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Furcht und Freiheit

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
160 Seiten
Deutsch
Suhrkamp Verlag AGerschienen am27.10.2019Originalausgabe
Der Liberalismus ist in Verruf geraten. Oft wird er nur noch als Elitenattitüde wahrgenommen, als exklusive Kultur urbaner Globalisierungsgewinner. Wie konnte es so weit kommen? War der Liberalismus schon immer eine Sache arroganter, im Zweifelsfall heuchlerischer Moralisierer?

Jan-Werner Müller zeigt, wie und warum sich solche Vorstellungen nach dem Ende des Kalten Krieges entgegen allen Erwartungen liberaler Triumphalisten durchsetzten. Vor allem aber formuliert er auf den Spuren der in Deutschland immer noch weitgehend unbekannten Denkerin Judith Shklar einen Liberalismus, der sich an der Vorstellung eines Lebens ohne Furcht und Abhängigkeiten orientiert. Damit wird es möglich, sowohl Antidiskriminierunsgpolitik als auch soziale Sicherung neu zu begründen - anstatt sie immer wieder unproduktiv gegeneinander auszuspielen.



Jan-Werner Müller, geboren 1970, lehrt Politische Theorie und Ideengeschichte an der Princeton University. Im Suhrkamp Verlag erschienen bislang Verfassungspatriotismus, Das demokratische Zeitalter. Eine politische Ideengeschichte Europas im 20. Jahrhundert und Was ist Populismus? Ein Essay (2016). Was ist Populismus? wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und gilt als zentraler Text zum Verständnis zeitgenössischer politischer Entwicklungen. Jan-Werner Müller äußert sich regelmäßig zum Zeitgeschehen; er schreibt u. a. für Foreign Affairs, die Neue Zürcher Zeitung, die New York Times und die Süddeutsche Zeitung.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR16,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR15,99

Produkt

KlappentextDer Liberalismus ist in Verruf geraten. Oft wird er nur noch als Elitenattitüde wahrgenommen, als exklusive Kultur urbaner Globalisierungsgewinner. Wie konnte es so weit kommen? War der Liberalismus schon immer eine Sache arroganter, im Zweifelsfall heuchlerischer Moralisierer?

Jan-Werner Müller zeigt, wie und warum sich solche Vorstellungen nach dem Ende des Kalten Krieges entgegen allen Erwartungen liberaler Triumphalisten durchsetzten. Vor allem aber formuliert er auf den Spuren der in Deutschland immer noch weitgehend unbekannten Denkerin Judith Shklar einen Liberalismus, der sich an der Vorstellung eines Lebens ohne Furcht und Abhängigkeiten orientiert. Damit wird es möglich, sowohl Antidiskriminierunsgpolitik als auch soziale Sicherung neu zu begründen - anstatt sie immer wieder unproduktiv gegeneinander auszuspielen.



Jan-Werner Müller, geboren 1970, lehrt Politische Theorie und Ideengeschichte an der Princeton University. Im Suhrkamp Verlag erschienen bislang Verfassungspatriotismus, Das demokratische Zeitalter. Eine politische Ideengeschichte Europas im 20. Jahrhundert und Was ist Populismus? Ein Essay (2016). Was ist Populismus? wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und gilt als zentraler Text zum Verständnis zeitgenössischer politischer Entwicklungen. Jan-Werner Müller äußert sich regelmäßig zum Zeitgeschehen; er schreibt u. a. für Foreign Affairs, die Neue Zürcher Zeitung, die New York Times und die Süddeutsche Zeitung.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783518763827
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2019
Erscheinungsdatum27.10.2019
AuflageOriginalausgabe
Seiten160 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.4403030
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


Start: Zwischen Selbstgefälligkeit und Selbstkasteiung


Gegen Ende der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts gab Wladimir Putin in einer britischen Tageszeitung zu Protokoll: »Die liberale Idee hat sich überholt.«1 Neu sind solche kategorischen Aussagen nicht. Aber dass ein weltpolitischer Akteur eine derartige ideenpolitische Diagnose mit ostentativer Genugtuung verkündete - das hatte es so nach dem Ende des Kalten Krieges noch nicht gegeben.2 Über die erwartbare Empörung in westlichen Hauptstädten machte sich die russische Botschaft in London dann mit einem Tweet lustig; in diesem wurde die Öffentlichkeit aufgefordert, über folgende Frage abzustimmen: »Wie kann man am besten beweisen, dass der Liberalismus noch am Leben ist?« Die möglichen Antworten lauteten: »Verlasse die EU« und »Bleibe in der EU«. Und dann gab es noch eine dritte Option: »Der Liberalismus ist tot.«3

Der Liberalismus steht bekanntlich weltweit unter Druck, und zwar scheinbar von oben und von unten. Wie das, was da Druck ausübt, genannt werden soll, ist umstritten. Populismus? Autoritarismus? Ein kultureller Gegenschlag (backlash) gegen sogenannte liberale Eliten? Und was ist eigentlich gemeint, wenn man liberale Eliten kritisiert? Dass es sich dabei um Heuchler mit einem, frei nach Max Weber, »pharisäisch gute[n] Gewissen« handelt? Um Leute, die sich als Gewinner der Globalisierung kosmopolitisch-tolerante Attitüden leisten können, ohne jegliches Bewusstsein für die materiellen Vorbedingungen ihrer verfeinerten Moralvorstellungen?

So oder so: Die Liberalen staunen, dass Trump, Brexit etc. im 21. Jahrhundert noch möglich sind. Dies Staunen ist aber kein theoretisches; es steht nicht am Anfang einer Erkenntnis, es sei denn der, dass die Vorstellungen von Liberalismus und von Geschichte, aus denen es stammt, so nicht mehr zu halten sind.4 Die Reaktionen derjenigen, die sich als Liberale angesprochen fühlen, fallen je nach Zeitdiagnose ganz unterschiedlich aus. Die einen geben »dem Volk« die Schuld an den politischen Katastrophen Brexit und Trump und behaupten, Figuren wie der 45. Präsident der Vereinigten Staaten oder der Chef-Brexiteer Nigel Farage könnten nur deshalb reüssieren, weil sie unter leichtgläubigen Bürgern Lügen über liberale Eliten verbreiteten. Man bedient sich dann oft munter der Klischees der Massenpsychologie aus dem späten 19. Jahrhundert: Die einfachen Leute seien halt irrational und verführbar - und deswegen an den desaströsen Folgen des neuen Antiliberalismus selber schuld.

Andere hingegen üben sich in Selbstkritik (oder zumindest der Simulation von Selbstkritik), ja es ist sogar ein kleiner, aber doch sehr umkämpfter Markt für liberale meae culpae entstanden.5 Man gesteht, den Abgehängten wirklich kein Gehör geschenkt zu haben;6 man unternimmt, was in den USA als »Trump-Safaris« verspottet wird: Expeditionen ins Landesinnere (bevorzugt in die Appalachen), wo die exotischen Eingeborenen ein offenbar selbstzerstörerisches Leben führen, das man aber auch irgendwie verstehen und mit Empathie betrachten muss (Opiate, keine family values mehr etc.). Oft wird dann, wie vom britischen Economist, ein »liberalism for the people« gefordert - was auf den ersten Blick an Friedrich Naumanns »Liberalismus der Masse« vom Anfang des 20. Jahrhunderts erinnert, eine Allianz aus Sozialdemokraten und Liberalen. Das meinen die britischen Journalisten aber offenbar nicht: Nur etwas weniger elitär will man sein, geduldiger erklären, warum Liberalismus (für den Economist vor allem: Marktliberalismus) am Ende doch gut für alle sei.

Diese Selbstermunterung - weiter so, nur halt mit mehr Volkspädagogik und vielleicht etwas inklusiver - wird manchen zeitgenössischen Kritikern des Liberalismus besonders übel aufstoßen. Denn sie gehen aufs Ganze. Neben der tagespolitischen Polemik gegen liberale Eliten, die häufig (aber nicht nur) von populistischen Politikern geäußert wird, hat sich ein Fundamental-Antiliberalismus herausgebildet, inklusive einer spezifisch christlich inspirierten Kritik an der »liberalen Moderne«. Hier wird der Liberalismus7 für eine endlose Reihe von Missständen verantwortlich gemacht: Er habe die Menschen isoliert, so dass sie heute zu wahrer Gemeinschaft und Loyalität unfähig seien. Und er homogenisiere im Namen von »Vielfalt«: Der Liberalismus verspreche Toleranz, sei aber intolerant gegenüber allen Lebensformen, die sich liberalen Leitvorstellungen nicht unterwerfen. Man ist für alles offen, nur nicht für das, was eigene Positionen infrage stellt (oder in durchgentrifizierten liberalen Großstadtquartieren irgendwie stört). Die liberalen Eliten moralisierten zwar gegenüber den Massen, würden aber ihrerseits ständig betrügen (sei es auf den Finanzmärkten oder um ihre verhätschelten Kinder ins College zu schmuggeln). Und zu guter Letzt: Der Liberalismus leide nicht nur an solchen Widersprüchen, sondern untergrabe sich letztlich stetig selbst, da er von Voraussetzungen lebe, die er nicht garantieren und schon gar nicht erneuern könne. Die vollends liberale Welt strahle also im Zeichen triumphalen Unheils - und sei trotz aller Triumphe dem Untergang geweiht.

Bei alldem kann es dann nicht mehr verwundern, dass Kritiker wie Thierry Baudet, der niederländische Rechtspopulist mit dezidiert philosophischem Anspruch, fordern, die Menschen müssten jetzt erst einmal gründlich »entliberalisiert« werden.8 Was damit gemeint ist, wird nicht gesagt, wie denn auch allgemein die Hoffnung auf eine »postliberale Zukunft« sich bisher kaum in konkreten politischen Vorstellungen artikuliert - außer der Forderung nach einer Rückkehr in vermeintlich unversehrte illiberale Gemeinschaften, wo man dann der Selbstzerstörung der liberalen Welt harrt.9

Liberalismus wird heute bekanntlich von rechts wie links kritisiert - aber nur weil vermeintliche Extreme sich berühren, heißt das nicht, dass all ihre Argumente falsch sind (es heißt im Übrigen auch nicht, dass man diese Formen von Kritik einfach gleichsetzen kann). Die rechten Antiliberalen offerieren viel, das, mit Verlaub, nicht gerade neu ist. Ob 1830, 1925, 1969, oder 2019 - die authentischen organischen Gemeinschaften und die richtigen Moralvorstellungen sind immer gerade unrettbar verloren gegangen. Und doch geht dann alles irgendwie weiter. Linke haben über unser Zeitalter immerhin etwas Spezifisches zu sagen: Der Liberalismus habe dem Kapitalismus zum globalen Sieg verholfen, jetzt stehe er, in den Worten des Dramaturgen Bernd Stegemann, wie der dumme Gehilfe da: Der Kapitalismus, der sich im Moment seines weltweiten Triumphs in aller Brutalität zeigen darf, brauche ihn nicht mehr (diese Beobachtung ist offensichtlich nicht so sehr ein Update als vielmehr eine Beschwörung des marxschen Arguments, »liberale Redensarten« bemäntelten nur die »realen Interessen der Bourgeoisie«). Theodor W. Adorno hatte noch gemeint, der Melting Pot sei eine Einrichtung des losgelassenen Industriekapitalismus (nur um hinzuzufügen: »Der Gedanke, in ihn hineinzugeraten, beschwört den Martertod, nicht die Demokratie)«; er mache ein (falsches) Versprechen von Gleichheit durch totale Anpassung. Der losgelassene postindustrielle Kapitalismus, so ließe sich schlussfolgern, hat es sich offenbar gut mit dem »liberalen Multikulturalismus« eingerichtet, wo vermeintlich alle divers und doch voll mit dabei sein (und ausgebeutet werden) können.

Eine Einschätzung all dieser Behauptungen hängt offensichtlich davon ab, was man mit »Liberalismus« überhaupt meint. Wie jeder politische Begriff ist auch Liberalismus umkämpft; nur was keine Geschichte hat, kann mal einfach so definiert werden. Der Begriff ist aber vielleicht insofern besonders unklar, als Liberalismus bekanntlich sowohl eine parteipolitische Formation als auch eine viel umfassendere Konstellation von politischen Ideen bezeichnet, eine Tradition von Traditionen (Judith Shklar). Zumindest bis vor wenigen Jahren konnte man sich recht entspannt zurücklehnen mit der Behauptung, viele dieser Traditionen hätten sich in der Moderne totgesiegt (und seien nicht mehr als eigenständige zu erkennen): Wirkliche Antiliberale, die beispielsweise rundheraus den Rechtsstaat oder individuelle Freiheitsrechte ablehnten, gebe es - zumindest im Westen - keine mehr.
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