchmal verliess er mich, manchmal verlor ich die Kontrolle über ihn, gerade so, als gehöre er einer anderen Person. Du bist verrückt, sagte ich mir und behielt das Geheimnis jahrelang für mich. Bis ich einmal mit Tata unterwegs war und sie bat, einen anderen Weg als den durch die Altstadt zu nehmen. Sie lachte und küsste meinen Kopf. »Keine Angst, Liebling«, meinte sie. »Alle Leute, die in Jaffa geblieben sind, sehen Geister neben sich, wenn sie durch die Altstadt gehen. Sogar die Juden geben zu, dass sie in der Nacht Stimmen hören ⦠aber wenn sie nachschauen, ist da niemand.«

Ihre Geschichte half nicht gerade, meine Ängste zu überwinden. Im Gegenteil, sie ergriffen von mir Besitz und wuchsen noch an, je älter ich wurde. Ich gelangte an den grossen Platz, der aufs Meer geht, das teils von der Mar-Butrus-Kirche und teils von der al-Bahr-Moschee verdeckt wird. Das Meer überrascht mich jedes Mal aufs Neue, wenn ich endlich den Fängen der Altstadt entkommen bin. Ein rauer Wind berührte meine trockenen Lippen, wie in der Wüste. Das Meer breitete sich vor mir aus, und doch fühlte ich mich wie in der Wüste. Ich hob den Kopf und blickte gegen Norden über Jaffa hinweg; das Licht wurde von den Glasfassaden der anderen Stadt zurückgeworfen und drang mir in die Augen. Das Licht der Weissen Stadt, der Stadt aus Glas.

Ich stieg den kleinen Hügel neben der Mar-Butrus-Kirche hoch. Ich weiss nicht, weshalb ich plötzlich das Gefühl hatte, die Festungskirche sei so erschöpft wie ich. Festungskirche. Diesen Namen mag ich lieber als Mar Butrus, ich stelle mir vor, dass das Wort »Festung« der Kirche zusätzlichen Schutz verleiht.

Und dann sah ich sie!

Sie sass auf einer Holzbank und schaute aufs Meer. Mir entfuhr ein Schrei, Herz und Stimme tanzten vor Freude. »Tata ⦠Taaataaaa ⦠Tata!« Ich rannte zu ihr hin und schaute in ihr braunes Gesicht, das ganz in den Anblick des Meeres versunken war. Aus ihrem Kopftuch hatte sich eine schwarze Locke gelöst, als wollte sie mit dem Wind tanzen. Auf ihren Lippen lag ein leichtes Lächeln. Ich setzte mich neben sie und ergriff ihre Hand. »Du hast uns zu Tode erschreckt!« Ihre Finger waren trocken und wie aus Holz, obwohl ihr Körper nicht kalt war. Ich berührte sie an der Schulter, und sie sank ein wenig zur Seite. Noch einmal fasste ich sie mit zitternden Händen an der Schulter an. War sie vielleicht ohnmächtig geworden? Ich legte mein Ohr an ihre Brust, um zu prüfen, ob sie atmete. Es schnürte mir die Kehle zu, als müsste ich ganz Jaffa auf einmal runterschlucken. Ich fingerte mein Telefon aus der Tasche, um einen Rettungswagen zu rufen. Die Worte wollten mir kaum aus dem trockenen Mund kommen. All dieses Wasser ⦠und mein Mund vollkommen ausgetrocknet.

Sie sass auf der alten Holzbank und schaute aufs Meer mit einem Blick, der mir plötzlich ausdruckslos vorkam. Um sie herum wogten Kinderstimmen und Geschrei. »Kinder sind die Vögel des Paradieses«, pflegte sie zu sagen. Worauf Mutter erwiderte: »Gott bewahre uns vor solchen Vögelchen und solchem Lärm ⦠wird man denn nicht mal im Paradies seine Ruhe haben?« Niemand hatte ihren Tod bemerkt. Sie war gestorben, wie sie es sich gewünscht hatte: entweder am Meer oder im Bett. Immer hatte sie gehofft, dass sie auf niemanden angewiesen sein würde. »Gott, sorge dafür, dass ich niemandem zur Last werde«, hatte sie gebetet. »Herr, nimm mich zu dir, solange ich gesund bin!« Ich rückte näher und umarmte sie. Vielleicht war es auch sie, die mich umarmte. Ich spürte, dass dies unser letzter ungestörter Moment sein würde, bevor der Rettungswagen eintraf. Ich roch die mit Jasmin parfümierte Seife. Es war ihr Lieblingsgeruch, in unzähligen Flakons überall im Haus hatte sie...
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Autor

Ibtisam Azem, geboren 1974 in Tayyibe (Israel), ist eine palästinensische Autorin und Journalistin. Sie studierte in Freiburg i.Br. Islamwissenschaften, Germanistik und Anglistik sowie in New York Sozialarbeit. In Berlin arbeitete sie für die Deutsche Welle. Seit 2012 lebt Ibtisam Azem in New York, wo sie als UNO-Korrespondentin für das Nachrichtenportal al-Araby al-Jadeed tätig ist. Sie ist Mitherausgeberin des Onlinemagazins Jadaliyya und hat zwei Romane veröffentlicht.