Hugendubel.info - Die B2B Online-Buchhandlung 

Merkliste
Die Merkliste ist leer.
Bitte warten - die Druckansicht der Seite wird vorbereitet.
Der Druckdialog öffnet sich, sobald die Seite vollständig geladen wurde.
Sollte die Druckvorschau unvollständig sein, bitte schliessen und "Erneut drucken" wählen.

Kalte Füße

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
Deutsch
Verlag Klaus Wagenbacherschienen am13.09.2024
Ein Militärlazarett in Venedig. Desinfektionsmittel, Fieberschweiß, der unerträgliche Gestank von Wundbrand. Der Sohn liegt im hintersten Bett, er schläft. Die Mutter hebt die Decke am unteren Ende an. Zwei Beine, zwei Füße. Eins, zwei, drei, sie zählt die Zehen - bis zum zehnten. Vorsichtig legt sie die Decke zurück: Endlich kann sie in Ohnmacht fallen. Im Winter 1942/43 flohen italienische Soldaten in Schuhen mit Pappsohlen vor der Roten Armee, Zehntausende erfroren. Der »Rückzug aus Russland« hat sich als Trauma im kollektiven Gedächtnis Italiens eingebrannt - auch in der Familie von Francesca Melandri. Ihr Vater hat ihn überlebt. Doch erst als Anfang 2022 Bilder und Orte des Kriegs in der Ukraine omnipräsent sind, wird ihr klar: Es ist vor allem die Ukraine, in der der Vater gewesen ist. Was hat er dort wirklich erlebt, warum war er überhaupt dort? Francesca Melandris »Kalte Füße« ist ein berührendes Zwiegespräch mit einem geliebten Menschen: ein unerschrockenes Buch über das, was der Krieg gestern wie heute in Körpern und Köpfen anrichtet, über das Erzählen als Überlebenskunst - und unsere historische Pflicht angesichts des Angriffs auf die Ukraine, die Stille zum Sprechen zu bringen.

Francesca Melandri, geboren in Rom, gehört zu den beliebtesten italienischen Autorinnen der Gegenwart. Melandri hat sich in Italien zunächst als Autorin von Drehbüchern für Kino- und Fernsehfilme einen Namen gemacht. Mit ihrem ersten Roman »Eva schläft« wurde sie auch einem breiten deutschsprachigen Lesepublikum bekannt. Ihr zweiter Roman »Über Meereshöhe« wurde von der italienischen Kritik als Meisterwerk gefeiert. Ihr dritter Roman »Alle, außer mir« wurde 2018 zum Lieblingsbuch des unabhängigen Buchhandels gewählt, erlebte zahlreiche Nachauflagen und stand zehn Wochen lang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste.
mehr
Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR24,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR19,99

Produkt

KlappentextEin Militärlazarett in Venedig. Desinfektionsmittel, Fieberschweiß, der unerträgliche Gestank von Wundbrand. Der Sohn liegt im hintersten Bett, er schläft. Die Mutter hebt die Decke am unteren Ende an. Zwei Beine, zwei Füße. Eins, zwei, drei, sie zählt die Zehen - bis zum zehnten. Vorsichtig legt sie die Decke zurück: Endlich kann sie in Ohnmacht fallen. Im Winter 1942/43 flohen italienische Soldaten in Schuhen mit Pappsohlen vor der Roten Armee, Zehntausende erfroren. Der »Rückzug aus Russland« hat sich als Trauma im kollektiven Gedächtnis Italiens eingebrannt - auch in der Familie von Francesca Melandri. Ihr Vater hat ihn überlebt. Doch erst als Anfang 2022 Bilder und Orte des Kriegs in der Ukraine omnipräsent sind, wird ihr klar: Es ist vor allem die Ukraine, in der der Vater gewesen ist. Was hat er dort wirklich erlebt, warum war er überhaupt dort? Francesca Melandris »Kalte Füße« ist ein berührendes Zwiegespräch mit einem geliebten Menschen: ein unerschrockenes Buch über das, was der Krieg gestern wie heute in Körpern und Köpfen anrichtet, über das Erzählen als Überlebenskunst - und unsere historische Pflicht angesichts des Angriffs auf die Ukraine, die Stille zum Sprechen zu bringen.

Francesca Melandri, geboren in Rom, gehört zu den beliebtesten italienischen Autorinnen der Gegenwart. Melandri hat sich in Italien zunächst als Autorin von Drehbüchern für Kino- und Fernsehfilme einen Namen gemacht. Mit ihrem ersten Roman »Eva schläft« wurde sie auch einem breiten deutschsprachigen Lesepublikum bekannt. Ihr zweiter Roman »Über Meereshöhe« wurde von der italienischen Kritik als Meisterwerk gefeiert. Ihr dritter Roman »Alle, außer mir« wurde 2018 zum Lieblingsbuch des unabhängigen Buchhandels gewählt, erlebte zahlreiche Nachauflagen und stand zehn Wochen lang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783803143990
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2024
Erscheinungsdatum13.09.2024
SpracheDeutsch
Dateigrösse1049 Kbytes
Artikel-Nr.17521987
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


Spinat


Die Kinder, die im Park neben meiner Bank spielten, waren alle nett, fast lieb zu mir, liefen aber weg, als ich fragte, ob sie Lust auf ein kleines Spiel hätten, das ich für harmlos, aber wichtig hielt.

Wollt ihr Frieden spielen?, fragte ich sie.

Aber keines kannte die Spielregeln. Deshalb gingen sie weg.

Wollt ihr Krieg spielen?, fragte ich sie.

Da stellten sich alle in eine Reihe und hatten kurz darauf zwei Mannschaften gebildet.

Die sibirischen Frauen folgen der Sonne


Ein Glück, dass ihr nicht mehr am Leben seid, Papa. Du, Mama und Tante Maria Teresa. In diesen Tagen bin ich fast erleichtert, dass ihr schon weitergegangen seid und euch diese neuen, stählernen Zeiten erspart bleiben. Dass ihr auf eure alten Tage nicht mehr erleben müsst, wie sich das neue Jahrtausend in den blutigen Fetzen eures 20. Jahrhunderts verfängt. Wie die Welt des Friedens, die ihr uns hinterlassen habt, in sich zusammenfällt. Wir dachten, diese Welt sei immer noch unsere Welt. Nun wissen wir, dass sie seit langem nur noch Kulisse war. Wir glaubten, in einer verflüssigten Welt zu leben, und wir beklagten uns darüber, doch nun ist sie plötzlich wieder hart wie Stahl.

Für viele Menschen ist diese Erkenntnis unerträglich.

»Nie wieder Krieg!«, haben wir achtzig Jahre lang gerufen. Und hielten das für eine klare, engagierte Haltung, die bedeutete: »Nie wieder werden wir Militäreinsätze, Genozide oder den Einmarsch von Truppen in fremden Ländern tolerieren, wir werden das mit allen Mitteln bekämpfen und das internationale Recht verteidigen, das auf der Unverletzlichkeit nationaler Grenzen beruht und ohne das es keine Demokratie gibt.«

In Wirklichkeit sagten wir lediglich: »Wenn es Krieg gibt, dann bitte nicht vor unserer Haustür. Nur woanders, vielen Dank. Der Krieg darf uns nicht direkt betreffen, uns genügt das vage, wohlige Schaudern immensen Mitgefühls, das uns angesichts des fernen Leids den Rücken hinabläuft« - und immens auch nur deshalb, weil weit genug weg.

»Wir wollen keinen Krieg«, sagten wir und klangen wie ein verwöhntes Kind, das sagt: »Ich will keinen Spinat«, weil es weiß, dass Mama den Teller mit dem ekligen Gemüse schon abräumen und stattdessen Chips auf den Tisch stellen wird. Das seine launenhaften Allmachtsfantasien ein ums andere Mal bestätigt bekommt, genau wie wir. Jahrzehntelang wurden die bösen Kriege der anderen schnell von unserem Tisch abgeräumt, wir mussten uns kaum damit beschäftigen. Natürlich taten uns die armen Opfer leid, klar - aber da sind ja schon die Chips.

Doch wenn wir jetzt sagen: »Nie wieder Krieg!«, kommt keine Mutter und nimmt ihn weg. Der Krieg ist da. Der Krieg hat unseren Kontinent erreicht. Und sosehr wir auch wollen, dass er wie von Geisterhand wieder verschwindet - nein, er verschwindet nicht. Unsere Allmacht ist ausgehöhlt. Nun haben wir die lästige Pflicht, jene Prinzipien anzuwenden, die wir jahrzehntelang vor uns hergetragen haben. Schlimmer noch: Für die Verteidigung dieser Prinzipien sollen wir sogar einen Preis zahlen! Und deshalb haben sich viele Menschen in einem Bunker verschanzt, wo sie Schutz vor dem Bombenhagel der Realität suchen, und diesen Bunker nennen sie Frieden.

Ich habe überhaupt nichts gegen Frieden, Papa. Im Gegenteil, ich bin eine große Verfechterin des Friedens, so wie du es warst. Ich habe sogar meine Tochter nach ihm benannt, deine erste weibliche Enkelin. Doch leider sind wir ein Land von alten Angsthasen. Anders als wir warst du nie wirklich alt: Du bist aus dem Zustand der wilden Fantastereien über das, was möglich ist, direkt in den des komplett unselbständigen, runzligen Säuglings gewechselt. Den verblüfften Groll über das Ende des Status quo habe ich bei dir nie erlebt. Doch wir wandern nun zwischen den Trümmern unserer Feigheit und hoffen, dass sie niemals zu echten Trümmerfeldern werden wie die in Mariupol, Bachmut und Awdijiwka. Die rauchenden Schuttberge, die Drohnenkrater, die ausgebrannten Wohnhäuser sollen bleiben, wo sie sind, weit weg. Und niemals näher an uns heranrücken. Wir sind für Frieden!

Aber ich, ich muss herausfinden, was Krieg ist, Papa.

Deshalb brauche ich deine Hilfe.

Ja, ich bitte dich um Hilfe, und dabei spielt es keine Rolle, ob du auf der falschen Seite gekämpft hast. Diejenigen, die damals auf der richtigen Seite standen - gesegnet sei ihr Andenken -, waren Helden. Doch nicht nur von Heldentum weiß ich nichts. Es ist der Krieg, von dem ich nichts weiß. Deshalb brauche ich deine Hilfe. Und das, obwohl du auf der falschen Seite gekämpft hast, oder vielleicht genau deshalb.

Dein Krieg bekam in Italien später den Titel Ritirata di Russia, »Rückzug aus Russland«, und er ist eine Opfergeschichte. Die armen italienischen Soldaten in ihren Schuhen mit Pappsohlen sinken mit erfrorenen Füßen in den Schnee und sterben den Kältetod. Das ist alles wahr, niemand weiß das besser als du. Trotzdem verbergen sich hinter diesen drei Worten mindestens zwei Auslassungen. Erstens, dass die Geschichte sich größtenteils nicht in Russland, sondern in der Ukraine zugetragen hat. Und zweitens, dass der Rückzug von einem Ort bedeutet, dass man vorher dort angekommen ist. Die drei ikonischen Worte »Rückzug aus Russland« verschweigen nicht nur die Ankunft, sondern auch insbesondere den Grund dafür. Und der Grund war, dass ihr, dass wir auf der falschen Seite standen. Auf der unabweislich falschen Seite. Wir waren die Verbündeten derjenigen, die ein Jahr bevor du zum ersten Mal die Sonnenblumenfelder von Isjum erblickt hast, ein paar hundert Kilometer weiter in der Schlucht von Babyn Jar innerhalb von nur zwei Tagen dreißigtausend Menschen ermordet hatten, mit Maschinengewehrsalven oder einem Schuss ins Genick. Aus einem einzigen Grund: weil sie Juden waren. Aber du hast diesen Krieg gehasst. Alle hassen den Krieg, seine Opfer und seine Helden, ja sogar der, der ihn liebt. Deshalb bitte ich dich: Sag mir, was Krieg ist, Papa. Gerade du, weil du auf der falschen Seite gestanden hast und ihn nicht mit irgendwelchen Idealen schönreden kannst.

Du warst gezwungen, zu lernen, was Krieg bedeutet. Anders als meine Generation wart ihr nicht in der glücklichen Lage, zu glauben, man könne die Wirklichkeit des Krieges einfach leugnen. Ihr hattet nicht das Privileg, euch vorzumachen, ihn mit einem einzigen Wort, einer Art Bannspruch beenden zu können: Frieden! Der verfluchte Krieg war da, ob ihr wolltet oder nicht. Und nein, ihr wolltet ihn nicht. Doch er war da, so wie er seit Jahrtausenden da ist. Für mich ist es quasi unmöglich, zu verstehen, dass es Krieg gibt, dass er wirklich da ist. Denn der Krieg ist nicht aus Waffen gemacht, sie dienen ihm nur als Werkzeug, er ist vielmehr aus den Körpern der Menschen gemacht. Und mein Körper kennt - zu meinem unverdienten, unendlichen Glück - nur den Frieden. Was also könnte ich davon verstehen?

Ich, wir kennen nur den Frieden. Seit unserer Geburt geschieht alles, was wir tun, in Friedenszeiten, auch die schlimmsten, brutalsten und unangenehmsten Dinge. Selbst ein Mörder hat in Friedenszeiten gemordet. Und auch wer ermordet wurde, wurde in Friedenszeiten ermordet. Die Frau, die von ihrem gewalttätigen Mann umgebracht wurde, hatte ihren eigenen Krieg zu Hause, doch draußen in der Welt herrschte Frieden. Wir können uns aus diesem Grund vom Krieg kein anderes Bild machen als das einer möglichen Beschäftigung unter vielen in Friedenszeiten. Klar, es mag die schrecklichste und brutalste von allen sein, doch letztendlich ist sie nicht so grundlegend anders als tausend andere Dinge, die geschehen können. Selbst wir, die wir womöglich Romane über Kriege geschrieben haben, sind Schriftsteller in einer Zeit des Friedens.

Der Krieg hingegen bringt eine grundlegend andere Zeit mit sich, sagen diejenigen, die ihn erlebt haben. Selbst der Lauf der Sonne ist nicht mehr derselbe. Dass ich sie nicht erleben musste, ist das essenzielle, überwältigende Glück meines Lebens als Europäerin des Westens in den letzten achtzig Jahren, das Glück, an dem alles andere hängt. Aber wir wollten dieses Glück nicht sehen, so wie wir die Luft, die wir atmen, nicht wahrnehmen, bis sie schwarz wird vor Rauch. Doch diese glückliche Ignoranz ist zugleich unsere große Schwäche. Nun sagen viele gutmeinende Menschen: »Wir wollen doch nur, dass Frieden herrscht.« Doch was bringt es, inmitten eines schrecklichen Schneesturms zu sagen: »Wir wollen doch nur, dass Sommer ist«?

Die Zeit deines Krieges ist lange vorbei, und ebenso die Ära der Zeitzeugen. Doch ein Ende des heutigen Krieges ist nicht in Sicht. Du hast mir beigebracht, wie man in den Bergen wandert - »Ein Schritt, ein Atemzug, ein Schritt, ein Atemzug ...« -, und das Wandern in den Bergen hat mich Folgendes gelehrt: Wenn Gedanken zu Schemen werden, Gefühle wirr, Worte unbrauchbar und Abläufe umstritten, wenn die Zeit sich verknotet wie eine Schlange, die sich selbst verschlingt, dann ist das, was uns bleibt, die Geografie.

Die Orte bleiben.

Und die Orte dieser beiden Kriege - des einen zu Beginn unseres Jahrtausends und des anderen, in dem du gekämpft hast - sind fast dieselben. Damals wie heute liegt die erdrückende Schwüle unseres Schweigens über denselben Ortsnamen: Irpin, Sumy, Charkiw. Der eisige oder todbringende Dnipro, der unter feindlichem Beschuss durchquert werden muss. Der Donbass, das Donezk-Becken. Isjum, auf dessen Sonnenblumenfeldern dein Krieg an einem Tag im August vor achtzig Jahren seinen Anfang...

mehr

Autor

Francesca Melandri, geboren in Rom, gehört zu den beliebtesten italienischen Autorinnen der Gegenwart. Melandri hat sich in Italien zunächst als Autorin von Drehbüchern für Kino- und Fernsehfilme einen Namen gemacht. Mit ihrem ersten Roman »Eva schläft« wurde sie auch einem breiten deutschsprachigen Lesepublikum bekannt. Ihr zweiter Roman »Über Meereshöhe« wurde von der italienischen Kritik als Meisterwerk gefeiert. Ihr dritter Roman »Alle, außer mir« wurde 2018 zum Lieblingsbuch des unabhängigen Buchhandels gewählt, erlebte zahlreiche Nachauflagen und stand zehn Wochen lang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste.

Bei diesen Artikeln hat der Autor auch mitgewirkt