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Das dunkle Schweigen der Mädchen

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
416 Seiten
Deutsch
Dressler Verlagerschienen am05.02.2022
In Garner County heißt es, junge Frauen hätten die Macht, Ehemänner aus ihren Betten zu locken und Jungen in den Wahnsinn zu treiben. Um ihnen diese Kräfte auszutreiben, werden sie für ein Jahr aus ihrem Dorf verbannt. Wer zurückkommt, wird verheiratet oder landet im Arbeitshaus. Doch es kommen nie alle lebend zurück. Und so ist Tierney nur in ihren Träumen frei, umgeben von Rebellinnen. Als ihr eigenes Gnadenjahr beginnt, spürt sie, wie tief der Hass verwurzelt ist. Ihr wird klar, dass nicht die brutalen Wilderer, die ihnen auflauern, die größte Gefahr darstellen. Es sind die Mädchen, die mit ihr im Lager sind. In einer früheren Ausgabe unter dem Titel 'The Grace Year' erschienen.

Mit 16 Jahren verließ Kim Liggett ihre ländliche Heimat, um in New York Sängerin zu werden. Sie war Backgroundsängerin für einige der größten Rockbands der 80er Jahre, bevor sie Autorin wurde.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR12,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR9,99

Produkt

KlappentextIn Garner County heißt es, junge Frauen hätten die Macht, Ehemänner aus ihren Betten zu locken und Jungen in den Wahnsinn zu treiben. Um ihnen diese Kräfte auszutreiben, werden sie für ein Jahr aus ihrem Dorf verbannt. Wer zurückkommt, wird verheiratet oder landet im Arbeitshaus. Doch es kommen nie alle lebend zurück. Und so ist Tierney nur in ihren Träumen frei, umgeben von Rebellinnen. Als ihr eigenes Gnadenjahr beginnt, spürt sie, wie tief der Hass verwurzelt ist. Ihr wird klar, dass nicht die brutalen Wilderer, die ihnen auflauern, die größte Gefahr darstellen. Es sind die Mädchen, die mit ihr im Lager sind. In einer früheren Ausgabe unter dem Titel 'The Grace Year' erschienen.

Mit 16 Jahren verließ Kim Liggett ihre ländliche Heimat, um in New York Sängerin zu werden. Sie war Backgroundsängerin für einige der größten Rockbands der 80er Jahre, bevor sie Autorin wurde.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783986420024
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2022
Erscheinungsdatum05.02.2022
Seiten416 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1276 Kbytes
Artikel-Nr.8236940
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe


Ich folge ihr durch den Wald. Ein ausgetretener Pfad, den ich schon Hunderte Male gesehen habe. Farn, Frauenschuh, Disteln und auch die geheimnisvolle rote Blume sprenkeln den Weg. Fünf Blütenblätter, perfekt geformt, als wären sie genau für uns gemacht. Eins für die Mädchen im Gnadenjahr, eins für die Ehefrauen, eins für die Arbeiterinnen, eins für die Frauen in den Außenbezirken und eins für sie selbst.

Das Mädchen blickt über die Schulter zu mir zurück, zeigt mir dieses selbstsichere Lächeln. Sie erinnert mich an jemanden, aber weder Gesicht noch Name sind mir präsent. Vielleicht ist es jemand aus einer lang vergessenen Zeit, einem vergangenen Leben, eine jüngere Schwester womöglich, die ich nie kannte. Ein herzförmiges Gesicht, ein kleines rotes Muttermal unter dem rechten Auge. Zarte Gesichtszüge wie ich, dabei ist nichts Zartes an ihr. Im Blick ihrer stahlgrauen Augen liegt wilde Entschlossenheit. Ihre dunklen Haare sind kurz geschoren. Eine Bestrafung vielleicht oder ein Aufbegehren, ich weiß es nicht. Ich kenne sie nicht, aber seltsamerweise weiß ich, dass ich sie liebe. Es ist nicht die Art Liebe, wie mein Vater sie für meine Mutter empfindet - sie ist beschützend und rein wie meine Liebe zu den Drosseln, die ich letzten Winter gepflegt habe.

Wir erreichen die Lichtung, auf der Frauen aus allen sozialen Schichten versammelt sind - die kleine rote Blüte über die Herzen gesteckt. Nirgendwo Zank oder böse Blicke; alle sind in Frieden zusammengekommen. In Eintracht. Wir sind Schwestern, Töchter, Mütter, Großmütter, wir stehen zusammen für eine gemeinsame Sehnsucht, die größer ist als wir selbst.

»Wir sind seit jeher das schwache Geschlecht, aber damit ist Schluss«, sagt das Mädchen.

Die Frauen antworten mit einem urtümlichen Gebrüll.

Doch ich habe keine Angst. Ich spüre nur Stolz. Das ist sie. Das ist das Mädchen, das alles verändern wird, und irgendwie bin ich Teil des Ganzen.

»Dieser Pfad wurde mit Blut getränkt, und zwar mit unserem Blut, aber es war nicht umsonst. Mit dem heutigen Abend endet das Gnadenjahr für immer.«

Während ich den Atem aus der Lunge stoße, merke ich, dass ich nicht im Wald bin, nicht bei dem Mädchen, sondern hier, in diesem stickigen Zimmer, in meinem Bett, wo meine Schwestern mich erwartungsvoll ansehen.

»Was hat sie gesagt?«, fragt Ivy mit glühenden Wangen.

»Nichts«, antwortet June und drückt Ivys Handgelenk. »Wir haben nichts gehört.«

Als meine Mutter ins Zimmer kommt, schubsen mich meine kleinen Schwestern Clara und Penny aus dem Bett. Ich will June stumm dafür danken, dass sie die Situation gerettet hat, aber sie lässt nicht zu, dass unsere Blicke sich treffen. Sie will nicht oder sie kann nicht. Ich weiß nicht, was schlimmer ist.

Wir dürfen nicht träumen. Die Männer glauben, wir könnten auf diese Weise unsere Magie verbergen. Allein diese Träume zu haben, würde schon reichen, um bestraft zu werden, aber wenn irgendwer davon erführe, was ich da träume, hieße das den Galgen.

Meine Schwestern führen mich ins Nähzimmer und schwirren um mich herum wie ein Schwarm Spatzen. Drängeln. Zerren.

»Vorsichtig«, keuche ich, als sie gar zu übermütig an meinen Korsettschnüren ziehen. Für sie ist das alles nur Spaß. Sie begreifen nicht, dass schon in ein paar kurzen Jahren sie selbst an der Reihe sein werden. Ich schlage nach ihnen. »Habt ihr denn sonst niemanden, den ihr ärgern könnt?«

»Stell dich nicht so an«, sagt meine Mutter und lässt ihren Ärger an meiner Kopfhaut aus, während sie meinen Zopf zu Ende flicht. »Dein Vater hat dir in den letzten Jahren alles durchgehen lassen - dein Ungestüm, deine schmutzigen Kleider, den Dreck unter den Fingernägeln. Jetzt erlebst du einmal, wie es ist, eine Dame zu sein.«

»Wozu die Mühe?« Ivy präsentiert uns ihren immer runder werdenden Bauch im Spiegel. »Niemand bei klarem Verstand würde Tierney einen Schleier geben.«

»Mag sein«, antwortet meine Mutter, während sie die Korsettschnüre packt und noch fester zuzieht. »Aber wenigstens das ist sie mir schuldig.«

Ich war ein eigensinniges Kind, neugieriger, als es gut für mich war, nichts als Flausen im Kopf, ohne jeden Anstand ... um nur einiges zu nennen. Und ich werde das erste Mädchen in unserer Familie sein, das ohne einen Schleier ins Gnadenjahr zieht.

Meine Mutter muss es nicht aussprechen. Jedes Mal, wenn sie mich ansieht, spüre ich ihre Verbitterung. Ihre stille Wut.

»Hier ist es.« Meine älteste Schwester June kommt ins Zimmer zurück. Sie trägt ein leuchtend blaues Kleid aus Rohseide in den Händen, dessen Schalkragen mit Süßwasserperlen besetzt ist. Genau dieses Kleid hatte sie selbst an ihrem Schleiertag vor vier Jahren an. Es riecht nach Flieder und nach Furcht. Weißer Flieder, das waren die Blüten, die ihr Freier für sie ausgesucht hatte - Symbol der jugendlichen Liebe und der Unschuld. Es ist großzügig von ihr, dass sie es mir borgt, aber so ist June. Nicht einmal das Gnadenjahr konnte ihr das nehmen.

Alle anderen Mädchen meines Jahrgangs werden heute neue Kleider tragen, mit Rüschen und Stickereien, nach der neuesten Mode, aber meine Eltern waren nicht so dumm, ihr Geld für mich zu verschwenden. Ich habe keine Chance. Dafür habe ich auf jeden Fall gesorgt.

In diesem Jahr gibt es zwölf heiratsfähige Jungen in Garner County - Jungen, die in eine Familie von Stand und Ansehen geboren wurden. Und es gibt dreiunddreißig Mädchen.

Heute werden wir durch die Stadt ziehen und uns den Jungen ein letztes Mal präsentieren, bevor sie sich zu den Männern in der Hauptscheune begeben, um dort über unsere Schicksale zu verhandeln, als wären wir Vieh. Was der Wahrheit ziemlich nah kommt, wenn man bedenkt, dass wir kurz nach unserer Geburt tatsächlich auf der Fußsohle mit dem Siegel unseres Vaters gebrandmarkt werden. Wenn alle Ansprüche geltend gemacht sind, überbringen unsere Väter den wartenden Mädchen in der Kirche die Schleier, setzen den Auserwählten die durchscheinenden Ungetüme wortlos auf. Und morgen früh, wenn wir alle auf dem Marktplatz aufgereiht stehen, um in unser Gnadenjahr aufzubrechen, wird jeder Junge den Schleier des Mädchens seiner Wahl lüften, als Eheversprechen, während der Rest von uns komplett überflüssig ist.

»Ich wusste, dass du eine gute Figur darin machst.« Meine Mutter schürzt die Lippen, was die feinen Linien um ihren Mund in tiefe Furchen verwandelt. Wenn sie wüsste, wie alt sie dadurch wirkt, würde sie es lassen. Das Einzige, was in Garner County schlimmer ist, als alt zu sein, ist, unfruchtbar zu sein. »Ich werde nie verstehen, warum du deine Schönheit so vergeudest, warum du deine Chance verspielt hast, einen eigenen Haushalt zu führen«, sagt sie, während sie mir das Kleid über den Kopf zieht.

Mein Arm bleibt stecken und ich fange an zu zerren.

»Hör auf, so zu zappeln, sonst wird es noch -«

Das Geräusch reißenden Stoffes sorgt dafür, dass meiner Mutter sichtbar die Hitze den Hals hinaufsteigt und erst an ihrem Kinn haltmacht. »Nadel und Faden!«, blafft sie meine Schwestern an, und die hüpfen schnell davon.

Ich versuche, mich zu beherrschen, aber je mehr ich mich bemühe, umso schlimmer wird es, bis ich laut lospruste. Nicht mal ein Kleid kann ich richtig anziehen.

»Nur zu, lach, soviel du willst, aber wenn dir niemand einen Schleier gibt und du aus dem Gnadenjahr zurückkehrst und direkt ins Arbeitshaus wanderst, um dir die Finger wund zu schufften, vergeht dir noch das Lachen.«

»Besser, als die Ehefrau von irgendwem zu sein«, murmele ich.

»Sag das nicht.« Sie nimmt mein Gesicht zwischen die Hände und meine Schwestern zerstreuen sich in alle Winde. »Sollen sie dich etwa für eine Rebellin halten? Und dich verstoßen? Die Wilderer würden dich liebend gern in die Finger kriegen.« Sie senkt die Stimme. »Du darfst keine Schande über die Familie bringen.«

»Worum geht es denn?« Mein Vater steckt seine Pfeife in die Brusttasche, während er zu einem seiner seltenen Besuche im Nähzimmer auftaucht. Meine Mutter fasst sich rasch wieder und fängt an, den Riss zu flicken.

»Harte Arbeit ist keine Schande«, sagt er und duckt sich, um sie auf die Wange zu küssen. Er riecht nach Jod und süßem Tabak. »Sie kann in der Molkerei oder in der Mühle arbeiten, wenn sie zurückkommt. Das ist völlig respektabel. Du weißt doch, dass unsere Tierney schon immer ein freier Geist war.« Er zwinkert mir verschwörerisch zu.

Ich schaue weg, tue so, als wäre ich von den Tupfen des diffusen Lichts fasziniert, das durch die Vorhänge fällt. Früher waren mein Vater und ich ein Herz und eine Seele. Die Leute sagten immer, er hätte ein gewisses Funkeln in den Augen, wenn er von mir sprach. Bei fünf Töchtern bin ich vermutlich das, was dem heiß ersehnten Sohn am nächsten kommt. Er brachte mir heimlich bei, wie man angelt, wie man mit einem Messer umgeht, wie man auf sich aufpasst. Aber jetzt ist alles anders. Nach dem Abend, an dem ich ihn in der Apotheke dabei überraschte, wie er das Unaussprechliche tat, ist er für mich nicht mehr derselbe. Zweifellos bemüht er sich noch immer um den heiß ersehnten Sohn, dabei hatte ich immer geglaubt, er stünde darüber. Offensichtlich ist er aber genau wie alle anderen.

»Donnerwetter ...«, sagt er jetzt in dem Versuch, meine Aufmerksamkeit zu erlangen. »Vielleicht bekommst du doch noch einen Schleier.«

Ich presse die Lippen zusammen, dabei würde ich am liebsten losschreien. Verheiratet zu werden, ist kein Privileg für mich. Annehmlichkeit hat mit Freiheit nichts zu tun. Es ist ein goldener Käfig, sicher, aber immer noch ein Käfig. Im Arbeitshaus gehört mein Leben wenigstens noch mir....
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