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Der fünfte Kopf des Zerberus

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
296 Seiten
Deutsch
Memoranda Verlagerschienen am16.10.20231. Auflage
Auf den Zwillingsplaneten Sainte Croix und Sainte Anne haben britische Siedler die ehemals französische Kolonie erobert. Doch was ist mit den Ureinwohnern geschehen, die hier einst lebten? Einige von ihnen scheinen sich ins unerforschte Hinterland zurückgezogen zu haben. Wolfe verknüpft auf brillante Weise drei Handlungsfäden miteinander: Der Sohn eines Wissenschaftlers - und Bordellbesitzers - kommt dem bizarren Geheimnis seiner Herkunft auf die Spur; ein junger Aborigine begibt sich auf eine mystische Traumreise und muss im Kampf gegen seinen verlorenen Bruder seine Identität finden; ein Anthropologe berichtet in nur bruchstückhaft überlieferten Erinnerungen von seiner Begegnung mit den Ureinwohnern - aber ist er wirklich, wer er zu sein vorgibt? Die Einstiegsdroge in das Werk eines Autors, der in der ganzen englischsprachigen Literatur nicht seinesgleichen hat.

Gene Wolfe (1935-2019) ist der große Stilist der angloamerikanischen Science Fiction. Sein apokalyptischer Zyklus 'Das Buch der neuen Sonne' gilt als unerreichter Höhepunkt des Genres. Für sein Lebenswerk wurde er mit dem World Fantasy Award und dem SFWA Grand Master Award ausgezeichnet sowie in die Science Fiction Hall of Fame aufgenommen.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR22,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR17,99

Produkt

KlappentextAuf den Zwillingsplaneten Sainte Croix und Sainte Anne haben britische Siedler die ehemals französische Kolonie erobert. Doch was ist mit den Ureinwohnern geschehen, die hier einst lebten? Einige von ihnen scheinen sich ins unerforschte Hinterland zurückgezogen zu haben. Wolfe verknüpft auf brillante Weise drei Handlungsfäden miteinander: Der Sohn eines Wissenschaftlers - und Bordellbesitzers - kommt dem bizarren Geheimnis seiner Herkunft auf die Spur; ein junger Aborigine begibt sich auf eine mystische Traumreise und muss im Kampf gegen seinen verlorenen Bruder seine Identität finden; ein Anthropologe berichtet in nur bruchstückhaft überlieferten Erinnerungen von seiner Begegnung mit den Ureinwohnern - aber ist er wirklich, wer er zu sein vorgibt? Die Einstiegsdroge in das Werk eines Autors, der in der ganzen englischsprachigen Literatur nicht seinesgleichen hat.

Gene Wolfe (1935-2019) ist der große Stilist der angloamerikanischen Science Fiction. Sein apokalyptischer Zyklus 'Das Buch der neuen Sonne' gilt als unerreichter Höhepunkt des Genres. Für sein Lebenswerk wurde er mit dem World Fantasy Award und dem SFWA Grand Master Award ausgezeichnet sowie in die Science Fiction Hall of Fame aufgenommen.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783910914070
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2023
Erscheinungsdatum16.10.2023
Auflage1. Auflage
ReiheCarcosa
Seiten296 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse865 Kbytes
Artikel-Nr.12561145
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe



Wenn im schneebedeckten Efeugerank

Das Käuzchen über dem Wolfe klagt,

Der die Jungen der Wölfin frisst.

Samuel Taylor Coleridge,

Die Ballade vom alten Seemann

Als ich ein Junge war, mussten mein Bruder David und ich immer früh zu Bett gehen, ob wir nun müde waren oder nicht. Besonders im Sommer kam die Schlafenszeit oft vor Sonnenuntergang; und weil unser Zimmer im Ostflügel des Hauses lag, mit einem breiten Fenster, das auf den Innenhof hinausging und somit nach Westen, drang das grelle rosafarbene Licht manchmal noch stundenlang herein, während wir dalagen und zu dem verkrüppelten Äffchen meines Vaters hinausstarrten, das auf einer Balkonbrüstung saß, von der der Rost abblätterte, oder einander mit lautlosen Gesten Geschichten erzählten, von einem Bett zum anderen.

Unser Schlafraum lag im obersten Stockwerk des Hauses, und vor unserem Fenster war ein schmiedeeisernes Gitter befestigt, das wir nicht öffnen durften. Vermutlich wurde befürchtet, dass ein Einbrecher an einem regnerischen Morgen (nur dann konnte er hoffen, das Dach, auf dem so etwas wie ein Lustgarten eingerichtet war, leer vorzufinden) ein Seil herablassen und so in unser Zimmer eindringen könnte, falls das Gitter nicht geschlossen war.

Dieser hypothetische und äußerst beherzte Dieb hätte es natürlich nicht nur auf uns abgesehen. Kinder waren, Jungen wie Mädchen, in Port-Mimizon außerordentlich günstig zu haben; tatsächlich war mir einmal erklärt worden, dass mein Vater, der früher mit ihnen gehandelt hatte, dies inzwischen wegen der schwachen Nachfrage unterließ. Ob das nun der Wahrheit entsprach oder nicht, jeder - oder fast jeder - kannte einen Experten, der das Gewünschte beschaffen konnte, in angemessenem Rahmen und zu einem niedrigen Preis. Diese Männer hatten die Kinder der Armen und der Sorglosen im Blick, und sollte es jemanden, sagen wir, nach einem braunhäutigen, rothaarigen kleinen Mädchen verlangen oder nach einem, das drall war oder lispelte, nach einem blonden Jungen wie David oder einem blassen, braunhaarigen, braunäugigen wie mir, konnten sie dergleichen innerhalb weniger Stunden besorgen.

Ebenso wenig würde uns der imaginäre Einbrecher aller Wahrscheinlichkeit nach eines Lösegelds wegen entführen, obwohl manche Leute meinen Vater für unermesslich reich hielten. Dafür gab es mehrere Gründe. Die wenigen Menschen, die wussten, dass mein Bruder und ich überhaupt existierten, wussten auch - oder hatten jedenfalls Grund zu der Annahme -, dass wir unserem Vater vollkommen gleichgültig waren. Ob das der Wahrheit entsprach oder nicht, vermag ich nicht zu sagen; ich habe es auf jeden Fall geglaubt, und mein Vater gab mir nie den geringsten Anlass, daran zu zweifeln, obwohl mir der Gedanke, ihn zu töten, damals noch nicht gekommen war.

Und falls diese Gründe noch nicht überzeugend genug ausfielen: Jeder, der etwas von dem Milieu verstand, dessen Dreh- und Angelpunkt mein Vater vielleicht geworden war, musste sich darüber im Klaren sein, dass dieser sich, gäbe er einmal so leichtfertig Geld heraus, der Gefahr zahlloser ruinöser Angriffe aussetzen würde; war er doch bereits gezwungen, die Geheimpolizei mit enormen Summen zu bestechen. Das mag der eigentliche Grund gewesen sein, warum wir nie gestohlen wurden - das und die Furcht, die er verbreitete.

Das Eisengitter ist (denn ich schreibe dies in meinem alten Schlafraum) so gefertigt, dass es, auf starre und übertrieben symmetrische Weise, den Zweigen einer Weide ähnlich sieht. In meiner Kindheit schlang sich die Ranke einer (seither ausgegrabenen) Silbertrompete darum, die vom darunterliegenden Hof die Mauer heraufgeklettert war, und ich habe mir oft gewünscht, diese würde das Fenster vollständig zuwuchern und somit, wenn wir zu schlafen versuchten, die Sonne aussperren; aber David, dessen Bett unter dem Fenster stand, brach fortwährend Zweige ab, um durch die hohlen Stängel zu pfeifen - aus vier oder fünf davon bastelte er eine Art Panflöte. Das Flöten wurde natürlich umso lauter, je verwegener David wurde, und erregte mit der Zeit die Aufmerksamkeit von Mr. Million, unserem Hauslehrer. Mr. Million kam jedes Mal völlig lautlos ins Zimmer, und während David so tat, als schliefe er, glitten seine breiten Räder über den unebenen Boden. Die Panflöte mochte inzwischen unter dem Kopfkissen verborgen sein, im Bettbezug oder sogar unter der Matratze, aber Mr. Million fand sie immer.

Was er mit diesen kleinen Musikinstrumenten tat, nachdem er sie David wegnahm, hatte ich bis gestern vergessen; und das, obwohl ich mir im Gefängnis, wenn uns Unwetter oder starker Schneefall am Ausgang hinderten, oft mit dem Versuch die Zeit vertrieb, mich daran zu erinnern. Sie zu zerbrechen oder durch den Fensterladen auf die darunterliegende Veranda zu werfen, hätte ihm gar nicht ähnlichgesehen; Mr. Million machte nie etwas mit Absicht kaputt, und er verschwendete auch nie etwas. Vor meinem geistigen Auge sehe ich noch genau den halb traurigen Ausdruck, mit dem er die winzigen Flöten hervorholte (das Gesicht, das hinter seinem Bildschirm zu schweben schien, ähnelte sehr dem meines Vaters), und wie er sich umdrehte und aus dem Zimmer glitt. Aber was ist aus ihnen geworden?

Gestern ist es mir, wie gesagt (dergleichen gibt mir mein Selbstvertrauen zurück), wieder eingefallen. Er unterhielt sich mit mir, während ich arbeitete, und als er mich verließ, hatte ich - als ich mit müßigem Blick seine geschmeidigen Bewegungen verfolgte - den Eindruck, dass irgendetwas fehlte, eine schwungvolle Bewegung vielleicht, an die ich mich aus frühester Kindheit erinnerte. Ich schloss die Augen und versuchte mich zu entsinnen, was das gewesen sein mochte, wobei ich jede Skepsis unterdrückte, jeden Versuch, im Voraus zu erraten, was ich gesehen haben »musste«; und mir wurde bewusst, dass der fehlende Bestandteil ein kurzes Aufblitzen, das Schimmern von Metall über Mr. Millions Kopf war.

Nachdem ich dies festgestellt hatte, wusste ich, dass eine rasche, aufwärtsgerichtete Bewegung seines Arms die Ursache gewesen sein musste, als salutierte er, wenn er das Zimmer verließ. Eine Stunde oder länger kam ich nicht hinter den Grund dieser Geste und konnte nur annehmen, dass er, worin auch immer er bestanden haben mochte, von der Zeit ausgelöscht worden war. Ich versuchte mich zu erinnern, ob sich in jener eigentlich gar nicht so fernen Vergangenheit auf dem Flur vor unserem Schlafraum etwas befunden hatte, das jetzt verschwunden war: eine Gardine oder ein Rollladen, irgendeine Vorrichtung, die bewegt werden musste und die eine Erklärung bot. Da war nichts.

Ich ging auf den Flur hinaus und suchte den Boden nach Anzeichen dafür ab, dass dort einmal ein Möbelstück gestanden hatte. Ich suchte nach Haken oder Nägeln in den Wänden, wobei ich die grobmaschigen alten Gobelins beiseiteschob. Mit in den Nacken gelegtem Kopf nahm ich die Decke in Augenschein. Dann, nach einer Stunde, betrachtete ich die Tür selbst und sah, was ich nie gesehen hatte, während ich tausendmal hindurchgegangen war: dass sie, wie alle Türen im Haus (das sehr alt ist), einen massiven Holzrahmen hat und dass der Türsturz weit genug von der Wand absteht, um über der Tür ein schmales Bord zu bilden.

Ich schob meinen Stuhl in den Flur und stieg auf die Sitzfläche. Auf dem Bord lag eine dicke Staubschicht, und darin ruhten siebenundvierzig der Pfeifen meines Bruders sowie eine wundervolle Sammlung anderer kleiner Gegenstände. An viele davon erinnerte ich mich, andere dagegen finden in den Winkeln meines Gehirns noch immer keinen Widerhall â¦

Das kleine blaue Ei eines Singvogels, braun gesprenkelt. Vermutlich hatte der Vogel in den Ranken vor unserem Fenster genistet, und David oder ich hatten das Nest geplündert, nur um selbst von Mr. Million ausgeraubt zu werden. An den Vorfall kann ich mich jedoch nicht entsinnen.

Außerdem liegen dort ein (zerbrochenes) Puzzle aus den bronzierten Eingeweiden irgendeines kleinen Tieres und - wunderbar sinnträchtig - einer jener großen und phantasievoll verzierten Schlüssel, die alljährlich verkauft werden und es ihrem Besitzer im Geltungsjahr gestatten, bestimmte Räume der Stadtbibliothek nach der Schließzeit zu betreten. Ich nehme an, dass Mr. Million ihn konfiszierte, als er nach Ablauf der Frist entdeckte, wie der Schlüssel seinen Dienst als Spielzeug versah; aber was für Erinnerungen!

Mein Vater hatte eine eigene Bibliothek, die sich nun in meinem Besitz befindet; uns war es allerdings verboten, sie zu betreten. Ich kann mich schwach entsinnen, wie ich - in welch frühem Alter, weiß ich nicht zu sagen - einmal vor der riesigen getäfelten Tür stand; wie sie vor meinen Augen aufschwang und wie sich das verkrüppelte Äffchen auf der Schulter meines Vaters an sein Adlergesicht schmiegte, darunter das schwarze Halstuch und der scharlachrote Hausmantel und jenseits davon Reihen über Reihen schäbiger Bücher und Notizblöcke; und der süßliche Geruch von Formaldehyd, der aus dem Labor hinter dem Schiebespiegel drang.

Ich weiß nicht mehr, was er sagte oder ob ich oder jemand anderes geklopft hatte, aber ich entsinne mich, dass sich, nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, eine Frau in Rosa, die ich für sehr hübsch hielt, zu mir herabbeugte und mir versicherte, mein Vater habe all diese Bücher geschrieben, die ich gerade gesehen hatte, und dass ich nicht im Mindesten daran zweifelte.

*

* *

Meinem Bruder und mir war, wie gesagt, dieses Zimmer verboten; aber als wir ein wenig älter waren, nahm uns Mr. Million etwa zweimal pro Woche auf Expeditionen in die Stadtbibliothek mit. Ansonsten wurde uns so gut wie nie...

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Autor

Gene Wolfe (1935-2019) ist der große Stilist der angloamerikanischen Science Fiction. Sein apokalyptischer Zyklus "Das Buch der neuen Sonne" gilt als unerreichter Höhepunkt des Genres. Für sein Lebenswerk wurde er mit dem World Fantasy Award und dem SFWA Grand Master Award ausgezeichnet sowie in die Science Fiction Hall of Fame aufgenommen.