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Obszön

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
384 Seiten
Deutsch
Diogeneserschienen am25.01.20231. Auflage
Die Frage: was empfindet man in der Literatur als obszön? demonstriert und erläutert Marcuse an sechs großen literarischen Skandalen: Schlegels Lucinde, Flauberts Madame Bovary und Baudelaires Blumen des Bösen, Schnitzlers Reigen, Lady Chatterley von D.H. Lawrence und Wendekreis des Krebses von Henry Miller.
Ludwig Marcuse zieht in dieser seiner bekanntesten Veröffentlichung als kritischer Freigeist und Entlarver mit viel Temperament gegen Muckertum und Heuchelei ins Feld.'

Ludwig Marcuse, geboren 1894 in Berlin, emigrierte 1933 wie viele deutsche Intellektuelle nach Sanary-sur-Mer in Südfrankreich und 1940 in die USA. 1944 wurde er amerikanischer Staatsbürger, später lehrte er als Professor für Philosophie und Deutsche Literatur an der University of Southern California in Los Angeles. Nach der Emeritierung kehrte er 1963 nach Deutschland zurück. Er starb 1971 in München.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR13,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR10,99

Produkt

KlappentextDie Frage: was empfindet man in der Literatur als obszön? demonstriert und erläutert Marcuse an sechs großen literarischen Skandalen: Schlegels Lucinde, Flauberts Madame Bovary und Baudelaires Blumen des Bösen, Schnitzlers Reigen, Lady Chatterley von D.H. Lawrence und Wendekreis des Krebses von Henry Miller.
Ludwig Marcuse zieht in dieser seiner bekanntesten Veröffentlichung als kritischer Freigeist und Entlarver mit viel Temperament gegen Muckertum und Heuchelei ins Feld.'

Ludwig Marcuse, geboren 1894 in Berlin, emigrierte 1933 wie viele deutsche Intellektuelle nach Sanary-sur-Mer in Südfrankreich und 1940 in die USA. 1944 wurde er amerikanischer Staatsbürger, später lehrte er als Professor für Philosophie und Deutsche Literatur an der University of Southern California in Los Angeles. Nach der Emeritierung kehrte er 1963 nach Deutschland zurück. Er starb 1971 in München.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783257612936
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Verlag
Erscheinungsjahr2023
Erscheinungsdatum25.01.2023
Auflage1. Auflage
Seiten384 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse926 Kbytes
Artikel-Nr.10785577
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


Jedes Pamphlet ist parteiisch, auch dies; unparteiisch allerdings in dem Glauben, daß die Stellungnahme nicht der Einsicht vorausgehen darf. Leider gibt es viel mehr Engagement als Nachdenken; die Engagierten sind oft in nichts als einen Mangel an Wissen engagiert. Im Elfenbeinturm, nicht auf dem Marsch erscheint das Ziel. Am Anfang ist die Idee - und dann erst die Praxis, die sie realisiert.

Das Interesse der hier vorliegenden Philosophia militans ist nicht, zum soundsovielten Mal, noch einmal mehr die bösen Zensoren zu treffen - sondern zum ersten Mal die Illiberalitäten ihrer liberalen Gegner. Deshalb kann es geschehen, daß die Engherzigsten glauben werden, diese Schrift auf ihrer Seite zu haben. Es sieht nur so aus, wenn sie den Gegner ihrer Gegner für einen Gleichgesinnten halten; wenn sie die Abwehr eines schlechten Arguments gegen sie als ein gutes Argument für sie mißverstehen. Ein Fechten nach zwei Seiten verwirrt immer die Eingleisigen; zumal wenn die schlimmere Partei weniger attackiert wird, weil alles Notwendige bereits gesagt worden ist. Wenn sich Obskuranten aus diesem Buch Zitate holen sollten: die Angst davor soll mich nicht hindern, vor allem die ängstlichen Aufklärer, die stationären Fortschrittlichen aufs Korn zu nehmen.

Ich richte mich deshalb ganz besonders gegen sie, weil ihre Rückschrittlichkeit schwerer zu erkennen ist. Man hat Muckern, Heuchlern, reaktionären Klassenkämpfern zuviel aufgebürdet - und so verschleiert, daß ihre lautesten Feinde, was die Sexual-Moral betrifft, nur ein bißchen weniger engherzig sind. Von Clemens Brentano wird berichtet, er habe zu einer Fürstin, die auf seinen Roman »Godwi« zu sprechen kam, gesagt: »Pfui, schämen Sie sich, daß Sie als Frau und Mutter so etwas lesen.« Derart gespalten waren viele wackere Kämpfer gegen die Anklage auf Obszönität, wenn sie sich außerdem über Obszönes entrüsteten. Friedrich Schlegel nahm die »Lucinde« nicht in seine Werke auf. Schnitzler verbot testamentarisch für alle Zeit die Aufführung des »Reigen«. Nabokov warf D.H. Lawrence Obszönität vor.

Dies Plädoyer kennt keinen entscheidenen Unterschied zwischen den einander bekämpfenden Parteien. Es ist nicht auf seiten der Kunst-Liebhaber gegen die Amusischen (diese Parteiung verschleierte immer die gemeinsame Sexual-Moral), sondern für die Sinnen-Lust gegen die musischen und amusischen, reaktionären und etwas liberalen Puritaner, die in gleicher Weise, deutlicher oder weniger ausgesprochen, Sinnen-feindlich waren. Man stritt sich immer nur um die Frage: ob das strafende Wort Obszön auf diesen oder jenen Künstler, auf dieses oder jenes Werk angewendet werden dürfe oder nicht. Man zog kaum in Betracht, daß das Wort selbst vielleicht ohne jede Existenzberechtigung ist. Gerade sie aber steht hier zur Debatte; und nur nebenbei wird auch viel Trübes auf der Grenze zwischen Religion, Moral und Kunst aufzuhellen sein.

 

Die wichtigsten Dokumente, in denen Auseinandersetzungen über das Obszöne überliefert sind, beziehen sich leider nur auf die Welt-Literatur; auf jenes schmale Gebiet, in dem Erotisches zum Thema geworden ist. Beziehen sich also nicht auf das individuelle und gesellschaftliche Leben des Sexus, das von den Künsten nur bescheiden gespiegelt worden ist. Es existiert keine gleichwertige Erörterung der Reizung »eingeborener und erworbener erotischer Reaktionsfähigkeit«: wie sie täglich von Millionen Männern und Frauen auf das eigene oder das andere Geschlecht mehr oder minder »planvoll« ausgeübt wird. So kam man auf die Idee, das Obszöne für eine ästhetische (oder unästhetische) Kategorie zu halten; und beim Streit um sie sein Dasein außerhalb der Künste und der kunstloseren Produktion zu ignorieren.

Begreiflich! Die lebendigen Reizungen sind so zahllos und vielfältig, daß kein Ankläger ihnen nachjagen kann. Und die Wurzel des Übels, »die eingeborene und erworbene erotische Reaktionsfähigkeit«, kann man sowieso nicht packen - ganz abgesehen davon, daß es neben ihr noch eine (völlig unbeachtete) Aktionsfähigkeit gibt. Auch der mächtigste Diktator könnte nicht verfügen, daß die beiden gleich bei Geburt zerstört werden. Selbst wenn er eine Entsinnlichung der Menschheit riskierte ... das Verschwinden der Lust wäre nicht das einzige Resultat. Es ist ein Glück, daß Menschenrasse und sexuelles Vergnügen so unauflöslich miteinander verknüpft sind; man hätte es sonst längst aus der Welt hinausmanipuliert.

Das geht also nicht; so findet die Jagd auf die Reizung der erotischen Reaktionsfähigkeit nur in jenem schmalen Gebiet statt, das man immer wieder unter Kontrolle zu bringen hofft: im Bezirk der Darstellung, vor allem der literarischen. Es war gelegentlich auch einmal ein »obszöner Walzer« unter Anklage (zum Beispiel im »Reigen«-Prozeß) oder die obszöne Schlafzimmer-Musik in Richard Strauss´ »Feuersnot« und Schrekers »Gezeichneten«. Man ging gelegentlich auch gegen ein Bild oder eine Statue vor. Aber stand je ein Werk der bildenden Kunst eine ganze Woche lang von morgens bis abends im Mittelpunkt des Für und Wider?

Dabei hat sie sich manches geleistet. Die gotischen Kathedralen mit ihren Figuren, Reliefs und Statuetten sind auch ein großes pornographisches Bilderbuch. In der Vorhalle der englischen Kirche Isle Adam steht eine junge nackte Frau, vor ihr sitzt ein ebenso jugendlicher und nackter Teufel, der seinen Kopf in ihren Schoß preßt. Ein Relief an einer frühmittelalterlichen Kirche im französischen Pairon zeigt zwei Nackte, die mit den unteren Partien gegeneinanderliegen. Correggios Jo, Rubens´ pissende Männer, auf die Flaubert hinwies: eine Kette von Obszönitäten bis zu Hogarth und Rowlandson und Hokusai und Aubrey Beardsley, der die Schmerzen der Lysistrata-Genossinnen noch eindeutiger illustrierte als Aristophanes.

Doch sind die gemeißelten und gemalten Unanständigkeiten nicht so gegenwärtig wie die literarischen. Man hat mit Recht bemerkt: es gibt in der modernen Malerei und Musik keine Paralele zum Joyce-Skandal. Henry Miller deutete es so: bei Büchern fühlen auch Klempner und Metzger, daß sie ein Recht auf Meinung haben ... Die Literatur ist die wenigst esoterische Kunst; das Obszöne aber ist immer eine Entrüstung der Massen, von wem sie auch dirigiert sein mögen.

So setzten nur im Zusammenhang mit der Literatur weitläufigere Debatten ein. Und dies enge Feld ist noch dreimal eingeengt. Es gibt vier unanständige Literaturen - und nur eine, der wir Einblick in Auseinandersetzungen über das Obszöne verdanken. Wir haben zunächst über die drei anderen zu sprechen. Da ist die Kiosk-Literatur für verheiratete und unverheiratete Junggesellen, für Jungen und Mädchen, die nicht die Paralipomena zu Goethes »Faust« mühsam in der Bibliothek heraussuchen. Sie ist nicht immer an Kiosken ausgestellt worden, aber immer von gleicher Art gewesen. Sie wurde nie einer (mehr als polizeilichen) Beachtung gewürdigt; daneben vielleicht noch als Thema donnernder Prediger, die kaum mehr sagten, als daß sie des Teufels sei.

Noch weniger Aufmerksamkeit hat man der offeneren und weniger öffentlichen Pornographie geschenkt; sie erscheint geheim, ist nur einem kleinen Kreis für viel Geld zugänglich. Um sie hat es nie Streit gegeben, weil niemand je für sie eingetreten ist; und niemand trat für sie ein, weil diese erotischen Arcana, die auch das Neben-Gebiet behandeln, unter Titeln wie »The benefit of farting explained« - nur selten einmal einen berühmten Verfasser hatten: obwohl Benjamin Franklin und Mark Twain hier zu nennen sind; auch Deutsche, Franzosen und Engländer bis zu Musset und Frank Harris. Und niemand kann sagen, wieviel Obszön-Klassisches nicht ängstlichen Erben in die Hand gefallen ist. Die Großherzogin Sophie schloß Goethes schmale Produktion von »Hanswursts Hochzeit oder der Lauf der Welt« bis zum Marienbader »Tagebuch« von ihrer umfassenden Ausgabe des Gesamtwerks aus. Wieviel aber wurde hier und sonst vernichtet?

Zu unterscheiden von dem Unanständigen der Klassiker sind die klassischen Unanständigkeiten. Die Bibliographie der hohen Pornographie, 1936 zusammengestellt in einem Registrum Librorum Eroticorum, verzeichnet 5000 englische, französische, deutsche, italienische Titel. Diese Publikationen können in den feinsten Bücher-Mausoleen besucht werden. Das größte ist im Vatikan: 25000 Bände, 100000 Drucke. Folgt das Britische Museum: 20000 Stück. Die Bibliothèque Nationale in Paris nennt ihre Kollektion »L´enfer«; die Library of Congress in Washington »Delta«, nach dem griechischen Symbol für die Frau. I.P. Morgan soll für seine Sammlung eine Million ausgegeben haben; der amerikanische Staat hatte es billiger, ihm wurde zugeschanzt, was Post und Zoll beschlagnahmt hatten. Die große Sammlung des Instituts für Sexualwissenschaft in Berlin ist unter Hitler spurlos verschwunden. Man hat diesen Verlust mit dem andern beim Brand der Bibliothek von Alexandria verglichen.

Manche berühmten Stücke, die keinen Cotta zum Verleger hatten, von keiner Oxford History of Literature verzeichnet und von keinem Georg Brandes zergliedert wurden, können auf eine lange Lebenszeit (nicht nur Ruhezeit im Archiv) zurücksehen. Da zirkuliert noch immer die im Geburtsjahr Goethes erschienene »Fanny Hill« oder »The Memoirs of a Woman of pleasure« - die...
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Autor

Ludwig Marcuse, geboren 1894 in Berlin, emigrierte 1933 wie viele deutsche Intellektuelle nach Sanary-sur-Mer in Südfrankreich und 1940 in die USA. 1944 wurde er amerikanischer Staatsbürger, später lehrte er als Professor für Philosophie und Deutsche Literatur an der University of Southern California in Los Angeles. Nach der Emeritierung kehrte er 1963 nach Deutschland zurück. Er starb 1971 in München.