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Zur Kritik der reinen Erfahrung

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
202 Seiten
Deutsch
Narr Francke Attempto Verlagerschienen am31.10.20221. Auflage
Kritik ist mehr als der Gegenstand dieses Buches. Sie ist auch der ursprüngliche Impuls des Denkens, der es methodisch und inhaltlich strukturiert: In 19 aufeinander aufbauenden Abschnitten drängt Kritik das Denken zur produktiven Auseinandersetzung mit dessen Negativität. Angelpunkt dieser Selbstbewegung des Denkens ist die 'reine Erfahrung'. In ihr stehen klassisch kantische Problemkomplexe im konstellativen Zusammenhang mit existenzialphilosophischen und phänomenologischen Paradigmen; Urteilslogik verschwistert sich mit Verzweiflung, Unsicherheit, Kreativität, und schliesslich: mit der Kunst.

Dr. phil. Julia Wentzlaff-Eggebert ist Assistentin und Postdoktorandin am Lehrstuhl für Geschichte der Philosophie der Universität Basel.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR58,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
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E-BookPDF1 - PDF WatermarkE-Book
EUR46,40

Produkt

KlappentextKritik ist mehr als der Gegenstand dieses Buches. Sie ist auch der ursprüngliche Impuls des Denkens, der es methodisch und inhaltlich strukturiert: In 19 aufeinander aufbauenden Abschnitten drängt Kritik das Denken zur produktiven Auseinandersetzung mit dessen Negativität. Angelpunkt dieser Selbstbewegung des Denkens ist die 'reine Erfahrung'. In ihr stehen klassisch kantische Problemkomplexe im konstellativen Zusammenhang mit existenzialphilosophischen und phänomenologischen Paradigmen; Urteilslogik verschwistert sich mit Verzweiflung, Unsicherheit, Kreativität, und schliesslich: mit der Kunst.

Dr. phil. Julia Wentzlaff-Eggebert ist Assistentin und Postdoktorandin am Lehrstuhl für Geschichte der Philosophie der Universität Basel.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783772002182
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2022
Erscheinungsdatum31.10.2022
Auflage1. Auflage
Reihen-Nr.21
Seiten202 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1170 Kbytes
Artikel-Nr.10097654
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Inhaltsverzeichnis
Danksagung
Einleitung
§1 Der kritische Impuls
§2 Denken in der Krise
§3 Die Möglichkeit von Kritik und das Kategorienproblem
§4 Ur=Theilung
§5 Urteil
§6 Kopula
§7 Funktion und Synthesis
§8 Apperzeption
§9 Erscheinung
§10 Kreativität des kritischen Subjekts
§11 Fundamentale Verunsicherung
§12 Unschuld des Auges
§13 Phantasie
§14 Der kritische Akt
§15 Vernichtung
§16 Phänomen und Phänomenologie der reinen Erfahrung
§17 Zu Methodenfrage und Dialektik
§18 Ursprung und Ziel: Über den Anspruch des Denkens
§19 Puls der Kunst
Siglen und Abkürzungen
Literatur
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Leseprobe


§1 Der kritische Impuls


Am Anfang jeder Untersuchung stellt sich die Frage, womit sie anfangen soll. Diese Frage stellt sich mit besonderer Dringlichkeit, wenn die Untersuchung, wie die vorliegende, keinen vorab bestimmten Gegenstand hat, an dem sie ansetzen könnte. Denn der Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist das Denken selbst. Über das Denken können wir aber nicht als anfängliches nachdenken. Über das Denken können wir nur nachdenken, indem wir denken - das heisst, indem wir bereits angefangen haben. Das Denken kann nicht auf sich wie auf einen Gegenstand blicken. Will es sich selbst erfassen, so findet es immer nur das schon Gedachte, die geronnene Denktätigkeit vor. Aus diesem Grund kann die vorliegende Untersuchung nur mit einem Gedanken anfangen, der eigentlich keiner sein kann. Es muss ein Gedanke sein, der nur äusserlich, nämlich im Kontrast zum Denken, also negativ bestimmt werden kann. Diese negative Bestimmung des Denkens, oder dass sich das Denken nicht anfänglich denken kann, ist in besonderer Weise anfänglich: Sie ist, wie das Folgende zeigt, dem Denken ursprünglich.

Ursprünglich ist für das Denken, was vom Denken nicht getrennt werden kann. Die Nichtanfänglichkeit des Denkens ist dem Denken ursprünglich, weil wir sonst vom Denken das Denken abziehen müssten. Wir müssten, um den Anfang des Denkens zu denken, einen Gedanken fassen können, ohne ihn zu denken. Zum Denken gehört aber unbestreitbar, dass gedacht wird. Schelling hat diesen Zusammenhang das factum brutum des reinen Dass genannt. Was gedacht wird, das ist Sache des Denkens. Zu denken aber, dass diese Sache gedacht wird, übersteigt es. Es übersteigt das Denken um die Voraussetzung, dass wir denken. Schelling erläutert diese Unterscheidung zum Beispiel in Bezug auf das Denken und das Erkennen von Seiendem:


«Hier ist nämlich zu bemerken, dass an allem Wirklichen zweierlei zu erkennen ist, es sind zwei ganz verschiedene Sachen, zu wissen, was ein Seyendes ist, quid sit, und dass es ist, quod sit. Jenes - die Antwort auf die Frage: was es ist - gewährt mir die Einsicht in das Wesen des Dings, oder es macht, dass ich das Ding verstehe, dass ich einen Verstand oder einen Begriff von ihm, oder es selbst im Begriff habe. Das andere aber, die Einsicht, dass es ist, gewährt mir nicht den blossen Begriff, sondern etwas über den blossen Begriff Hinausgehendes, welches die Existenz ist. Dieses ist ein Erkennen, wobei freilich einleuchtet, dass wohl ein Begriff ohne ein wirkliches Erkennen, ein Erkennen aber ohne den Begriff nicht möglich ist.»


Demzufolge vermag das Denken nur dasjenige an den Dingen zu ermitteln, was sie sind oder was an ihnen begrifflich ist. Davon grundverschieden ist das Erkennen, dass sie sind. In Bezug auf die anfängliche Fragestellung bedeutet dies einerseits, dass das Denken des Denkens oder die Einsicht, dass wir denken, vom Denken ausgeschlossen wird. Daraus folgt aber keineswegs, dass sie für das Denken bedeutungslos wird. Denn andererseits bedingt dieses «Dass» gleichsam jeden Gedanken: Es ist in all unseren Gedanken allein dadurch, dass wir sie denken, da es unmöglich ist einen Gedanken zu fassen, ohne dass wir ihn denken. Ebenso redundant wäre es, aus dem Gedanken zusätzlich noch herleiten zu wollen, dass er gedacht wird. Dies zu beweisen kann also nicht Sache des Denkens sein. Das gilt auch für Gedanken, welche nicht auf sich selbst gerichtet sind, sondern die zum Beispiel empirisch Erforschbares, Einsichten in «das Wesen» eines «Dings» (s. o.) im Sinn haben. Denn alles Erforschbare kann ja anders nicht erforscht werden als durch Gedanken. Es trägt eben deshalb schon das Dass in sich, weil es erforscht, das heisst, gedacht wird.

Obwohl es also nicht gedacht werden kann, ist das Dass vom Denken nicht wegzudenken. Somit betrifft es auch nicht irgendeinen Gedanken, diesen oder jenen, sondern jeden möglichen, den Gedanken, Denken überhaupt. Dass gedacht wird, ist dem Denken ursprünglich. Sicherlich gilt nun für das Denken, dass wir nur soweit denken können, als wir denken können - aber, dass wir dies können, so Schelling, ist nicht wieder eine Eigenschaft unseres Könnens. Dass wir denken, das ist ein factum brutum, weil es dem Denken ebenso wesentlich ist, wie es dieses übersteigt. - Wenn dieses factum aber nicht gedacht werden kann, wie kann es dem Denken dann innewohnen? Wenn das Denken des Denkens doch kein Gedanke ist, (wie) können wir dann dessen gewahr werden, dass wir denken?

Eine berühmte Antwort auf dieses Problem findet sich in Jacobis Briefen an Moses Mendelssohn von 1785. Jacobi hält die Frage nicht nur, wie Schelling, für unbeantwortbar, sondern er erklärt sie sogar für «ungemessene Erklärungssucht» hyperbolischen Denkens: «mehr verblendet als erleuchtet.» Die Verblendung betreffe den Versuch etwas denken zu wollen, von dem schon im Vornherein klar ist, dass es nicht denkbar ist. Jacobi schreibt:


«Eine Frage, die ich nicht begreife, kann ich auch nicht beantworten, ist für mich so gut als keine Frage. Es ist mir niemals eingefallen, auf meine eigenen Schultern steigen zu wollen, um freiere Aussichten zu haben.»


Damit schliesst Jacobi aus der Einsicht in die Unbeantwortbarkeit auf die Sinnlosigkeit der Frage. Anschliessend vollführt er ein besonderes Kunststück: Anstatt weiter auf der Denkbarkeit des Undenkbaren zu pochen, gleich als wollten wir auf die «eigenen Schultern steigen» (s. o.), rettet sich Jacobi aus der vertrackten Situation durch einen Salto mortale: «ein[en] Sprung ins Leere [â¦], dahin uns die Vernunft nicht folgen kann.» Dieser Luftsprung der Art Kopfunten solle uns von der Sphäre des Denkens in eine Sphäre des Vernehmens, einer besonderen Art des Wahrnehmens, katapultieren. Was dann vernommen wird, das bleibt freilich gedankenlos - man könnte es vielleicht als pulsierende Sehnsucht beschreiben, oder als begriffslose Fiebrigkeit.

Von ähnlicher Fiebrigkeit wie Jacobi zeugen auch Ansätze des zwanzigjährigen Schelling. In der 1795 erschienenen Schrift Vom Ich als Princip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen argumentiert er, dass das Denken des Denkens nicht im gegenstandsbezogenen, vermittelten Denken vonstatten gehen kann, sondern dass dies in unmittelbarer Weise geschehen müsse. Das unmittelbare Erfassen heisse Anschauen. Nun könne das Denken aber nicht sinnlich angeschaut werden, da es sonst zum Gegenstand bedingt wäre. Deshalb, so der junge Schelling, habe die Anschauung nicht sinnlich, sondern intellektuell zu sein, damit die anschauende Person über alle denkbaren Inhalte hinaussehen könne. Die Frage ist freilich: Wie kommen wir überhaupt dazu, irgendetwas intellektuell zu schauen, das keine inhaltliche Bestimmung hat? Schellings frühe Antwort (er wird sie später revidieren) erinnert an Jacobi: theoretisch sei das Problem des Übergangs «unauflöslich». Oder in einem Slogan zusammengefasst: «Vom Unendlichen zum Endlichen - kein Uebergang!» Aber der so konzeptualisierte, übergangslose Sprung ins Reich der Gedankenlosigkeit hat einen Haken.

Das Problem ist: Setzen wir das Dass als allem Denken vorausgehend, dann ist es immer schon verloren. So ist mit ihm in Gedanken gar nichts anzufangen. Denn jedes Anfangen müsste den Punkt des Anfangs finden, aber gerade dies geht nicht, wie wir gesehen haben: weil der Anfang dann bereits Fortsetzung, also nicht mehr anfänglich wäre. Walter Schulz hat eine ähnliche Grundproblematik klarsichtig als Antinomie formuliert: Die These besagt, dass das Dass alles Denken bestimmt, durchwaltet, und ihm daher ursprünglich ist, weil es von keinem Gedanken abstrahiert werden kann. Die Antithese behauptet, dass dieses alles durchwaltende, ursprüngliche Dass selber jenseits des Denkens liegen muss bzw. «in sich selbst nicht festgestellt werden [kann].» Das Paradox besteht demnach in der Ursprünglichkeit dieses Zusammenhangs, dass wir uns des Denkens gewahr werden müssen, aber nicht (im Denken) gewahr werden können. Also gehören die Einsicht, dass das Denken nicht zum Gedanken werden kann, und die Einsicht, dass kein Gedanke jemals wahrhaft anfänglich ist, ursprünglich zusammen. Oder wie eingangs formuliert: Die Nichtanfänglichkeit des Denkens ist dem Denken ursprünglich. Aus demselben Grund ist es nicht möglich, wie der junge Schelling glaubte, das Denken in irgendeiner unmittelbaren Weise zu schauen oder zu vernehmen. Denn zum unmittelbaren Einssein mit sich, also zum Denken seines Anfangs, müsste das Denken Jacobis Kunststück vollführen und aufhören zu denken. Mit demselben Akt aber, dem Salto mortale aus dem Denken hinaus, entgleite auch das factum, dass wir denken. Ohne einen gehaltvollen Gedanken zu haben kann von keinem Denken die Rede sein. Hegel hat Jacobis «Leere, [â¦] dahin die Vernunft nicht folgen kann» (s. o.) bekanntlich eine Nacht genannt, in der alle Kühe schwarz sind: blinde Naivität, Gedanke ohne Inhalt. Denn was sich ohne Unterschied zum Dass vollzieht, das kann nicht ins Bewusstsein eindringen. Ein Denken, welches das Faktum seines Vollzugs ins Undenkbare versetzt, bleibt in unterschiedsloser...
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Autor

Dr. phil. Julia Wentzlaff-Eggebert ist Assistentin und Postdoktorandin am Lehrstuhl für Geschichte der Philosophie der Universität Basel.
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