Hugendubel.info - Die B2B Online-Buchhandlung 

Merkliste
Die Merkliste ist leer.
Bitte warten - die Druckansicht der Seite wird vorbereitet.
Der Druckdialog öffnet sich, sobald die Seite vollständig geladen wurde.
Sollte die Druckvorschau unvollständig sein, bitte schliessen und "Erneut drucken" wählen.

Der Geist von Lamb House

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
256 Seiten
Deutsch
Diogeneserschienen am27.10.20211. Auflage
Tony Lamb und seine Familie waren im 18. Jahrhundert die ersten Bewohner von Lamb House im südostenglischen Rye. Dort hat sich eine unheimliche Geschichte zugetragen, die der verkrüppelte Toby, der einst Schriftsteller werden wollte, aufgeschrieben hat. Jahre später übernimmt der große englische Schriftsteller Henry James das Haus, oder vielmehr - so scheint es ihm von Anfang an ­ das Haus übernimmt ihn.

Joan Aiken, Tochter des amerikanischen Lyrikers Conrad Aiken und seiner kanadischen Frau, wurde 1924 in Sussex geboren. Ihre ersten Gedichte und Schauergeschichten schrieb sie im Alter von fünf Jahren. Sie wurde Verfasserin zahlreicher historischer Romane, moderner Thriller und vieler Kinderbücher. Joan Aiken starb 2004 in Petworth, West Sussex.
mehr

Produkt

KlappentextTony Lamb und seine Familie waren im 18. Jahrhundert die ersten Bewohner von Lamb House im südostenglischen Rye. Dort hat sich eine unheimliche Geschichte zugetragen, die der verkrüppelte Toby, der einst Schriftsteller werden wollte, aufgeschrieben hat. Jahre später übernimmt der große englische Schriftsteller Henry James das Haus, oder vielmehr - so scheint es ihm von Anfang an ­ das Haus übernimmt ihn.

Joan Aiken, Tochter des amerikanischen Lyrikers Conrad Aiken und seiner kanadischen Frau, wurde 1924 in Sussex geboren. Ihre ersten Gedichte und Schauergeschichten schrieb sie im Alter von fünf Jahren. Sie wurde Verfasserin zahlreicher historischer Romane, moderner Thriller und vieler Kinderbücher. Joan Aiken starb 2004 in Petworth, West Sussex.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783257612530
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Verlag
Erscheinungsjahr2021
Erscheinungsdatum27.10.2021
Auflage1. Auflage
Seiten256 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse858 Kbytes
Artikel-Nr.8198046
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe



Meine Schwester Alice verließ uns mit zwölf und blieb acht Jahre fort. Lang wie ein ganzes Menschenleben dünkte mich ihre Abwesenheit damals, und was sie an Kummer und Leid brachte, wäre in der Tat genug für so manches Menschenleben gewesen. Dabei hatten meine Eltern nur ihr Bestes gewollt.

Als sei es gestern gewesen, erinnere ich mich des Augenblicks, da Alice mit verweintem Gesicht auf den kleinen gepflasterten Hof kam und mir sagte, daß sie in die Fremde müsse. Da ich damals erst sieben und von zarter Gesundheit war, übertrug man mir einfache Handreichungen, die meine Kräfte nicht überforderten. An diesem frostiggrauen, winterlichen Herbstnachmittag hatte Großmutter Grebell mich angewiesen, die Binsen zu wenden und zu schälen, die Gabriel, der Pferdeknecht, und mein Bruder Robert vor einigen Tagen von den Marschen gebracht hatten.

In unserer Zeit des Überflusses sind Binsenlichter ein wenig aus der Mode gekommen, findet man doch Wachskerzen schon in jedem Handwerkerhaus. Mein Vater aber war, obschon ein reicher Braumeister und dreizehnmal zum Bürgermeister von Rye gewählt, ein sparsamer Mann. Oft genug habe ich ihn sagen hören: »Wir wären, da wir von den Marschen umgeben sind, recht töricht und undankbar, wenn wir nicht Gebrauch von dem machten, was Gott uns gibt.« So standen denn große Wannen mit Binsen, die Robert und Gabriel gebracht hatten, auf dem Hof. Meine Aufgabe war es, sie fleißig zu wenden, bis sie weich waren, und dann die Schale von den Stengeln zu ziehen, so daß nur gerade, schmale Hülsen zur Aufnahme des Dochtes übrigblieben. Die wurden dann auf Weidengestellen getrocknet und später in siedenden Talg getaucht.

Ein Pfund Binsen, mit sechs Pfund Talg bereitet, ergibt achthundert Stunden Licht zu einem Preis von nicht einmal drei Schilling, so sagte mein haushälterischer Vater, und während meine Hände mit Wenden und Schälen beschäftigt waren, gingen meine Gedanken eigene Wege und berechneten, daß wir mit zehn Pfund Binsen achttausend Stunden Licht hätten ... Wie viele Tage machte das wohl, wenn wir morgens und abends in Wohnstube, Küche und in meines Vaters Kontor fünf Stunden Licht brauchten? Zwanzig Pfund machten sechzehntausend Stunden ...

Ich liebte solche Zahlen- und Rechenspiele. Sie halfen mir über lange, freudlose Stunden hinweg, in denen ich mich mit dem Binsenschälen quälte, dem Putzen und Fetten des Einspänners und des Geschirrs (denn Gabriel, der Pferdeknecht, hatte genug zu tun, er besorgte auch den Garten und machte Botengänge für meinen Vater in der Stadt). Vielleicht, dachte ich sehnsüchtig und ohne viel Hoffnung, schickt mich Vater eines Tages doch noch zur Schule.

»Es ist ein Jammer, den Jungen nichts lernen zu lassen, James«, hatte ich Großmama Grebell einmal in der Stube meines Vaters sagen hören. »Toby hat einen hellen Kopf und ist willig.« (Obschon ich auf den Namen Thomas getauft bin, hat meine Familie mich nie anders als Toby genannt.) »Er könnte dir gute Dienste in der Brauerei oder hier im Kontor leisten.«

»Der? Was soll ich mit einem schwächlichen kleinen Krüppel anfangen?« erwiderte mein Vater verdrießlich. »Ja, wenn Robert ...«

»Robert ist ein Tölpel und wird nie etwas anderes sein«, sagte meine Großmutter scharf, und mehr vernahm ich nicht, die Tür hatte sich geschlossen.

Ein Stengel zerbrach unter meinem gedankenlosen Griff und landete auf dem immer höher werdenden Berg unbrauchbar gewordener Binsen, die nur noch als Anmachspäne für die Küche taugten. Und dann kam meine Schwester Alice über den gepflasterten Hof auf mich zugelaufen. Ihre dunklen Locken waren zerzaust, das Gesicht war rot und tränennaß.

»Toby, ach Toby!« Sie hockte sich neben mich, ohne auf die nassen Binsen, ihre Leinenröcke oder die Pfützen zwischen den Pflastersteinen zu achten.

»Was ist, Alice? Hast du dich verbrannt? Hat Robert dich geschlagen?«

Robert war kein schlechter Junge, konnte aber jähzornig werden, wenn man ihn reizte. Hinterher tat es ihm immer leid. »Oder hast du Schelte von Vater bekommen?«

Meine Mutter konnte Alice nicht getadelt haben. Sie hatte so wenig Interesse an ihren Kindern, daß sie uns allenfalls dann zurechtwies, wenn eins von uns ihre Handarbeit durcheinandergebracht hatte. Und das konnte ich mir bei der sanften, sorgsamen Alice nun wirklich nicht vorstellen.

»Nein, nein. Ich muß weg! Sie schicken mich fort!«

»Fort von hier? Aber wohin? Warum?«

Hier - das war das Haus meines Vaters in Rye. Irgendwo anders zu leben war für mich schlechthin nicht vorstellbar, und ich habe es auch später nie getan.

Stotternd und schluchzend, mit einem Schluckauf kämpfend fuhr Alice fort: »Ich ... ich soll zu unserer Cousine Honoria Wakehurst in ... in Tunbridge Wells.« Es hätte, so wie sie es sagte, ebensogut Timbuktu sein können, in unserer Vorstellung waren die beiden Orte gleich weit von uns entfernt. In fassungslosem Entsetzen sah ich Alice an.

»Aber warum? Ich will nicht, daß du gehst, Alice.«

Solange ich denken konnte, war Alice immer lieb zu mir gewesen. Ob ich gestürzt und mir weh getan hatte, ob ich in Ungnade gefallen war, meine Kleider beschmutzt, mein Essen verschüttet oder Schmerzen in dem kranken Bein hatte - stets war Alice zur Stelle, liebevoll tröstend, sanft und geduldig.

»Nicht weinen, Toby, nicht weinen. Alice ist da, Alice bringt es wieder in Ordnung.«

Sie hatte mich mütterlicher umsorgt als unsere leibliche Mutter. Jetzt, da ich selbst alt bin - ich schreibe diesen Bericht über sechzig Jahre nach den geschilderten Ereignissen nieder -, weiß ich wohl, daß unsere Mutter nie bei guter Gesundheit war und oft Schmerzen litt. Sie erlag ihrem Leiden in dem Jahr, als Alice heimkam - damals war George, ihr Letztgeborener, erst neun -, und muß schon Jahre vorher gekränkelt haben. Wir waren es gewohnt, daß sie, mit ihrer Handarbeit beschäftigt, auf dem Sofa lag und wir mit unseren Sorgen und Nöten zu Großmama Grebell gehen mußten, die um die Ecke, in der Vicarage Lane, wohnte, sich aber weniger dort als in Lamb House aufhielt.

Ich klammerte mich an Alice und wiederholte: »Ich will nicht, daß du gehst. Ich laß dich nicht weg.«

»Dummbeutel!« Der stämmige achtjährige Robert, der mit einem Freund aus der Lateinschule an mir vorbeikam, sah verächtlich auf mich herab. »Dein Gesicht ist ganz schmutzig«, sagte er höhnisch zu Alice, und dann zu mir: »Wie willst du verhindern, daß sie weggeht, du Heulsuse? Sie soll bei Cousine Honoria lernen, eine große Dame zu werden, und heiratet irgendwann mal einen reichen Kaufmann aus Tunbridge Wells. Die siehst du nie wieder.«

Pfeifend ging er davon, um bei Agnys, unserer Köchin, ein Stück Speckkuchen zu erbetteln.

»Aber warum will Cousine Honoria Wakehurst dich zu sich nehmen, Alice? Du hast doch ein Zuhause. Ich verstehe das nicht ...«

»Weil sie keine eigenen Kinder hat. Und jetzt schon über dreißig ist und wohl auch keine mehr bekommt. Und sie und Hauptmann Wakehurst sind reich. Vater sagt, es ist ein großes Glück für mich.«

»Aber warum wollen sie ein Mädchen?«

Sogar ich mit meinen sieben Jahren wußte schon, daß Mädchen weit weniger wert waren als Jungen.

Alice schniefte jämmerlich. »Natürlich hätten sie lieber einen Jungen gehabt. Aber von Robert würde Vater sich nie trennen, und Moses ist zu klein, erst zwei. Und -«

Ich wußte, was sie hatte sagen wollen. Keiner, der seine fünf Sinne beisammen hatte, würde mich, den kränkelnden, zu klein geratenen Krüppel, adoptieren wollen. Es war nicht meine Schuld, das wußte ich wohl, aber dieses Wissen machte mir das Leben nicht leichter.

Großmutter Grebell kam auf den Hof. Mit ihrem scharfen Runzelgesicht, das jetzt, da sie keine Zähne mehr hatte, noch schärfer geworden war, sah sie aus wie ein alter Vorstehhund.

»Toby, du hast deine Arbeit sehr nachlässig verrichtet. Schau, wie viele Binsen du verdorben und zerbrochen hast! Jetzt komm ins Haus. Und du auch, Alice. Wir müssen deine Kleider durchsehen, damit ich weiß, was ich dir mitgeben kann. Jetzt fang nicht wieder an zu weinen, Kind, damit änderst du doch nichts. Sei ein tapferes Mädchen.«

»Ich bin aber nicht tapfer«, sagte Alice gedrückt.

Nein, das war sie nicht, ich wußte es nur zu gut. Es gab so vieles, wovor sie Angst hatte - knurrende Hunde, Donner, laute Geräusche, zornige Stimmen, der Anblick von Blut. Wie wollte sie außerhalb der vertrauten, sicheren Welt von Lamb House nur zurechtkommen?

Über Alices zuckende Schultern hinweg sah Großmama Grebell mich streng an.

»Geh rasch in den Kräutergarten, Toby ...« (sie sagte nicht lauf , denn schnell laufen konnte ich nicht) »... und hol mir ein Bündel Minze. Sie ist jetzt zwar welk, aber noch immer aromatischer als getrocknete. Ich mache dir einen Tee, Kind«, sagte sie und richtete ihren scharfen Blick auf Alice, »dann gehst du zu Bett, und morgen früh findest du dich mit Anstand in dein Schicksal, wie es sich für eine Enkelin deines Großvaters geziemt« (Großvater Grebell hatte sich in der Schlacht von Blenheim tapfer geschlagen und war im Jahr darauf Bürgermeister von Rye geworden).

»Ja, Großmutter«, sagte Alice schluchzend und folgte der alten Dame in die...
mehr

Autor

Joan Aiken, Tochter des amerikanischen Lyrikers Conrad Aiken und seiner kanadischen Frau, wurde 1924 in Sussex geboren. Ihre ersten Gedichte und Schauergeschichten schrieb sie im Alter von fünf Jahren. Sie wurde Verfasserin zahlreicher historischer Romane, moderner Thriller und vieler Kinderbücher. Joan Aiken starb 2004 in Petworth, West Sussex.