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Der Hof im Spiegel

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
144 Seiten
Deutsch
Kiepenheuer & Witsch GmbHerschienen am10.02.20221. Auflage
Erzählungen »Jeder hat in einer Stadt seine persönliche Stadt.« »Ich bin ein Mensch vom Weg, am liebsten ist mir, im Zug zu sitzen zwischen den Ländern. Der Zug ist ein schönes Zuhause«, sagt Emine Sevgi Özdamar. Aber sie kommt auch an: an Orten wie »ihrem Hauptbahnhof« in Düsseldorf, in ihrer Wohnung dort, in Berlin Ost und West, in Amsterdam, in Istanbul - in den Theatern, in Lied- und Gedichtzeilen. Die Erinnerung an Menschen, Bilder, Situationen, Gespräche und Telefongespräche, Kindheit, Leben und Tod - alles verwebt sich mit genauen Beobachtungen des Hier und Jetzt zu einer Gedankenreise, die die Autorin auf ihre ganz eigene Weise in Bilder und Sprache formt. So versammelt dieser Band höchst lebendige und sehr persönliche Geschichten von der Erinnerung und Annäherung an Städte und Menschen, an Vertrautes und Fremdes. Emine Sevgi Özdamars Dankrede zum Erhalt des Adelbert-von-Chamisso-Preises rundet das Bild ab: mit ihrer Reise aus der türkischen in die neue, die deutsche Sprache. Was Joachim Sartorius zu ihrem Romandebüt Das Leben ist eine Karawanserei schrieb, gilt auch und gerade für dieses Buch: »Dem, der bereit ist, mitzugehen, schenkt die Özdamar ihre Gabe der Wahrnehmung.«

Emine Sevgi Özdamar, geboren am 10. August 1946 in der Türkei. Mit 12 Jahren erste Theaterrolle am Staatstheater Bursa im Bürger als Edelmann von Molière. 1965 bis 1967 Aufenthalt in Berlin, Arbeit in einer Fabrik. 1967 bis 1970 Schauspielschule in Istanbul.Erste professionellen Rollen in der Türkei als Charlotte Corday im Marat-Sade von Peter Weiss und als Witwe Begbick in Mann ist Mann von Bert Brecht. 1976 an der Volksbühne Ost-Berlin.Mitarbeit bei dem Brecht-Schüler und Regisseur Benno Besson und bei Matthias Langhoff. 1978 bis 1979 Paris und Avignon.Mitarbeit an Benno Bessons Inszenierung Kaukasischer Kreidekreis von Bert Brecht. Aufgrund der vorangegangenen Theaterarbeit Doktorandin an der Pariser Universität Vincennes. 1979 bis 1984 Engagement als Schauspielerin beim Bochumer Schauspielhaus unter der Intendanz von Claus Peymann.Im Auftrag des Schauspielhauses Bochum entstand ihr erstes Theaterstück Karagöz in Alemania, erschienen im Verlag der Autoren, Frankfurt. 1986 im Frankfurter Schauspielhaus unter eigener Regie aufgeführt. Verschiedene Theaterrollen:Lieber Georg von Thomas Brasch, Regie Karge/Langhoff; Mutter von Bert Brecht; Weihnachtstod, Buch und Regie Franz Xaver Kroetz, Kammerspiele München; Im Dickicht der Städte von Bert Brecht, Freie Volksbühne Berlin; Faust, Regie Einar Schleef, Frankfurter Schauspielhaus; Die Trojaner von Berlioz, Regie Berghaus, Frankfurter Oper; Drei Schwestern von Anton Tschechow, Théâtre de la Ville, Paris, Regie Matthias Langhoff, Die Troerinnen von Euripides, Théâtre Amandière, Paris, Regie Matthias Langhoff. Seit 1982 freie Schriftstellerin. Emine Sevgi Özdamar lebt in Berlin. Bibliographie und Auszeichnungen: • 1982 erstes Theaterstück Karagöz in Alemania, erschienen im Verlag der Autoren, Frankfurt.• 1991 zweites Theaterstück Keloglan in Alemania, die Versöhnung von Schwein und Lamm, Verlag der Autoren, Frankfurt.• 2001 drittes Theaterstück Noahi, Verlag der Autoren, Frankfurt. Noahi bearbeitet die Arche-Noah-Geschichte im Rahmen des Projektes Mythen für Kinder und wird im Frankfurter Schauspielhaus uraufgeführt.• Erster Erzählband Mutterzunge, Rotbuch-Verlag, 1990.• Der Erzählband Mutterzunge gehört zu den Best Books of Fiction published 1994 in America (Publisher's Weekly).• Erster Roman Das Leben ist eine Karawanserei hat zwei Türen aus einer kam ich rein aus der anderen ging ich raus, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln, 1992. Der Roman erscheint außer in Deutschland auch in Frankreich, England, Griechenland, Katalonien, Finnland, den Niederlanden, Spanien, Polen, der Türkei, Norwegen und Kanada.• Ingeborg Bachmann Preis 1991• Walter Hasenclever-Preis 1993• Stipendium des Deutschen Literaturfonds 1992• New York-Stipendium des Deutschen Literaturfonds 1995• International Book of the Year, London Times Literary Supplement, 1994• Zweiter Roman Die Brücke vom Goldenen Horn, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln, 1998 (auch als KiWi 554)• Arbeitsstipendium der Landeshauptstadt Düsseldorf• Adalbert von Chamisso-Preis 1999• Preis der LiteraTour Nord 1999• Im Frühjahr 2001 erschien ihr neuer Erzählband Der Hof im Spiegel• Künstlerinnenpreis des Landes NRW im Bereich Literatur / Prosa, 2001• Dritter Roman Seltsame Sterne starren zur Erde, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2003• Literaturpreis der Stadt Bergen-Enkheim, Stadtschreiberin 2003• Erhielt am 21. November 2004 den Heinrich-von-Kleist-Preis• Kunstpreis Berlin 2009 des Landes Berlin, von der Sektion Literatur der Akademie der Künste als Fontane-Preis verliehen • Verleihung der Carl-Zuckmayer-Medaille 2010• Alice-Salomon-Poetik-Preis 2012• Bayerischer Buchpreis 2021• Roswitha-Preis der Stadt Bad Gandersheim 2021• Preis der Leipziger Buchmesse 2022 (Shortlist)• Düsseldorfer Literaturpreis 2022• Georg-Büchner-Preis 2022
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR12,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR9,99

Produkt

KlappentextErzählungen »Jeder hat in einer Stadt seine persönliche Stadt.« »Ich bin ein Mensch vom Weg, am liebsten ist mir, im Zug zu sitzen zwischen den Ländern. Der Zug ist ein schönes Zuhause«, sagt Emine Sevgi Özdamar. Aber sie kommt auch an: an Orten wie »ihrem Hauptbahnhof« in Düsseldorf, in ihrer Wohnung dort, in Berlin Ost und West, in Amsterdam, in Istanbul - in den Theatern, in Lied- und Gedichtzeilen. Die Erinnerung an Menschen, Bilder, Situationen, Gespräche und Telefongespräche, Kindheit, Leben und Tod - alles verwebt sich mit genauen Beobachtungen des Hier und Jetzt zu einer Gedankenreise, die die Autorin auf ihre ganz eigene Weise in Bilder und Sprache formt. So versammelt dieser Band höchst lebendige und sehr persönliche Geschichten von der Erinnerung und Annäherung an Städte und Menschen, an Vertrautes und Fremdes. Emine Sevgi Özdamars Dankrede zum Erhalt des Adelbert-von-Chamisso-Preises rundet das Bild ab: mit ihrer Reise aus der türkischen in die neue, die deutsche Sprache. Was Joachim Sartorius zu ihrem Romandebüt Das Leben ist eine Karawanserei schrieb, gilt auch und gerade für dieses Buch: »Dem, der bereit ist, mitzugehen, schenkt die Özdamar ihre Gabe der Wahrnehmung.«

Emine Sevgi Özdamar, geboren am 10. August 1946 in der Türkei. Mit 12 Jahren erste Theaterrolle am Staatstheater Bursa im Bürger als Edelmann von Molière. 1965 bis 1967 Aufenthalt in Berlin, Arbeit in einer Fabrik. 1967 bis 1970 Schauspielschule in Istanbul.Erste professionellen Rollen in der Türkei als Charlotte Corday im Marat-Sade von Peter Weiss und als Witwe Begbick in Mann ist Mann von Bert Brecht. 1976 an der Volksbühne Ost-Berlin.Mitarbeit bei dem Brecht-Schüler und Regisseur Benno Besson und bei Matthias Langhoff. 1978 bis 1979 Paris und Avignon.Mitarbeit an Benno Bessons Inszenierung Kaukasischer Kreidekreis von Bert Brecht. Aufgrund der vorangegangenen Theaterarbeit Doktorandin an der Pariser Universität Vincennes. 1979 bis 1984 Engagement als Schauspielerin beim Bochumer Schauspielhaus unter der Intendanz von Claus Peymann.Im Auftrag des Schauspielhauses Bochum entstand ihr erstes Theaterstück Karagöz in Alemania, erschienen im Verlag der Autoren, Frankfurt. 1986 im Frankfurter Schauspielhaus unter eigener Regie aufgeführt. Verschiedene Theaterrollen:Lieber Georg von Thomas Brasch, Regie Karge/Langhoff; Mutter von Bert Brecht; Weihnachtstod, Buch und Regie Franz Xaver Kroetz, Kammerspiele München; Im Dickicht der Städte von Bert Brecht, Freie Volksbühne Berlin; Faust, Regie Einar Schleef, Frankfurter Schauspielhaus; Die Trojaner von Berlioz, Regie Berghaus, Frankfurter Oper; Drei Schwestern von Anton Tschechow, Théâtre de la Ville, Paris, Regie Matthias Langhoff, Die Troerinnen von Euripides, Théâtre Amandière, Paris, Regie Matthias Langhoff. Seit 1982 freie Schriftstellerin. Emine Sevgi Özdamar lebt in Berlin. Bibliographie und Auszeichnungen: • 1982 erstes Theaterstück Karagöz in Alemania, erschienen im Verlag der Autoren, Frankfurt.• 1991 zweites Theaterstück Keloglan in Alemania, die Versöhnung von Schwein und Lamm, Verlag der Autoren, Frankfurt.• 2001 drittes Theaterstück Noahi, Verlag der Autoren, Frankfurt. Noahi bearbeitet die Arche-Noah-Geschichte im Rahmen des Projektes Mythen für Kinder und wird im Frankfurter Schauspielhaus uraufgeführt.• Erster Erzählband Mutterzunge, Rotbuch-Verlag, 1990.• Der Erzählband Mutterzunge gehört zu den Best Books of Fiction published 1994 in America (Publisher's Weekly).• Erster Roman Das Leben ist eine Karawanserei hat zwei Türen aus einer kam ich rein aus der anderen ging ich raus, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln, 1992. Der Roman erscheint außer in Deutschland auch in Frankreich, England, Griechenland, Katalonien, Finnland, den Niederlanden, Spanien, Polen, der Türkei, Norwegen und Kanada.• Ingeborg Bachmann Preis 1991• Walter Hasenclever-Preis 1993• Stipendium des Deutschen Literaturfonds 1992• New York-Stipendium des Deutschen Literaturfonds 1995• International Book of the Year, London Times Literary Supplement, 1994• Zweiter Roman Die Brücke vom Goldenen Horn, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln, 1998 (auch als KiWi 554)• Arbeitsstipendium der Landeshauptstadt Düsseldorf• Adalbert von Chamisso-Preis 1999• Preis der LiteraTour Nord 1999• Im Frühjahr 2001 erschien ihr neuer Erzählband Der Hof im Spiegel• Künstlerinnenpreis des Landes NRW im Bereich Literatur / Prosa, 2001• Dritter Roman Seltsame Sterne starren zur Erde, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2003• Literaturpreis der Stadt Bergen-Enkheim, Stadtschreiberin 2003• Erhielt am 21. November 2004 den Heinrich-von-Kleist-Preis• Kunstpreis Berlin 2009 des Landes Berlin, von der Sektion Literatur der Akademie der Künste als Fontane-Preis verliehen • Verleihung der Carl-Zuckmayer-Medaille 2010• Alice-Salomon-Poetik-Preis 2012• Bayerischer Buchpreis 2021• Roswitha-Preis der Stadt Bad Gandersheim 2021• Preis der Leipziger Buchmesse 2022 (Shortlist)• Düsseldorfer Literaturpreis 2022• Georg-Büchner-Preis 2022
Details
Weitere ISBN/GTIN9783462304091
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2022
Erscheinungsdatum10.02.2022
Auflage1. Auflage
ReiheKIWI
Reihen-Nr.619
Seiten144 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse4639 Kbytes
Artikel-Nr.8382215
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis Schwarzauge in Deutschland

Mein erstes Theaterstück war »Karagöz in Alamania«, 1982. Das bedeutet in Deutsch: »Schwarzauge in Deutschland«.

Ich habe es geschrieben, weil ich den Brief eines türkischen Gastarbeiters gefunden hatte. Ich habe diesen Gastarbeiter nicht gekannt. Er war für immer in die Türkei, in sein Dorf, zurückgekehrt.

Das Wort »Gastarbeiter«: Ich liebe dieses Wort, ich sehe vor mir immer zwei Personen, eine sitzt da als Gast, und die andere arbeitet.«

Sein Brief war mit einer Schreibmaschine geschrieben. Das zweite, was mir auffiel, war, daß er an keiner Stelle schlecht über Deutschland sprach. Er sagte: »Ein Arbeiter hat keine Heimat, wo die Arbeit ist, da ist die Heimat.« Er schrieb über seine Frau, die es weder in der Türkei noch in Deutschland aushalten konnte. Sie ging immer hin und her, und jedesmal war sie schwanger.

Die Frau hatte ihm in Deutschland einmal erzählt, daß sie mit seinem Onkel im Dorf in der Türkei vom gleichen Baum Kirschen gegessen hatte.

Er war in die Türkei gefahren, 3000 Kilometer weit, ließ seine Frau in Deutschland allein, nur, um seine Verwandten zu fragen, wer zuerst unter dem Kirschbaum gestanden hatte. Seine Frau oder sein Onkel? Wer war zum Baum gelaufen, und wer ist zu dem, der da Kirschen aß, gelaufen?

Er fragte im Dorf die Verwandten und Nachbarn. Die Sache wucherte und wucherte.

In Deutschland wurde er von türkischen maoistischen Studenten politisiert. Er verteilte mit ihnen zusammen vor einer Fabrik Flugblätter gegen die türkischen Faschisten. Die Faschisten kamen, die maoistischen Studenten verschwanden, ließen ihn allein. Die türkischen Faschisten schlugen ihm ins Gesicht, sein halbes Gesicht war gelähmt.

Ich konnte in seinem Brief seine türkische Sprache nicht gut verstehen.

Ich wollte über ihn ein Drama schreiben und ihn nach Deutschland zur Premiere einladen. Ich wollte ihm zeigen, daß sein Leben ein Roman war - so wie er es auch in seinem Brief behauptet hatte.

Deswegen fuhr ich mit dem Zug von Deutschland in die Türkei.

In Österreich stiegen auch Jugoslawen in den Zug, Bauarbeiter. Manche hatten ihre Finger absichtlich mit dem Hammer kaputtgeschlagen, um krank geschrieben zu werden, und fuhren mit bandagierten Händen zu ihren Frauen nach Jugoslawien.

Es saßen Griechen, Türken und Jugoslawen zusammen im gleichen Zug, ihre gemeinsame Sprache war Deutsch.

In Jugoslawien stiegen auch ein paar türkische Väter in den Zug, alte Männer. Sie waren mit leeren Särgen aus der Türkei nach Jugoslawien gekommen, um ihre toten Söhne und Töchter, die mit ihren Autos auf der Fahrt von Deutschland auf der Straße in Jugoslawien bei Autounfällen gestorben waren, in die Türkei zu holen. Die Väter rauchten Zigaretten, standen auf dem Zugkorridor und sprachen leise über den Weg und über ihre toten Kinder. Einer sagte: »Dieser Weg hat uns unsere fünf Seelen weggenommen.«

Die jugoslawischen Männer sangen Sehnsuchts- und Liebeslieder über ihre Frauen, zu denen sie zurückfuhren, und übersetzten diese für uns in ihrem gebrochenen Deutsch. Wir weinten und lachten. Tagelang, so eine Fahrt.

Die Toten in den Särgen, wir zu acht im Zugabteil, die gemeinsame Sprache Deutsch. Es entstand fast ein Oratorium, und die Fehler, die wir in der deutschen Sprache machten, waren wir, wir hatten nicht mehr als unsere Fehler.

 

In meinem Stück »Karagöz in Alamania« ist der Karagöz (Schwarzauge) ein türkischer Bauer. Er macht sich aus seinem Dorf mit seinem sprechenden Esel auf den Weg nach Deutschland und läßt seine Frau im Dorf zurück. Karagöz und der Esel erleben viele Stationen, bevor sie in Deutschland ankommen. Der Esel wird zu einem Intellektuellen, er zitiert Marx und Sokrates, trinkt Wein und raucht Camel-Zigaretten. Die Frau des Karagöz ist immer auf dem Weg zwischen der Türkei und Deutschland, weil sie es nirgendwo aushalten kann. Der Esel redet mit Karagöz Opel Karavan über den kommenden Krieg. Das Auto wird böse und ruft seinen Besitzer Karagöz. Karagöz schlägt seinen Esel - der Esel kriegt einen Herzinfarkt und geht mit dem jugendlichen Ebenbild des Karagöz fort, das Karagöz nicht mehr kennt.

Karagöz fährt wieder mit seinem Opel Karavan. Eine unaufhörliche Reise.

 

Ich inszenierte »Karagöz in Alamania« 1986 im Frankfurter Schauspielhaus. Weil meine Figuren im Stück mit ihren Geschichten und Auftritten behaupten, Stars zu sein, suchte ich auch Schauspieler und Laien, die Stars waren. Zum Beispiel fand ich einen älteren türkischen Arbeiter, Nihat, der früher Kebabsalonbesitzer war und ein sehr gutes Gesicht hatte, wie eine Mafia-Figur. Eine wunderbare griechische Opernsängerin, deutsche, türkische, spanische Film- und Theaterstars. Wunderbare Gesichter - gute Schauspieler. Dazu hatten wir einen echten Esel, ein Schaf und drei Hühner. Das Schaf warf während der Proben auf der Bühne ein schwarzes Lamm.

Am Anfang der Proben war auf der Bühne eine fast heilige Stimmung. Wir machen etwas Besonderes! Zum ersten Mal ein Theaterstück über Türken. Leise Stimmen - Liebesblicke. Langsame Bewegungen. Auch die Tiere waren miteinander befreundet. Esel, Schaf und Lamm schliefen im gleichen Stall nebeneinander. Die Schauspielerin, die auf sie aufpaßte, sagte: »Wie die Tiere sich lieben!«

Das dauerte eine Woche. Nach einer Woche fangen die normalen Schwierigkeiten der Probenarbeit an.

Als die Schauspieler aufeinander böse wurden, fingen nach einer Weile auch die Tiere an. Der Esel trat das Schaf oder zeigte ihm die Zähne, das Schaf biß den Esel, das Lamm schrie zwischen beiden laut määää. Wir trennten die Tiere im Stall voneinander, damit sie sich in der Nacht nicht weiter schlugen.

Der türkische Star wollte dem deutschen Star, der den Türken spielte, zeigen, wie man einen Gastarbeiter spielt. Der deutsche Star sagte zu ihm: »Du Kümmeltürke, lerne zuerst einmal richtig Englisch.« Der türkische Star sagte zu ihm: »Du SS-Mann, you are SS-man.«

Einmal brachte die deutsche Schauspielerin, die auf die Tiere aufpaßte, das Schaf und das Lamm mit zur Probe und rief: »Wer hat hinter der Bühne auf den Kopf des Schafes gespuckt?« Daraufhin sagte der spanische Schauspieler: »Du mit deiner deutschen Tierliebe - und die Menschen sterben in der Welt vor Hunger.«

Die deutsche Schauspielerin gab dem spanischen Schauspieler eine Backpfeife und sagte: »Du eitler Spanier.«

Ein deutscher Star begrüßte mich jeden Morgen mit den Worten: »Guten Morgen, Frau Khomeini.«

Nur Nihat, der ehemalige Kebabsalonbesitzer, lief zwischen den Schauspielern hin und her und rief: »Was ist hier los? Was ist hier los?«

Ein anderer türkischer Star legte eines Morgens einen Brief auf den Regietisch. Er schrieb mir, wenn ich den schwulen deutschen Star weiter mehr lieben würde als ihn, würde er bald in einer türkischen Zeitung seine Gefühle veröffentlichen.

Ich lud ihn zum Essen ein und kochte türkisch für ihn. Er aß, kritisierte mich, »das Salz fehlt« usw., aß aber gerne, trank gezuckerten Kaffee. Dann erzählte er mir, daß sein Vater durch das ständige Gefühl, beleidigt worden zu sein, mit 36 Jahren gestorben wäre. Als der deutsche Star hörte, daß ich für ihn gekocht hatte, wollte er sich mit mir treffen. Er gab mir einen Termin um 23 Uhr in einem Lokal und kam zwei Stunden später. Er lachte und sagte: »Oh, du hast auf mich gewartet.«

Eines Tages trug eine Schauspielerin, die eine Türkin spielte, in der Probe ein Kopftuch. Ich fragte sie, warum. Ein deutscher Schauspieler hatte ihr gesagt, sie sollte zu ihrem Türkischsein stehen. Einmal biß der Esel den türkischen Star in den Nacken. Er hatte den Kopf des Esels unter seinem Arm etwas festgehalten, so, als ob der Esel sein Freund wäre, mit dem er gerade scherzte. Der deutsche Bühnenbildner warf sich über den Esel, damit dieser den Nacken des Stars losließ. Wir brachten ihn ins Krankenhaus, wo er eine Spritze gegen Tollwut bekam. Ein türkischer Star sagte: »Ein türkischer Esel würde so etwas niemals tun.« (Der Esel war ein Frankfurter Esel.) Ein deutscher Star: »Ich verstehe mich mit dem Esel gut, er würde mir so etwas nie antun.« Dann trat ihn der Esel aber auch. Er kam zu mir und sagte: »Entweder ich oder der Esel. Wenn der Esel in diesem Stück spielt, spiele ich nicht mehr.« Ich sagte: »Ich werde mit dem Esel sprechen.«

Während der Proben starb der Vater der griechischen Sängerin, ihre Mutter und ihre Großmutter, einem deutschen Star seine hundertjährige Tante. So kamen wir mit vielen Toten und vom Esel Verletzten zur Premiere. Ich wollte den Arbeiter, dessen Brief mich dazu gebracht hatte, das Stück zu schreiben, zur Premiere einladen. Er war aber auch gestorben - auf einem Stuhl, in seinem Dorf, vor seinem Laden. Herzinfarkt, 41 Jahre alt.

Der Intendant war ein netter Mann, er liebte die Arbeit. Als eine Schauspielerin sagen mußte:



Ich bleiben zurück -

Mein Mann Alamania

Alaman Frau ficken - bleiben,



sagte er: »Bitte, sagen Sie das Wort nicht, sonst denken alle Deutschen, die türkische Poesie bestände aus solchen Wörtern.«

Daraufhin sagte die Schauspielerin in der Generalprobe: »Mein Mann, Alamania, Alaman Frau fincken - bleiben ...«

 

Vor der Premiere ließ das Theater, ohne mich vorher zu fragen, aus Liebe zu diesem Stück an die Zuschauer ein Flugblatt verteilen, in dem das Theater versuchte, das Stück zu erklären: »Manchmal werden Sie sich im Verlauf des Stückes fragen: Wo ist nun wo? Sind wir in der Türkei, sind wir in...
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Autor

Emine Sevgi Özdamar, geboren am 10. August 1946 in der Türkei.Mit 12 Jahren erste Theaterrolle am Staatstheater Bursa im Bürger als Edelmann von Molière.1965 bis 1967 Aufenthalt in Berlin, Arbeit in einer Fabrik.1967 bis 1970 Schauspielschule in Istanbul.Erste professionellen Rollen in der Türkei als Charlotte Corday im Marat-Sade von Peter Weiss und als Witwe Begbick in Mann ist Mann von Bert Brecht.1976 an der Volksbühne Ost-Berlin.Mitarbeit bei dem Brecht-Schüler und Regisseur Benno Besson und bei Matthias Langhoff.1978 bis 1979 Paris und Avignon.Mitarbeit an Benno Bessons Inszenierung Kaukasischer Kreidekreis von Bert Brecht. Aufgrund der vorangegangenen Theaterarbeit Doktorandin an der Pariser Universität Vincennes.1979 bis 1984 Engagement als Schauspielerin beim Bochumer Schauspielhaus unter der Intendanz von Claus Peymann.Im Auftrag des Schauspielhauses Bochum entstand ihr erstes Theaterstück Karagöz in Alemania, erschienen im Verlag der Autoren, Frankfurt. 1986 im Frankfurter Schauspielhaus unter eigener Regie aufgeführt.Verschiedene Theaterrollen:Lieber Georg von Thomas Brasch, Regie Karge/Langhoff; Mutter von Bert Brecht; Weihnachtstod, Buch und Regie Franz Xaver Kroetz, Kammerspiele München; Im Dickicht der Städte von Bert Brecht, Freie Volksbühne Berlin; Faust, Regie Einar Schleef, Frankfurter Schauspielhaus; Die Trojaner von Berlioz, Regie Berghaus, Frankfurter Oper; Drei Schwestern von Anton Tschechow, Théâtre de la Ville, Paris, Regie Matthias Langhoff, Die Troerinnen von Euripides, Théâtre Amandière, Paris, Regie Matthias Langhoff.Seit 1982 freie Schriftstellerin. Emine Sevgi Özdamar lebt in Berlin.Bibliographie und Auszeichnungen:. 1982 erstes Theaterstück Karagöz in Alemania, erschienen im Verlag der Autoren, Frankfurt.. 1991 zweites Theaterstück Keloglan in Alemania, die Versöhnung von Schwein und Lamm, Verlag der Autoren, Frankfurt.. 2001 drittes Theaterstück Noahi, Verlag der Autoren, Frankfurt. Noahi bearbeitet die Arche-Noah-Geschichte im Rahmen des Projektes Mythen für Kinder und wird im Frankfurter Schauspielhaus uraufgeführt.. Erster Erzählband Mutterzunge, Rotbuch-Verlag, 1990.. Der Erzählband Mutterzunge gehört zu den Best Books of Fiction published 1994 in America (Publisher's Weekly).. Erster Roman Das Leben ist eine Karawanserei hat zwei Türen aus einer kam ich rein aus der anderen ging ich raus, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln, 1992. Der Roman erscheint außer in Deutschland auch in Frankreich, England, Griechenland, Katalonien, Finnland, den Niederlanden, Spanien, Polen, der Türkei, Norwegen und Kanada.. Ingeborg Bachmann Preis 1991. Walter Hasenclever-Preis 1993. Stipendium des Deutschen Literaturfonds 1992. New York-Stipendium des Deutschen Literaturfonds 1995. International Book of the Year, London Times Literary Supplement, 1994. Zweiter Roman Die Brücke vom Goldenen Horn, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln, 1998 (auch als KiWi 554). Arbeitsstipendium der Landeshauptstadt Düsseldorf. Adalbert von Chamisso-Preis 1999. Preis der LiteraTour Nord 1999. Im Frühjahr 2001 erschien ihr neuer Erzählband Der Hof im Spiegel. Künstlerinnenpreis des Landes NRW im Bereich Literatur / Prosa, 2001. Dritter Roman Seltsame Sterne starren zur Erde, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2003. Literaturpreis der Stadt Bergen-Enkheim, Stadtschreiberin 2003. Erhielt am 21. November 2004 den Heinrich-von-Kleist-Preis. Kunstpreis Berlin 2009 des Landes Berlin, von der Sektion Literatur der Akademie der Künste als Fontane-Preis verliehen. Verleihung der Carl-Zuckmayer-Medaille 2010. Alice-Salomon-Poetik-Preis 2012. Bayerischer Buchpreis 2021. Roswitha-Preis der Stadt Bad Gandersheim 2021. Preis der Leipziger Buchmesse 2022 (Shortlist). Düsseldorfer Literaturpreis 2022. Georg-Büchner-Preis 2022