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Die Liebermann-Papiere

Kriminalroman. Deutsche Erstveröffentlichung
TaschenbuchKartoniert, Paperback
506 Seiten
Deutsch
btberschienen am02.05.2006Deutsche Erstausgabe
Mord, Dekadenz und Geisterbeschwörung: ein Krimi aus dem Wien der Jahrhundertwende.

Wien, Anfang des 20. Jahrhunderts: Der Tod des jungen Mediums Charlotte Löwenstein gibt Rätsel auf. Es gibt keine Spuren von Gewalt, ein Abschiedsbrief deutet auf Selbstmord hin. Der Polizist Reinhardt glaubt weder daran noch an übersinnliche Kräfte und bittet den jungen Arzt und Psychoanalytiker Max Liebermann um Hilfe. Der ist bekannt für seinen kühlen Verstand. Und für seine unkonventionellen Methoden ...

Premiere eines ungewöhnlichen Detektivs: der Psychoanalytiker Max Liebermann auf der Suche nach dem Mörder.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR12,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR4,99

Produkt

KlappentextMord, Dekadenz und Geisterbeschwörung: ein Krimi aus dem Wien der Jahrhundertwende.

Wien, Anfang des 20. Jahrhunderts: Der Tod des jungen Mediums Charlotte Löwenstein gibt Rätsel auf. Es gibt keine Spuren von Gewalt, ein Abschiedsbrief deutet auf Selbstmord hin. Der Polizist Reinhardt glaubt weder daran noch an übersinnliche Kräfte und bittet den jungen Arzt und Psychoanalytiker Max Liebermann um Hilfe. Der ist bekannt für seinen kühlen Verstand. Und für seine unkonventionellen Methoden ...

Premiere eines ungewöhnlichen Detektivs: der Psychoanalytiker Max Liebermann auf der Suche nach dem Mörder.
Details
ISBN/GTIN978-3-442-73463-4
ProduktartTaschenbuch
EinbandartKartoniert, Paperback
Verlag
Erscheinungsjahr2006
Erscheinungsdatum02.05.2006
AuflageDeutsche Erstausgabe
Reihen-Nr.1
Seiten506 Seiten
SpracheDeutsch
Gewicht592 g
Artikel-Nr.10696200
Rubriken

Inhalt/Kritik

Leseprobe
Der Gott der UnwetterEs war der Tag des großen Unwetters. Ich erinnere mich noch gut, weil mein Vater - Mendel Liebermann - vorgeschlagen hatte, im Hotel Imperial einen Kaffee zu trinken. Ich hegte den Verdacht, dass er etwas auf dem Herzen hatte...Ein bedrohlicher schwarzer Wolkenberg türmte sich gleich einem Vulkanausbruch aus schwefligem Rauch und Asche hinter der Oper auf. Sein Umfang ließ auf den herannahenden Weltuntergang schließen, auf eine Katastrophe von pompejischem Ausmaß. In dem seltsam bernsteinfarbenen Licht wirkten die Gebäude gelbsüchtig. Die Statuen auf den Simsen des Opernhauses - Figuren der klassischen Mythologie - wirkten wie aus Schwefel gemacht. Ein Blitz ergoss sich über den Wolkenberg wie geschmolzenes Eisen. Die Erde bebte, und die Luft geriet böig in Bewegung, aber noch immer regnete es nicht. Das kommende Unwetter schien sich aufzusparen und Kräfte zu sammeln für einen apokalyptischen Wolkenbruch. Das Bimmeln der Straßenbahnglocke riss Liebermann aus seiner Versunkenheit und verscheuchte ein paar Fiaker von den Schienen. Als die Tram weiterrollte, sann Liebermann darüber nach, weshalb ihn sein Vater wohl sehen wollte. Nicht dass solch eine Verabredung ungewöhnlich gewesen wäre, aber die Art, und Weise mit der die Einladung ausgesprochen worden war, hatte ihn stutzig gemacht. Mendels Stimme hatte seltsam angespannt geklungen - dünn und unsicher. Seine Unbekümmertheit hatte aufgesetzt gewirkt und in Liebermann den Verdacht eines - möglicherweise unbewussten - Hintergedankens hervorgerufen. Was mochte sein Vater auf dem Herzen haben? Die Straßenbahn drosselte im starken Verkehr des Kärntner Rings ihr Tempo, und Liebermann sprang ab, bevor sie an der Haltestelle zum Stehen kam. Er schlug den Kragen seines Astrachanmantels gegen den Wind hoch und eilte auf das Imperial zu. Obwohl die Mittagszeit bereits vorbei war, ging es im Café des Hotels immer noch recht lebhaft zu. Kellner mit hoch erhobenen Serviertabletts schlängelten sich, einander ausweichend, zwischen den gut besetzten Tischen hindurch. Man unterhielt sich angeregt. Hinten im Café spielte ein Klavierspieler eine Mazurka von Chopin. Liebermann putzte seine beschlagenen Brillengläser mit seinem Taschentuch und hängte seinen Mantel an einen Kleiderständer. »Ich begrüße Sie, Herr Doktor.« Liebermann erkannte die Stimme und antwortete, ohne sich umzudrehen: »Meine Verehrung, Bruno. Wie steht's?« »Bestens, gnädiger Herr, bestens.« Als sich Liebermann umdrehte, fuhr der Kellner fort: »Wenn Sie mir bitte folgen wollen. Ihr Vater ist bereits da.« Bruno geleitete Liebermann durch den belebten Saal zu einem Tisch, an dem, verborgen hinter den dicht bedruckten Seiten der Wiener Zeitung, Mendel saß. »Herr Liebermann?«, sagte Bruno. Mendel faltete seine Zeitung zusammen. Er war untersetzt, trug einen imposanten Vollbart und hatte buschige Brauen. Sein finsterer Gesichtsausdruck wurde von zahlreichen Lachfältchen gemildert. Der Kellner meinte: »Ihr Herr Sohn.«»Ah, Maxim!«, sagte der Alte. »Da bist du ja endlich!« Er klang leicht verärgert - als hätte man ihn warten lassen.Nach kurzem Zögern erwiderte Liebermann: »Ich bin zu früh, Vater.«Mendel konsultierte seine Taschenuhr.»Tatsächlich. Nimm Platz, nimm Platz. Für mich bitte noch einen Pharisäer - und du ... Max?«»Einen Schwarzen bitte, Bruno.«Der Kellner deutete eine Verbeugung an und verschwand.»Und«, meinte Mendel, »wie geht's dir, mein Sohn?«»Ausgezeichnet, Vater.«»Du schaust ein wenig magerer aus als sonst.«»Wirklich?«»Ja, etwas mitgenommen.«»Das ist mir noch gar nicht aufgefallen.«»Isst du auch ordentlich?«Liebermann lachte: »Ja, ja, ich ess sehr gut. Und wie geht's dir, Vater?«Mendel schnitt eine Grimasse.»Na ja! Gute Tage und schlechte Tage, du weißt, wie das ist. Ich hab diesen Spezialisten konsultiert, den du mir empfohlen hast, Pintsch. Und vermutlich geht's jetzt auch etwas besser. Aber mit meinem Rücken ist es fast wie vorher.«»Das tut mir Leid.«Mendel machte eine abwehrende Handbewegung.»Willst du was zu essen?« Mendel schob die Speisekarte über den Tisch. »Du schaust so aus, als könntest du was vertragen. Ich glaube, ich nehme einen Topfenstrudel.«Liebermann studierte das umfangreiche Angebot an Torten. Apfeltorte, Cremeschnitte, Trüffeltorte, Apfelstrudel. Die Liste umfasste mehrere Seiten. »Deine Mutter lässt grüßen«, sagte Mendel. »Sie würde gerne wissen, wann sie wieder einmal mit deinem Besuch rechnen darf.« Sein Gesichtsausdruck war gleichzeitig mitfühlend und vorwurfsvoll. »Tut mir Leid, Vater«, sagte Liebermann. »Ich war sehr beschäftigt. Zu viele Patienten... Richte Mutter aus, dass ich versuchen will, sie nächste Woche zu besuchen. Vielleicht Freitag?« »Dann musst du zum Abendessen kommen.« »Ja«, erwiderte Liebermann und hatte plötzlich das Gefühl, bereits mehr Verpflichtungen eingegangen zu sein, als ihm lieb war. Er betrachtete erneut die Speisekarte: Dobostorte, Gugelhupf, Linzertorte. Die Chopin-Mazurka endete mit einem lauten Mollakkord, und im Café wurde vereinzelt applaudiert. Ermutigt spielte der Pianist in den oberen Oktaven ein paar schnelle Akkorde, die er mit der Melodie eines beliebten Walzers unterlegte. Eine Gruppe von Leuten, die in der Nähe des Fensters saßen, begann anerkennend zu klatschen. Bruno kehrte mit den beiden Kaffees zurück und stand dann mit Block und Bleistift bereit, die Bestellung entgegenzunehmen. »Einmal den Topfenstrudel«, sagte Mendel. »Den Rehrücken, bitte«, meinte Liebermann. Mendel rührte die Sahne in seinen Pharisäer, einen Kaffee mit einem Schuss Rum, und begann sofort über das Kleiderunternehmen der Familie zu sprechen. Das war inzwischen schon so etwas wie eine Tradition. Die Gewinne waren gestiegen, und Mendel erwog, das Unternehmen zu vergrößern: eine weitere Fabrik, vielleicht sogar ein Geschäft. Da die Bürokraten, die sich in alles einmischten, das Verbot von Warenhäusern aufgehoben hatten, konnte er sich eine Zukunft im Einzelhandel vorstellen - neue Möglichkeiten. Sein alter Freund Blomberg hatte bereits ein erfolgreiches Warenhaus eröffnet und ihm vorgeschlagen, bei ihm als Kompagnon einzusteigen. Mendels Gesichtsausdruck war die ganze Zeit gespannt. Aufmerksam betrachtete er die Reaktion seines Sohnes.Liebermann war klar, warum ihn sein Vater auf dem Laufenden hielt. Obwohl er stolz auf die akademischen Errungenschaften seines Sohnes war, hoffte er immer noch, dass der junge Max eines Tages in seine Fußstapfen treten würde.Mendel sprach langsamer, als sein Blick auf die Hand seines Sohnes fiel. Die Finger schienen der Melodie des Pianisten zu folgen und benutzten die Tischkante als Klaviatur.»Hörst du mir zu?«, fragte Mendel.»Ja. Natürlich hör ich dir zu«, erwiderte Liebermann. Er war diese Frage gewohnt und ließ sich nicht mehr - wie früher - ertappen. »Du hast vor, dich mit Herrn Blomberg zu soziieren.«Liebermann nahm eine für ihn typische Pose ein, indem er seine Finger in Pistolenform spreizte und an die Wange legte, wobei sein Zeigefinger zart auf seiner Schläfe zu liegen kam. Es war dies eine Zuhörerhaltung, deren sich viele Psychiater mit Vorliebe bedienten.»Also, was meinst du? Ist das eine gute Idee?«, fragte Mendel.»Wenn das Warenhaus Gewinn einbringt, dann klingt es recht vernünftig.«»Es handelt sich um eine beträchtliche Investition.«»Daran zweifle ich nicht.«Der Ältere strich sich über seinen Bart. »Du scheinst von der Idee nicht sonderlich begeistert zu sein.«»Vater, spielt es denn überhaupt eine Rolle, was ich davon halte?«»Nein, vermutlich nicht.« Seine Enttäuschung war spürbar.Liebermann wandte seinen Blick ab. Es bereitete ihm keine Freude, seinen Vater zu enttäuschen, und er hatte ein schlechtes Gewissen. Die Motive des Alten waren überaus löblich, und Liebermann war klar, dass sein angenehmes Leben - zumindest teilweise - von Mendels exzellenter Führung der Familiengeschäfte aufrechterhalten wurde. Er konnte es sich jedoch beim besten Willen nicht vorstellen, einer Fabrik oder einem Warenhaus vorzustehen. Die Idee war lächerlich.Während ihm diese Gedanken durch den Kopf gingen, sah er, wie ein Mann mittleren Alters das Café betrat, seinen Hut abnahm und sich umsah. Sein breiter Scheitel war sehr weit seitlich, und sein sorgsam gestutzter Bart fast ganz ergraut. Der Oberkellner begrüßte ihn herzlich und half ihm aus dem Mantel. Er war tadellos gekleidet und trug gestreifte Hosen, ein Jackett mit breitem Revers und eine auffällige Weste. Offenbar machte er eine geistreiche Bemerkung, denn der Oberkellner begann plötzlich lauthals zu lachen. Der Mann schien es nicht eilig zu haben, einen Platz zu finden, und blieb neben der Tür stehen. Aufmerksam hörte er einem Kellner zu, der ihm - wie es Liebermann schien - eine Geschichte erzählte.Als Mendel sah, dass sein Sohn abgelenkt war, fragte er: »Kennst du ihn?«Liebermann wandte sich ihm zu.»Wie bitte?«»Doktor Freud«, meinte Mendel mit ausdrucksloser Stimme.Es erstaunte Liebermann, dass sein Vater wusste, wer der Mann war.»Ja, ich kenne ihn. Außerdem ist er Professor Freud.«»Na, dann eben Professor Freud«, meinte Mendel, »aber Professor ist er noch nicht sehr lange, oder?«»Seit ein paar Monaten«, sagte Liebermann und zog die Brauen hoch. »Woher weißt du das?«»Er ist in der Loge.«»Welcher Loge?«Mendels Miene verfinsterte sich.»B'nai B'rith.«»O ja, natürlich.«»Der Himmel weiß, warum. Ich bin mir nicht sicher, was für eine Art Jude er überhaupt sein soll. Er scheint an nichts zu glauben. Und was seine Ideen angeht...« Mendel schüttelte den Kopf. »Er hat bei uns letztes Jahr einen Vortrag gehalten. Skandalös. Wie gut kennst du ihn?«»Recht gut... Wir treffen uns gelegentlich und sprechen über seine Arbeit.«»Ach wirklich? Findest du etwa, dass da was dran ist?«»Das Buch, das er zusammen mit Breuer über die Hysterie geschrieben hat, ist ausgezeichnet, und die Traumdeutung ist... nun, ein Meisterwerk. Natürlich bin ich nicht mit allem, was er sagt, einverstanden, aber trotzdem finde ich seine Therapievorschläge sehr nützlich.«»Diese Meinung werden nicht sehr viele teilen.«»Sicherlich nicht. Aber ich bin davon überzeugt, dass sein System, das er selbst Psychoanalyse nennt, große Anerkennung finden wird.«»In Wien bestimmt nicht.«»Ich weiß nicht. Ein paar meiner Kollegen, ebenfalls Assistenzärzte in der Psychiatrie, interessieren sich sehr für die Ideen von Freud.«Mendel runzelte die Stirn: »Einige Dinge, die er letztes Jahr gesagt hat, waren regelrecht obszön. Mir tun alle die Leid, die sich bei ihm in Behandlung begeben.«»Ich muss zugeben«, meinte Liebermann, »dass er sich in letzter Zeit ungemein für das erotische Leben seiner Patienten interessiert. Seine Idee von der menschlichen Psyche reicht aber weit über die bloße Ansammlung von animalischen Instinkten hinaus.«Der Professor stand immer noch mit dem Oberkellner neben der Tür. Plötzlich lachte er laut und klopfte seinem Nebenmann auf die Schulter. Es war offensichtlich, dass ihm der Oberkellner gerade einen Witz erzählt hatte. »Um Gottes willen«, flüsterte Mendel. »Ich hoffe, er kommt nicht hierher.« Er seufzte erleichtert auf, als Professor Freud an einen Tisch geführt wurde, der von dem ihrigen aus nicht zu sehen war. Mendel wollte gerade etwas hinzufügen, hielt aber inne, als Bruno ihre Kuchenstücke brachte. »Ein Topfenstrudel für den Herrn Liebermann und ein Rehrücken für den Herrn Doktor Liebermann. Noch einen Kaffee?« Bruno deutete auf Mendels leeres Glas. »Ja, warum nicht? Eine Melange und für meinen Sohn noch einen Schwarzen.« Neidisch betrachtete Mendel das riesige Tortenstück seines Sohnes, einen dunklen Rührkuchen, gefüllt mit Marillenmarmelade, mit Schokoladenglasur überzogen und mit Mandelstiften gespickt. Der Topfenstrudel war weit weniger beeindruckend. Liebermann bemerkte den sehnsüchtigen Blick seines Vaters. »Du hättest dir auch einen bestellen sollen.« Mendel schüttelte den Kopf. »Pitsch hat gesagt, ich soll abnehmen.« »Von Topfenstrudel wird man auch nicht gerade dünn.« Mendel zuckte mit den Achseln, schob ein Stück Strudel in den Mund und hielt im Kauen inne, als ein lauter Donner das Gebäude erschütterte. »Das gibt ein schlimmes Unwetter«, meinte Mendel und nickte zum Fenster. Draußen hatte sich eine verfrühte Dämmerung auf Wien herabgesenkt. »Maxim«, fuhr Mendel fort, »ich habe einen Grund für unser heutiges Treffen. Einen ganz bestimmten Grund.« Endlich, dachte Liebermann. Endlich würde er den eigentlichen Anlass ihres Treffens erfahren. Liebermann wappnete sich innerlich.»Wahrscheinlich findest du, dass es mich nichts angeht«, meinte Mendel, »aber Er brach unvermittelt ab und schob ein Stück seines Topfenstrudels mit der Kuchengabel auf dem Teller hin und her.»Was ist, Vater?«»Ich hab mich neulich mit Herrn Weiß unterhalten und ...« Wieder brachte er einen angefangenen Satz nicht zu Ende. »Maxim! Clara und du, ihr scheint euch gut zu verstehen, und Herr Weiß fragt sich - verständlicherweise, finde ich -, was du für Absichten hast.«»Was ich für Absichten habe?«»Ja«, sagte Mendel und sah seinen Sohn an. »Deine Absichten.« Er wandte sich wieder seinem Strudel zu.»Ich verstehe«, erwiderte Liebermann verblüfft. Ihm waren viele Themen durch den Kopf gegangen, über die sein Vater möglicherweise sprechen wollte, aber mit Clara Weiß hatte er nicht gerechnet.»Was soll ich sagen«, antwortete Liebermann, »ich hab Clara sehr gern.«Mendel tupfte sich mit einer Serviette die Lippen ab und beugte sich vor.»Und?«»Und ...« Liebermann schaute in die strengen Augen seines Vaters. »Und ... Ich vermute, dass es meine Absicht ist, wenn die Zeit dafür reif ist, sie ...« Jetzt war er es, der zögerte.»Ja?«»^ sie zu heiraten, vorausgesetzt natürlich, dass sie mich haben will.«Mendel lehnte sich im Stuhl zurück. Er war eindeutig erleichtert, und ein breites Lächeln erhellte seine ernsten Züge.»Natürlich wird sie dich heiraten. Warum sollte sie nicht?«»Manchmal scheinen wir... einfach nur gute Freunde zu sein.« In allen Lebenslagen vertraute Liebermann sonst auf dieZuverlässigkeit seiner Wahrnehmung, aber was Clara betraf, war er sich nie so ganz sicher, ob ihre Gesten der Zuneigung Ausdruck von Liebe oder bloß Liebelei waren. Das Begehren hatte seinen klinischen Scharfsinn getrübt. »Es ist nicht immer ersichtlich, ob ...« »Du brauchst dir darüber keine Gedanken zu machen«, unterbrach ihn Mendel mit einer höflichen Handbewegung, »glaub mir.« Er lehnte sich wieder vor und drückte den Arm seines Sohnes: »Du brauchst dir überhaupt keine Sorgen zu machen, und jetzt iss deinen Rehrücken!« Aber Liebermann hatte keinen Appetit mehr. Offenbar hatte Clara ihrem Vater gesagt, dass sie einen Heiratsantrag annehmen würde. Er brauchte sich keine Sorgen zu machen. Liebermann dachte an ihr feines Gesicht, ihre ausdrucksvollen Augen, ihre zierliche Nase und ihre rosenfarbenen Lippen, ihre aufrechte Haltung und ihre schlanke Taille. Sie würde seine Frau werden. Sie würde seine Clara werden. »Ich erzähl deiner Mutter nichts«, fuhr Mendel fort. »Das überlass ich dir. Natürlich wird sie entzückt sein. Wie du weißt, hat sie Clara sehr gern. Erst kürzlich hat sie gesagt, wie schön Clara geworden ist. Und die Familie Weiß ist eine gute Familie. Ehrbare Leute. Jacob und ich kennen uns schon sehr lang. Wir haben in der Leopoldstadt dieselbe Schule besucht. Sein Vater hat meinem Vater geholfen, also deinem Großvater, sich im Tuchgeschäft zu etablieren. Sie hatten gemeinsam einen Marktstand.« Liebermann hatte diese Geschichte öfter gehört, als ihm lieb war. Aber er wusste, wie gerne sein Vater Familiengeschichten zum Besten gab, und heuchelte deswegen, so gut es ging, Interesse. Mendel erwärmte sich immer mehr für sein Thema und zählte weitere Gemeinsamkeiten der beiden Familien auf. Als er fertig war, winkte Mendel Bruno herbei und bestellte noch einmal Kaffee und dazu Zigarren.»Weißt du, Maxim«, sagte Mendel, »eine Ehe bringt viele Verantwortungen mit sich.«»Natürlich.«»Du musst an die Zukunft denken.«»Das ist klar.«»Sag mir, glaubst du wirklich, dass du mit deinem Gehalt eine junge Familie ernähren kannst?«Liebermann lächelte seinen Vater an. Unfassbar, dass sich Mendel auch nie eine Gelegenheit entgehen ließ.»Ja«, antwortete Liebermann. »Zu gegebener Zeit werde ich das können.«Mendel zuckte mit den Achseln.»Wir werden sehen...«Der Alte behielt seine ernste Miene noch ein paar Sekunden bei und brach dann in Gelächter aus. Erneut beugte er sich über den Tisch und klopfte seinem Sohn auf die Schulter.»Ich gratuliere, mein Filius.«Diese Geste war seltsam liebevoll, und Liebermann war sich im Klaren darüber, dass ihr Verhältnis - trotz aller Meinungsverschiedenheiten - von Liebe bestimmt war. Er hatte einen Kloß im Hals, und fast wären ihm die Tränen gekommen. Die Geschäftigkeit des Cafés wurde in den Hintergrund gedrängt, als sie sich in die Augen schauten.»Entschuldige mich«, sagte Mendel, erhob sich abrupt und strebte Richtung Herrentoilette. Aber der alte Mann war nicht schnell genug gewesen: Liebermann hatte die Träne in seinem einen Auge bereits bemerkt.Liebermann sah seinen Vater im geschäftigen Treiben der Ringstraße verschwinden. Eine Windbö erinnerte ihn daran, dass er - im Unterschied zu Mendel - keinen Regenschirm bei sich trug. Glücklicherweise stand ein Fiaker vor dem Hotel Imperial. Es donnerte ein weiteres Mal - das Aufbegehren einer missgestimmten minderen Gottheit. Der Kutschengaul warf seinen Kopf zurück, das Zaumzeug klirrte, und das Pferd scharrte unruhig mit einem Huf über das Pflaster. »Ruhig!«, rief der Kutscher - wobei seine Stimme kaum das Geklappere der vorbeirollenden Fuhrwerke durchdrang. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite schlug die Markise eines Cafés wie ein Segel im Wind. Liebermann schaute in den bleigrauen, aufgewühlten Himmel hinauf. Wolkenfetzen trieben über die Giebel des Hotel Imperial wie die Röcke eines gefallenen Engels. Die Luft roch seltsam - eigenartig metallisch. Liebermann hob die Hand, um die Aufmerksamkeit des Kutschers auf sich zu lenken, wurde aber von einer bekannten Stimme abgelenkt. »Max!« Er drehte sich um und sah einen stämmigen Mann näher kommen. Sein offener Mantel flatterte im Wind, und mit einer Hand hinderte er seinen Hut daran wegzufliegen. Liebermann erkannte seinen guten Freund, Inspektor Oskar Rheinhardt, und lächelte herzlich. »Oskar!« Die beiden Männer reichten sich die Hand. »Max, ich weiß, dass du das fürchterlich unverschämt finden wirst«, sagte Rheinhardt und hielt inne, um wieder zu Atem zu kommen, »aber würde es dir etwas ausmachen, wenn ich deinen Wagen nehme?« Dem Inspektor war seine Müdigkeit anzusehen. Die Haut unter seinen Augen hing in mehreren verfärbten Tränensäcken herab. Und doch hatte er einen erstaunlich gepflegten Schnurrbart, der an den Enden spitz hochgezwirbelt war. »Ein Unfall?«, fragte Liebermann. »Allerdings«, erwiderte Rheinhardt keuchend, »und in der Tat ist es ziemlich eilig.« »Dann bitte.«»Danke, mein Freund, ich bin dir sehr verbunden.«Rheinhardt öffnete den Schlag, stieg hoch und rief dem Kutscher zu: »Karmelitermarkt - Leopoldstadt.« Der Kutscher legte einen Finger seiner behandschuhten Hand an die Stirnlocke. Ehe er den Schlag schloss, rief Rheinhardt Liebermann noch zu: »Übrigens, mit den Hugo-Wolf-Liedern, das wird langsam was.«»Also dann bis Samstag?«»Bis Samstag.«Rheinhardt zog die Tür hinter sich zu, und der Fiaker bahnte sich seinen Weg in den lärmenden Verkehr.Ein Flächenblitz tauchte die gesamte Ringstraße in weißes Licht. Eine Sekunde später öffnete sich der Himmel mit einem gewaltigen Krachen, und die ersten schweren Regentropfen platzten auf die Pflastersteine.Liebermann sah sich nach einem neuen Fiaker um, wusste aber bereits, dass es sinnlos war. Er seufzte, sandte Rheinhardt einen gutmütigen Fluch nach und eilte auf die nächste Tramhaltestelle zu.Rheinhardt stemmte seine Schulter gegen die verschlossene Tür. Sie bewegte sich kein Haarbreit. Ein Windstoß brachte die Fenster zum Scheppern, und unheimliche, jammernde Laute erklangen aus den Kaminen. Ein Fensterladen klapperte - immer wieder - wie der ungeduldige Geist eines Verstorbenen, der Einlass begehrt. Der Regen prasselte wie erbarmungsloser Artilleriebeschuss auf alles nieder. Es gab kein Entrinnen. Eine alles ertränkende, sich ergießende Flutwelle. Der Regen trommelte aufs Dach, überflutete die Gullys und schoss aus den Regenrinnen. Die Flut war endlich da. Rheinhardt seufzte, drehte sich um und betrachtete unverhohlen die junge Frau, die in der schmutzigen Diele saß. Sie war klein und trug über ihrem einfachen Kleid eine Schürze. Sie war sehr nervös. Ihre Finger, die sie in den Schoß gelegt hatte, befanden sich in ständiger Bewegung und erinnerten Rheinhardt an seine Tochter Mitzi. Die junge Frau erhob sich, als er näher kam. »Bitte bleiben Sie doch sitzen«, sagte Rheinhardt. Sie schüttelte den Kopf. »Vielen Dank, gnädiger Herr, aber ich stehe lieber.« Ihre Stimme trug nicht recht. »Ich würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen. Das macht Ihnen doch nichts aus?«Die Worte: »Nein, mein Herr« waren von ihren Lippen abzulesen. Es kam jedoch kein Laut aus ihrem Mund.Nachdem Rheinhardt sich nach ihrem Namen erkundigt hatte - sie hieß Rosa Sucher -, fragte er: »Wann sind Sie heute Morgen gekommen?«»Zur üblichen Zeit, um neun.«»Und dann ist Fräulein Löwenstein in der Regel schon auf?«»Normalerweise, aber nicht immer. Wie Sie sehen - die Schlafzimmertür ist offen.« Rheinhardt warf höflich einen Blick durch die Diele. Der Zipfel einer graubraunen Tagesdecke war gerade noch zu sehen. »In dem Bett hat niemand geschlafen, also ...« Sie hielt inne und wurde vor Verlegenheit hochrot.»Sie haben natürlich angenommen, dass Ihre Herrschaft die Nacht nicht zu Hause verbracht hat.«»Ja. Genau, mein Herr.«»Was haben Sie dann getan?«»Ich hab mit meiner Arbeit angefangen, mein Herr ... aber dann ist mir aufgefallen, dass die Tür zum Salon abgeschlossen ist. Ich hab nicht g'wusst, was ich tun soll. Dann hab ich einmal weitergeputzt. Ich hab mir gedacht, dass meine Herrin irgendwann nach Haus kommen wird ... sie ist aber nicht gekommen. Und heut ist Donnerstag. Meine Herrin schickt mich am Donnerstag immer einkaufen, um Sachen für ihre Gäste zu besorgen. Bäckereien, Blumen...«»Gäste?«»Ja, gnädiger Herr. Fräulein Löwenstein ist ein berühmtes Medium«, erwiderte die junge Frau nicht ohne Stolz. »Sie veranstaltet hier jeden Donnerstag um acht eine Séance.«Rheinhardt sah sich bemüßigt, eine beeindruckte Miene aufzusetzen.»Berühmt, sagen Sie?«»Ja. Sehr berühmt. Sie ist auch schon von einem russischenPrinzen besucht worden, der nur ihretwegen die weite Reise von Sankt Petersburg gemacht hat.« Der Platzregen wurde heftiger, und der lose Fensterladen schlug mit noch größerer Kraft auf und zu. Rosa Sucher blickte zur Salontür hinüber. »Bitte fahren Sie fort«, sagte Rheinhardt. »Ich hab bis zum Nachmittag g'wartet, da ist meine Herrin immer noch nicht zu Haus gewesen. Ich hab mir Sorgen gemacht ... schließlich bin ich ins Café Zilbergeld gegangen.« »In der Haidgasse?« »Genau. Ich kenne Herrn Zilbergeld. Letzten Sommer hab ich bei ihm gearbeitet. Ich hab ihm erzählt, dass meine Herrin nicht nach Haus gekommen ist. Er hat mich gefragt, ob das schon mal passiert ist. Ich hab gesagt: >Nein Die junge Frau zog ein Taschentuch aus dem Ärmel und putzte sich die Nase. Fast kamen ihr wieder die Tränen. »Danke, Rosa«, sagte Rheinhardt. »Sie waren eine große Hilfe.« Die junge Frau machte einen Knicks und setzte sich. Dabei musste sie sich an einem Palisandertischchen abstützen. Rheinhardt durchquerte die Diele und warf einen Blick in die verschiedenen Zimmer. Die Wohnung war nicht sonderlich geräumig: Schlafzimmer, Salon, Badezimmer und Küche, von der auch das Klosett abging. Das Dienstmädchen beobachtete ihn, einen stattlichen Mann in einem dunkelblauen Mantel, der scheinbar tief in Gedanken versunken war. Er hielt inne, zwirbelte sein rechtes Schnurrbartende, kehrte zu der verschlossenen Türe zurück, hockte sich hin und spähte durch das Schlüsselloch. Er sah nichts. Offenbar steckte der Schlüssel innen, was nahe legte, dass sich jemand in dem Zimmer befand. Diese Person hatte sich jedoch seit Rosa Suchers Eintreffen am Morgen weder geregt noch ein Wort gesagt.Rheinhardt hörte seinen Assistenten Haussmann und den Gendarm von der Wache in der Großen Sperlgasse die Treppe hinaufeilen. Sekunden später tauchten sie am Ende der Diele auf.»Und?«, fragte Rheinhardt und erhob sich langsam. Er musste sich auf seinen Oberschenkeln abstützen, um seine Körperfülle wieder in eine aufrechte Position zu bringen.Die beiden Männer marschierten auf ihn zu und hinterließen dabei nasse Stiefelabdrücke.»Alle Läden sind ordentlich von innen verriegelt«, sagte Haussmann, »mit einer Ausnahme. Es ist nicht leicht, das Fenster im Regen zu sehen ... aber ich glaube, es ist ebenfalls verschlossen. Das Wohnzimmer ist also von außen nicht zugänglich.«»Auch nicht über eine Leiter?«»Mit einer sehr langen Leiter könnte es vielleicht gehen.«Die beiden Männer kamen abrupt vor Rheinhardt zum Stehen. Obwohl sie vollkommen durchnässt waren, ließ ihr Gesichtsausdruck auf eine servile Begeisterung schließen - es war die kontrollierte Aufregung eines Apportierhundes, der darauf wartet, dass der Stock endlich geworfen wird. Hinter ihnen saß Rosa Sucher und kaute auf ihren Fingernägeln, ein klägliches Bild.»Gendarm«, sagte Rheinhardt, »würden Sie Fräulein Sucher bitte nach unten geleiten?«»Nach unten, Herr Inspektor?«»Ja, in die Toreinfahrt. Ich komme gleich nach.«»Wie Sie wünschen, Herr Inspektor«, erwiderte der Gendarm und drehte sich rasch auf dem Absatz um. mehr
Kritik
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Autor

Dr Frank Tallis is a writer and clinical psychologist. His non-fiction books include Lovesick, The Incurable Romantic and The Act of Living. He is also the author of the Liebermann Papers, a psychoanalytic detective series set in Freud's Vienna and adapted for television as the BBC drama Vienna Blood. He lives in London.