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Afrika fluten

E-BookEPUB0 - No protectionE-Book
248 Seiten
Deutsch
Rotpunktverlagerschienen am23.10.20231. Auflage 2023
Lovis macht sich auf den Weg, auf eine Reise rund ums westliche Mittelmeer: Marseille, Gibraltar, Sizilien. Und, auf den Spuren von Bruno Siegwart, zurück in die dreißiger Jahre. Siegwart, ein unverdrossener Schweizer Ingenieur, hat sich mit Haut und Haar und Rechenschieber dem gigantischen Projekt Atlantropa verschrieben. Der Erfinder dieser Utopie, der deutsche Architekt Herman Sörgel, wollte das Mittelmeer absenken, um Strom zu gewinnen. Siegwart lieferte ihm die Berechnungen, unaufgefordert, aus reiner Begeisterung - und die Idee, die Flüsse Afrikas zu stauen, um noch mehr Elektrizität zu produzieren, für Europa. Als Lovis ihn aufstöbert, ihn mit Fragen bedrängt, versteckt sich Siegwart hinter seinem Glauben an die Technik. Diesen Glauben kennt Lovis vom eigenen Vater, auch er war Ingenieur und Lovis oft mit ihm unterwegs zwischen Betonmischern, Tiefladern, Baukränen und hohen Staumauern. Christoph Keller beschäftigt sich seit Jahren journalistisch und literarisch mit dem Mittelmeer und mit kolonialen Praktiken der Schweiz. Deshalb stach ihm das gut tausendseitige Manuskript von Bruno Siegwart, das er im Deutschen Museum in München aufstöberte, sofort ins Auge. Doch der Roman, den er aus diesem Fund destilliert hat, erzählt weit mehr als die Geschichte einer größenwahnsinnigen Utopie.

Christoph Keller, in der Schweiz geboren, in Peru aufgewachsen, ist freischaffender Autor, Reporter und Podcaster. Er schreibt für Zeitungen und Zeitschriften wie GEO, Reportagen oder Die Wochenzeitung WOZ. Seine Podcasts veröffentlicht er auf der Plattform podcastlab.ch. Bis 2019 leitete er die Redaktion Kunst & Gesellschaft von Radio SRF2 Kultur. Für seine Arbeiten wurde er unter anderem zweimal mit dem Zürcher Journalistenpreis ausgezeichnet. In der Edition Blau ist 2013 sein Roman Übers Meer erschienen. Christoph Keller lebt in Basel und zeitweilig auf einem kleinen Segelschiff auf dem Mittelmeer.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR25,00
E-BookEPUB0 - No protectionE-Book
EUR19,99

Produkt

KlappentextLovis macht sich auf den Weg, auf eine Reise rund ums westliche Mittelmeer: Marseille, Gibraltar, Sizilien. Und, auf den Spuren von Bruno Siegwart, zurück in die dreißiger Jahre. Siegwart, ein unverdrossener Schweizer Ingenieur, hat sich mit Haut und Haar und Rechenschieber dem gigantischen Projekt Atlantropa verschrieben. Der Erfinder dieser Utopie, der deutsche Architekt Herman Sörgel, wollte das Mittelmeer absenken, um Strom zu gewinnen. Siegwart lieferte ihm die Berechnungen, unaufgefordert, aus reiner Begeisterung - und die Idee, die Flüsse Afrikas zu stauen, um noch mehr Elektrizität zu produzieren, für Europa. Als Lovis ihn aufstöbert, ihn mit Fragen bedrängt, versteckt sich Siegwart hinter seinem Glauben an die Technik. Diesen Glauben kennt Lovis vom eigenen Vater, auch er war Ingenieur und Lovis oft mit ihm unterwegs zwischen Betonmischern, Tiefladern, Baukränen und hohen Staumauern. Christoph Keller beschäftigt sich seit Jahren journalistisch und literarisch mit dem Mittelmeer und mit kolonialen Praktiken der Schweiz. Deshalb stach ihm das gut tausendseitige Manuskript von Bruno Siegwart, das er im Deutschen Museum in München aufstöberte, sofort ins Auge. Doch der Roman, den er aus diesem Fund destilliert hat, erzählt weit mehr als die Geschichte einer größenwahnsinnigen Utopie.

Christoph Keller, in der Schweiz geboren, in Peru aufgewachsen, ist freischaffender Autor, Reporter und Podcaster. Er schreibt für Zeitungen und Zeitschriften wie GEO, Reportagen oder Die Wochenzeitung WOZ. Seine Podcasts veröffentlicht er auf der Plattform podcastlab.ch. Bis 2019 leitete er die Redaktion Kunst & Gesellschaft von Radio SRF2 Kultur. Für seine Arbeiten wurde er unter anderem zweimal mit dem Zürcher Journalistenpreis ausgezeichnet. In der Edition Blau ist 2013 sein Roman Übers Meer erschienen. Christoph Keller lebt in Basel und zeitweilig auf einem kleinen Segelschiff auf dem Mittelmeer.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783039730070
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format Hinweis0 - No protection
FormatE101
Erscheinungsjahr2023
Erscheinungsdatum23.10.2023
Auflage1. Auflage 2023
Seiten248 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse3269 Kbytes
Artikel-Nr.12604389
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

4

Wer von Vichy aus nach Tarifa gelangen will, fährt mit dem Zug über Clermont-Ferrand, Mende, Nîmes, Madrid, Jerez de la Frontera. Von da aus verkehrt ein Bus, die Reise dauert fast vierundzwanzig Stunden.

Seit zwei Tagen bin ich hier, habe mich eingemietet in eine Pension mit Blick über Tarifa und über die Meerenge von Gibraltar, den estrecho, die schmale Passage, die zwei Kontinente teilt. Ich saß stundenlang auf der Dachterrasse, im Schatten einer Marquise mit feinem Bambusdach, ein leichter Wind ging, und ich zählte die Frachter, die vorbeifuhren, eine schwarze Rauchfahne hinterher. Ich folgte den weißen Segeln der Yachten, sah dahinter die Hügel, deren Name ich von der Karte ablas, der höchste heißt Jjbel Musa, im Dunst dann die Ortschaften an der Küste, Benzù, Bejoundech, ich glaubte, den Strand von Oued El Marsa zu erkennen und knapp die Landzunge von Ceuta, die schmale Küstenlinie. Und rechts, über der Kante meiner Terrasse, eine Ahnung von Tanger, im hellen Licht schließlich der unendlich weite Ozean, flirrende Wellen und ein Horizont, der sich scharf abzeichnete, ich suchte die Wellentäler ab nach kleinen Booten, Gummiboote vielleicht.

Tarifa ist (erste Notizen):

Grenzstadt.

Brückenstadt.

Hafenstadt.

Ist südlichste Stadt Europas, Einfallstor für die sarazenischen Eindringlinge, die Brücke zum Maghreb, umkämpfte Stadt in der Reconquista, noch immer ein Tor zu Europa, auch Gefängnisstadt, nachdem die kleine, vorgelagerte, mit einem Damm verbundene Isla de las Palomas zeitweise als Gefängnis für Menschen auf der Flucht diente, für alle, die es nicht geschafft haben. Die nicht das Glück hatten, dass die Frau, die meine Vermieterin ist, ihr Mann und ihre Mitstreiterinnen zur Stelle waren, als sie übers Meer hier ankamen. Die nicht aufgefangen wurden von einem Netzwerk, bestehend aus Menschen, die an bestimmten Stellen, unten am Strand, kleine Depots mit Kleidern und Nahrungsmitteln einrichten, damit die Ankommenden, durchnässt, erschöpft, wie sie sind, sich umziehen, zu Kräften kommen können für die Weiterreise. Sie finden an diesen versteckten Stellen auch kleine Zettel mit den Busverbindungen nach Málaga, nach Jerez de la Frontera, damit sie schnell weiterkommen. Und manchmal sind sie selber unten am Strand, die Vermieterin, ihr Mann und die anderen vom Netzwerk, schieben die morschen Boote ins Trockene, wickeln Kinder in Wärmedecken, reichen Hände. Sie tun das alles mit der Selbstverständlichkeit von Menschen, die an einem Ort des Durchgangs leben, der Migration, der Begegnung, auch der Konflikte.

Statistik, unsicherer Ankergrund:

Gegen zweitausend Menschen sterben jährlich bei der Überfahrt vom afrikanischen auf den europäischen Kontinent, die Dunkelziffer ist hoch, es gibt keine Zahlen zu den angeschwemmten Körpern. Umgekehrt hätte ich gerne die Anzahl an Kitesurfern, die ihre bunten Segel in den Himmel steigen lassen und ungerührt zwischen anlaufenden Flüchtlingsbooten hindurchzirkeln, würde sie gerne befragen, was sie sich denken dabei. Erfasst sind für Tarifa dreiundachtzigtausendzweihundert Touristinnen und Touristen pro Jahr, an Hotelzimmern sechzehntausendzweihundertvierzig, die Schnellfähre von Tanger braucht fünfundfünfzig Minuten, die Reise mit dem Schlauchboot dauert sieben Stunden, wenn die Überfahrt gelingt.

Ich saß auf meiner Terrasse und wartete, schloss immer wieder die Augen, bis das Bild sich einstellte.

Ein präzises Bild von einem der letzten Oktobertage des Jahres neunzehnhundertdreißig, Benito Mussolini hat in Florenz dazu aufgerufen, dass ganz Europa faschistisch werden müsse, im Deutschen Reich gibt es drei Millionen siebenhunderteinunddreißigtausendsechshunderteinundachtzig Volksrundfunkempfänger, im Hochverratsprozess von Ulm spricht das Gericht gegen die nationalsozialistischen Offiziere milde Gefängnisstrafen aus, Reichskanzler Heinrich Brüning empfängt Adolf Hitler, Thomas Mann hat in Berlin eine Rede gegen den Faschismus gehalten.

Das Wetter über der Straße von Gibraltar ist leicht diesig, ich sehe da draußen auf dem estrecho die Monte Olivia, dreizehntausendsiebenhundertfünfzig Bruttoregistertonnen. Das Schiff ist noch keine fünf Jahre alt, war als rein funktionales Passagierschiff für Transatlantikpassagen gebaut worden, fährt nun aber als Kreuzfahrtschiff ins Mittelmeer, nach wie vor unter der Flagge der Hamburg-Südamerikanischen Dampfschifffahrtsgesellschaft. Zwei Dieselturbinen, zwei Kamine, vorne und hinten je ein Mast für die Behelfssegel und die Kräne. Ein Promenadendeck, aber kein üppiger Luxus, ein zweckmäßiges Schiff, die Monte Olivia.

Ich sehe, wie sie auf der Höhe des Faro de Trafalgar aus dem Dunst auftaucht, sie umfährt die Küste im größtmöglichen Abstand, um nicht in Strudel und Strömungen zu gelangen, bleibt dann in der Mitte der Meerenge. Ein Wind von Osten steht gegen die Strömung, die Silhouette des Schiffs zeichnet sich scharf ab vor der kabbeligen See, die Bugwelle spritzt auf. An Deck viele Passagiere, die Männer halten ihre Hüte fest im Wind, die Damen haben die Haare zusammengebunden. Sie stehen auf dem Achterdeck, auf dem Promenadendeck, die einen schauen nach Afrika, die anderen Richtung Europa, aber wo ist der Mann aus Kabine einhundertvierzehn? Hat er sich eine Stelle gesucht an Steuerbord, um die marokkanische Küste zu fotografieren, oder einen Platz auf der Brücke ergattert, um nach beiden Seiten den Überblick zu haben, fragt er den Steuermann unentwegt nach der Position und fährt mit dem Finger über eine Seekarte, stellt sich die Zerklüftungen, die Unterwassertäler, die Seegräben vor, tief unten im Meer. Oder eilt er von einer Seite auf dem Achterdeck zur anderen, in jeder Hand eine andere Karte, macht sich darauf hastig Notizen, kritzelt Worte hin, kaum leserlich, setzt mit einem Farbstift Kreuze auf Punkte an beiden Küsten, die anderen Passagiere bemerkt er nicht, sucht mit einem Fernglas den Horizont ab, als warte er darauf, dass sich aus dem Meer etwas erhebe.

Bruno Siegwart, einen Schal um den Hals gewickelt, der Wind ist kühl.

Ich wüsste gerne, ob er den Damm bereits vor Augen hat, der sich hier von Küste zu Küste spannen soll. Sieht er vor dem Felsen von Gibraltar schlotrauchende Frachter in den neu errichteten Schleusen, hat er die Fontänen der Wassermassen vor Augen, die aus den Turbinen im gigantisch hohen Staudamm schießen, fragt er sich, wie die Züge aussehen, die in hundertfünfzig, vielleicht zweihundert Jahren über diesen Damm fahren werden, wenn das Werk sich vollendet hat. Schlägt sein Puls höher, oder ist er ganz der nüchterne Ingenieur, der sich Triangulationspunkte ausdenkt und Landmarkierungen, die er aufsuchen will, sobald sie in Ceuta gelandet sind. Er plant von dort einen Ausflug, mit einem Pferdegespann, die Küste entlang bis zu jener Stelle, wo der Damm auf den afrikanischen Kontinent treffen soll, eine mühselige Tagesreise, um, wie er an den »hochverehrten« Herman Sörgel in München schreiben wird, mit eigenen Augen einen Eindruck zu erhalten von der Art und Beschaffenheit des Gesteins. Hat seinen Hammer mitgenommen auf seine Reise, einen Geologenhammer, mit dem er beim Mirador de Beliones, wo heute der mehrfach gesicherte Grenzzaun zwischen Afrika und Europa verläuft, wo heute Hunderte Menschen beim Versuch, den Zaun zu überklettern, sterben, will probehalber einige Gesteinsbrocken zerhämmern und sich dabei vorstellen, dass genau an dieser Stelle die Eisenbahnlinie von Hamburg nach Kapstadt in den Berg stechen wird, eine der Verbindungen zwischen dem afrikanischen und dem europäischen Kontinent.

Ich vermesse die Zeit, die vergangen ist, seit Siegwart aus Vichy abgereist ist, ich zähle die Seiten, die er seither geschrieben hat, vermute, dass er nicht viel an Deck der Monte Olivia war. Vielleicht ein regelmäßiger Spaziergang morgens, eine Runde oder zwei über das Promenadendeck, am Nachmittag nochmals. Verbrachte seine Tage wohl schreibend, saß zuhinterst im Salon der Monte Olivia, eine hagere Gestalt, das Gesicht von einer Lampe beleuchtet, spürte nicht das Rollen des Schiffs bei der Überquerung des Golfs von Biskaya, wie die See sich hoch auftürmte, der Wind peitschte um die Kamine und zerrte an den Planen der Rettungsboote. Siegwart sah auch die Blicke der anderen Passagiere nicht, die sich wunderten über diesen Herrn, der stoisch über hin und her rutschenden Papieren und Büchern und Broschüren brütete, der Karten ausbreitete, ab und zu seinen Rechenschieber zückte, angestrengt auf die Skalen blickte, abtauchte. Der am Abend beim Diner alleine an einem Tisch saß, vollgekritzelte Zettel neben dem Teller, einer, der zwar freundlich grüßte, aber kein Gespräch suchte.

Auch nicht mit mir.

»Verzeihen Sie die Störung.«

»Ach, Sie schon wieder. Wie zum Teufel sind Sie an Bord gekommen?«

»Egal, im Metier, das ich...
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Christoph Keller, in der Schweiz geboren, in Peru aufgewachsen, ist freischaffender Autor, Reporter und Podcaster. Er schreibt für Zeitungen und Zeitschriften wie GEO, Reportagen oder Die Wochenzeitung WOZ. Seine Podcasts veröffentlicht er auf der Plattform podcastlab.ch. Bis 2019 leitete er die Redaktion Kunst & Gesellschaft von Radio SRF2 Kultur. Für seine Arbeiten wurde er unter anderem zweimal mit dem Zürcher Journalistenpreis ausgezeichnet. In der Edition Blau ist 2013 sein Roman Übers Meer erschienen. Christoph Keller lebt in Basel und zeitweilig auf einem kleinen Segelschiff auf dem Mittelmeer.