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Das Mädchen aus Paris

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
432 Seiten
Deutsch
Diogeneserschienen am23.03.20221. Auflage
Wohin sie geht, zieht Ellen Paget Liebhaber an: den ambivalenten Professor Bosschère in Brüssel, den unberechenbar-eigenwilligen Comte de la Ferté in Paris, ihren Stiefbruder Bénédict. Ellen wird nach Paris geschickt, wo sie die Gesellschafterin der Comtesse de la Ferté und die Gouvernante deren unzähmbaren, kleinen Tochter Menispe wird. Doch auch hier kommt es zu einem Skandal...

Joan Aiken, Tochter des amerikanischen Lyrikers Conrad Aiken und seiner kanadischen Frau, wurde 1924 in Sussex geboren. Ihre ersten Gedichte und Schauergeschichten schrieb sie im Alter von fünf Jahren. Sie wurde Verfasserin zahlreicher historischer Romane, moderner Thriller und vieler Kinderbücher. Joan Aiken starb 2004 in Petworth, West Sussex.
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Produkt

KlappentextWohin sie geht, zieht Ellen Paget Liebhaber an: den ambivalenten Professor Bosschère in Brüssel, den unberechenbar-eigenwilligen Comte de la Ferté in Paris, ihren Stiefbruder Bénédict. Ellen wird nach Paris geschickt, wo sie die Gesellschafterin der Comtesse de la Ferté und die Gouvernante deren unzähmbaren, kleinen Tochter Menispe wird. Doch auch hier kommt es zu einem Skandal...

Joan Aiken, Tochter des amerikanischen Lyrikers Conrad Aiken und seiner kanadischen Frau, wurde 1924 in Sussex geboren. Ihre ersten Gedichte und Schauergeschichten schrieb sie im Alter von fünf Jahren. Sie wurde Verfasserin zahlreicher historischer Romane, moderner Thriller und vieler Kinderbücher. Joan Aiken starb 2004 in Petworth, West Sussex.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783257612554
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Verlag
Erscheinungsjahr2022
Erscheinungsdatum23.03.2022
Auflage1. Auflage
Seiten432 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1110 Kbytes
Artikel-Nr.9009740
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


April 1859

Als Matthew Bilbo nach zwanzig Jahren aus dem Gefängnis kam, war seine erste Regung, die Spitze des nächstgelegenen Hügels zu erklettern.

Es fehlten noch einige Stunden bis zur Dämmerung, als das große Tor hinter ihm zuschlug und er, ein freier Mann mit schwerem Herzen, mitten hinein in die Stadt Winchester ging. Die im Schatten liegenden Straßen waren noch leer und still, feucht glitzernd von einem leichten Regen, der über Nacht gefallen war; er sah keinen Wegweiser oder Menschen, die ihm über seinen Heimweg Auskunft hätten geben können. Doch bald behauptete sich ein lange brachgelegener Hirtensinn, und er begann langsam, doch mit Gewißheit, sich nach Osten aufzumachen, den langgestreckten Hügel hinauf, der nach Petersfield, Midhurst und Petworth führte. Seine Beine fühlten sich seltsam schwach an. Seine Augen schmerzten von unterdrückten Tränen. Werd wohl langsam ein alter Mann, dachte er, so um die fünfzig herum. Das Leben im Gefängnis war so ereignislos gewesen, daß das Rad seiner Erinnerung in letzter Zeit ein, zwei Zähne verloren zu haben schien und sich etwas verschwommen im Kreise drehte, manches ganz deutlich zeigte, doch an anderem nebelhaft vorbeitrieb. Ursprünglich hatte sein Urteil wegen Wilderei auf fünfzehn Jahre gelautet; doch dann hatte er ein paarmal zu fliehen versucht, das erste Mal, als die Nachricht kam, Martha heirate jemand anderen, dann, als man seine Eltern aus der Hütte vertrieb. Er war gefaßt worden, und das hatte natürlich seine Strafe erhöht, und man hatte ihn nach Winchester verlegt. Doch nach Marthas Heirat und dem Tod seiner Eltern hatte er sich dreingeschickt; mit der Zeit hatte er gelernt, ruhig zu sein und zu ertragen, daß die schleppenden Jahre nach ihrem eigenen Schrittmaß kamen und gingen. Die Einsamkeit war schon immer sein Gefährte gewesen, denn die Stille bleibt sich ziemlich gleich, ob man sie nun in einer Zelle oder auf einem verregneten Hang erlebt, wenn sich die Southdown-Herde an den Erdboden schmiegt. Die langen Stunden mit sich selbst als Gesellschaft bedrückten ihn weniger als die meisten Häftlinge. Gewiß, das Mäh der Schafe und der Gesang der Lerchen hatten ihm gefehlt; nun, während er recht langsam und steif die Straße nach Petersfield entlangging, entdeckte er, wie sehr ihm die Luft der Hügel gefehlt hatte; sie schmeckte rein und kalt wie Quellwasser.

Nach fünf oder sechs Meilen begann seine Gefängnissteifheit nachzulassen, und er bewegte sich besser; überdies hatte er den Kamm erreicht und war auf einen ebenen, steinigen Pfad gekommen; vor ihm zeichneten sich die gewölbten Gipfel der Hampshire Downs am verblassenden, östlichen Himmel ab. Wie eine Reihe Pilze, dachte Bilbo vergnügt, und da ihn das Bild an Essen erinnerte, setzte er sich sogleich auf einen gefällten Stamm neben einem Gestrüpp und kaute ein wenig von dem Penny-Laib, der gestrigen Ration, den er, zu verwirrt von Gedanken an die nahende Freiheit, nicht hatte essen können, als man ihn ihm gegeben hatte. So schal er auch war, die frische Luft machte ihn würzig; trotzdem konnte er nicht mehr als die Kruste essen. Sich ausruhend, begann er sofort an seinen verlassenen Schützling zu denken, und Kummer kam über ihn wie eine Wolke.

Er stand auf und ging weiter.

Die Gefängnisleitung hatte ihn mit Kleidern ausgestattet, denn seine eigenen, die man ihm bei der Einlieferung abgenommen hatte, waren, getrocknet, ausgeschwefelt und verstaut, schon lange weggemodert. Sie wären ohnehin zu groß gewesen, überlegte er; er war im Gefängnis etwas geschrumpft. Jetzt hatte er Jacke, Weste, eine Hose und Strümpfe aus dunklem, billigem Wollstoff. Mittels der genehmigten Beschäftigung des Webens von Pferdedecken hatte er es fertiggebracht, achtzehn Schilling zu verdienen, wozu zehn als Bezahlung für die Kleider draufgegangen waren; die restlichen acht klimperten nun in dem Beutel, den er sich selbst gemacht hatte. Aber ich werd mir einen besseren Aufzug als den besorgen müssen, dachte er, denn in den empfindlichen Sachen kann ich keine Schafe hüten; ein paar Wochen, und sie wären durchgewetzt und in Fetzen gerissen. Ich werd einen steifen Hut brauchen und einen Kittel und Ledergamaschen und ein paar Stiefel mit Eisenspitzen. Früh genug, mir darüber Gedanken zu machen, wenn ich daheim in Petworth bin.

Die Sonne, die ein langes Lichtband - purpurrot, hellgelb und kastanienfarben - über den gekräuselten Horizont gebreitet hatte, erschien nun in einem Auflodern regnerischer Pracht.

Ah, dachte Bilbo, das ist doch mal was! Und er machte einen tiefen, zufriedenen Atemzug. Doch da überkam ihn zum erstenmal seit vielen Jahren quälend eine Ahnung dessen, was er verloren hatte, und der Atemzug endete in einem seltsamen, schmerzlichen Stöhnen; begrabene Erinnerungen begannen sich zu regen, von regnerischen Vormittagen auf Barlavington Down, als der wehmütige Chor der Schafe nah und fern widerhallte und seine kleine Schwester Sarah, ein Punkt in der Ferne, sein in ein rot getüpfeltes Taschentuch eingeschlagenes Frühstück brachte.

Hat allerdings keinen Sinn, sich wegen der Vergangenheit aufzuregen, dachte er und schritt kräftig aus, denn er hatte noch mehr als dreißig Meilen zu bewältigen. Trotz des Wiedererwachens alter Kümmernisse und der Gegenwart eines neuen war sein Herz hoffnungsvoll; schließlich kam er im lieblichen, glückverheißenden April heim nach Petworth; die Lerchen zwitscherten aus Leibeskräften am Himmel droben, und unten im Tal waren die Bäume in rötliche Knospen gehüllt.

 

Er erreichte Petworth nicht vor dem Abend; nach den langen, vergeudeten Jahren in schlechter Verfassung war er gezwungen, ungefähr alle fünf Meilen zu rasten, und obgleich er erpicht darauf war, seinen Geburtsort wiederzusehen, schien es keinen Grund dafür zu geben, sich zu überfordern und ganz erschöpft und mitgenommen dort anzukommen. Er folgte eher Reitwegen als Zollstraßen, um die Begegnung mit Leuten zu vermeiden, denn er verspürte Angst vor menschlichem Kontakt; und so hatte sich die Abenddämmerung über den kleinen Marktflecken gesenkt, als er an die Tür einer Hütte nahe der Zollschranke klopfte.

Ein Kind öffnete die Tür, blauäugig, strohblond, den Finger im Mund.

»Is´ deine Mama da, Kleines?« fragte er. »Sag ihr, ihr Bruder ist da - dein Onkel Matt.«

»Hab kein´ Onkel Matt«, sagte die Kleine, indem sie den Finger aus dem Mund nahm.

Das war ein Schlag; doch nun kam eine dicke, argwöhnisch blickende Frau, die das Rätsel aufklärte.

»Missus Bowyer? Die is´ um die Ecke in die Damer´s Bridge gezogen, nachdem ihr Mann krank wurde. Dort wer´n Sie sie finden, gleich im dritten Haus.«

Die Damer´s Bridge genannte Straße war glücklicherweise nur ein paar Schritte weiter; doch Matts Empfang dort war kaum freundlicher. Er hätte, dachte er, seine Schwester kaum wiedererkannt; obgleich zehn Jahre jünger als er, war sie weit stärker gealtert; all ihre Zähne waren ausgefallen, ihr einst flachsblondes Haar war grau und spärlich, ihre Augen trübe, und ihr Gesicht war ohne Zähne abgehärmt, ausgehöhlt und im Ausdruck zänkisch geworden.

»Sairy? Ich bin´s, Matt.«

Sie schnappte nach Luft, doch nicht freudig überrascht; sein Auftauchen schien ihr eher den Rest zu geben.

»Matt? Was zum Donner machst du denn hier?«

»Ich bin grad´ rausgekommen«, sagte er arglos. »Hast du denn nich´ Bescheid gekriegt? Ich hab dir über Toby Hedges eine Nachricht geschickt, vor sechs Monaten.«

»Ach so, ja. Er hat wohl was gesagt, aber ich hab´s wieder vergessen. Du kannst nich´ hierbleiben, Matt«, fuhr sie hastig fort. »Wir sind nun mal zu zehnt in den beiden Zimmern. Wir haben keinen Platz für noch ein Balg, ganz zu schweigen von einem erwachsenen Mann.«

Matt fühlte sich allmählich entmutigt. Seine Füße brannten, nachdem er den ganzen Tag in den billigen Gefängnisschuhen über holprige Wege gegangen war; seine Zehen pochten wie glühende Kohlen.

»Vielleicht könnt´ ich eben reinkommen und mich hinsetzen?« schlug er schüchtern vor.

»Na ja - sicher doch.« Widerstrebend trat Sarah Bowyer beiseite, um ihn einzulassen. Das kleine, muffige Zimmer, das direkt auf die Straße hinausging, lag unter Bodenhöhe und roch dumpfig nach angebrannten Resten auf dem winzigen Herd, kochenden, ungeschälten Kartoffeln, alten, verlotterten Kleidern und ungewaschenen Menschenleibern. In dem düsteren, schäbigen Zimmer schienen noch fünf oder sechs ziemlich kleine Kinder zu sein; Matt ließ sich behutsam auf der Ecke einer aufgerissenen Roßhaarcouch nieder.

»Ned da?« fragte er.

Sie schüttelte den Kopf.

»Er arbeitet jetzt in der Schuhfabrik; das Rheuma hat ihn zu sehr verkrüppelt, um für Sam Budd den Blasebalg zu bedienen.« Ned war Gehilfe eines Grobschmieds gewesen. »Sam und Cathy sind jetzt auch in der Schuhfabrik«, fuhr sie fort.

»Das ist gut«, sagte Matt zaghaft.

»Gut? Bei sechs Schilling die Woche? Die Zeiten sind schrecklich hart, Matt. Und wir haben zehn Mäuler zu stopfen; und nur drei, die irgendwas heimbringen.« Sie blickte voll Erbitterung auf die im Zimmer herumwuselnden, mageren, flachsköpfigen Kinder, als berechnete sie, wie lange es dauern würde, bis eines von ihnen eine Gegenleistung für all die Kartoffeln erbringen würde, die sie verzehrt hatten.

»Na, ich werd dir nicht zur Last fallen«, sagte ihr Bruder friedfertig. »Alles, was ich wollte, war ein Bett für die Nacht, ehe ich zu Mister Strudwick gehe und meinen alten Job zurückverlange.«

»Strudwick? Der nimmt dich nich´«, sagte seine Schwester...
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Joan Aiken, Tochter des amerikanischen Lyrikers Conrad Aiken und seiner kanadischen Frau, wurde 1924 in Sussex geboren. Ihre ersten Gedichte und Schauergeschichten schrieb sie im Alter von fünf Jahren. Sie wurde Verfasserin zahlreicher historischer Romane, moderner Thriller und vieler Kinderbücher. Joan Aiken starb 2004 in Petworth, West Sussex.