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Abgrund

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
256 Seiten
Deutsch
Aufbau Verlage GmbHerschienen am16.08.20221. Auflage
»Eine der kraftvollsten neuen Stimmen aus Lateinamerika.« DEUTSCHLANDFUNK KULTUR 

Das heranwachsende Mädchen Claudia ist viel allein. Ihre unglücklich verliebte Mutter verfällt dem Alkohol, der resignierte Vater schweigt sich davon. Was bleibt, ist die Sehnsucht nach einem anderen Leben. Und ein junges Mädchen auf der Suche nach Antworten. Ein herzzerreißender Familienroman vor einer atemberaubenden kolumbianischen Kulisse, in der die Abgründe allgegenwärtig sind. 

»Die kolumbianische Autorin Pilar Quintana legt hinter dem Klischee tiefe menschliche Sehnsüchte und Abgründe frei.« SÜDDEUTSCHE ZEITUNG.

»Pilar Quintana ist eine hellwache Autorin.« TAZ.


Pilar Quintana, Jahrgang 1972, ist eine der bekanntesten und meistgelesenen Autorinnen Lateinamerikas. Ihr Roman 'Abgrund' ('La perra', 2017) markiert einen großen Meilenstein: Er ist der erfolgreichste und meistverkaufte literarische Roman der letzten Jahre in Kolumbien und wurde 2018 mit dem begehrten Premio Biblioteca de Narrativa Colombiana ausgezeichnet. Im Aufbau Verlag ist ebenfalls ihr Roman 'Hündin' lieferbar.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR22,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR16,99

Produkt

Klappentext»Eine der kraftvollsten neuen Stimmen aus Lateinamerika.« DEUTSCHLANDFUNK KULTUR 

Das heranwachsende Mädchen Claudia ist viel allein. Ihre unglücklich verliebte Mutter verfällt dem Alkohol, der resignierte Vater schweigt sich davon. Was bleibt, ist die Sehnsucht nach einem anderen Leben. Und ein junges Mädchen auf der Suche nach Antworten. Ein herzzerreißender Familienroman vor einer atemberaubenden kolumbianischen Kulisse, in der die Abgründe allgegenwärtig sind. 

»Die kolumbianische Autorin Pilar Quintana legt hinter dem Klischee tiefe menschliche Sehnsüchte und Abgründe frei.« SÜDDEUTSCHE ZEITUNG.

»Pilar Quintana ist eine hellwache Autorin.« TAZ.


Pilar Quintana, Jahrgang 1972, ist eine der bekanntesten und meistgelesenen Autorinnen Lateinamerikas. Ihr Roman 'Abgrund' ('La perra', 2017) markiert einen großen Meilenstein: Er ist der erfolgreichste und meistverkaufte literarische Roman der letzten Jahre in Kolumbien und wurde 2018 mit dem begehrten Premio Biblioteca de Narrativa Colombiana ausgezeichnet. Im Aufbau Verlag ist ebenfalls ihr Roman 'Hündin' lieferbar.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783841230287
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2022
Erscheinungsdatum16.08.2022
Auflage1. Auflage
Seiten256 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.9142866
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe




In unserer Wohnung gab es so viele Pflanzen, dass wir sie den Urwald nannten.

Das Gebäude schien einem alten futuristischen Film zu entstammen. Flache Formen, schwebende Elemente, viel Grau, große offene Räume, Panoramafenster. Das Wohnzimmerfenster unserer Maisonette-Wohnung erstreckte sich vom Boden bis zur Zimmerdecke, die an dieser Stelle zwei Stockwerke hoch aufragte. Unten bestand der Boden aus schwarzem Granit mit weißer Maserung. Oben aus weißem Granit mit schwarzer Maserung. Die Treppe hatte ein Geländer aus schwarzen Stahlrohren und glatt geschliffene Stufen. Eine kahle Treppe voller Lücken. In der oberen Etage war der Flur zum Wohnzimmer hin offen, wie ein Balkon, das Geländer bestand aus den gleichen Rohren wie das der Treppe. Von dort betrachtete man den Urwald darunter, der sich ringsum ausbreitete.

Die Pflanzen befanden sich auf dem Boden, auf den Tischen, auf der Stereoanlage und der Anrichte, zwischen den Möbeln, auf schmiedeeisernen Podesten, in Tontöpfen, baumelten von den Wänden und der Decke, standen auf den unteren Treppenstufen und an den Orten, die man vom Obergeschoss nicht sah: in der Küche, im Waschraum und im Gästebad. Es gab alle möglichen Arten von Pflanzen. Solche, die Sonnenlicht brauchten, Schattengewächse und Wasserpflanzen. Einige wenige, die Flamingoblumen und die weißen Vogelorchideen, hatten Blüten. Alle anderen waren Grünpflanzen. Glatte und krause Farne, Pflanzen mit gestreiften, gefleckten oder farbigen Blättern, Palmen, Sträucher, gewaltige Bäume, die in Blumenkübeln gut gediehen, und zarte Kräuter, die in meine Mädchenhand passten.

Wenn ich durch die Wohnung lief, kam es mir manchmal so vor, als reckten sich die Pflanzen, um mich mit ihren Blättern zu berühren, als wären es Finger, und als machten sich die größten, in einem Wald hinter dem Dreiersofa, einen Spaß daraus, die Menschen, die dort saßen, zu umschlingen oder mit einer leichten Berührung zu erschrecken.

Auf der Straße standen zwei Trompetenbäume, auf die man vom Balkon und vom Wohnzimmer blickte. Während der Regenzeit verloren sie ihre Blätter und bedeckten sich mit rosaroten Blüten. Die Vögel hüpften von den Trompetenbäumen auf den Balkon. Die mutigsten unter ihnen, die Kolibris und Trauertyrannen, wagten sich bis ins Esszimmer vor, um es zu erkunden. Die Schmetterlinge flatterten furchtlos vom Esszimmer ins Wohnzimmer. Manchmal stahl sich abends eine Fledermaus herein, in tiefem Flug und scheinbar orientierungslos. Meine Mama und ich kreischten. Mein Papa griff nach einem Besen und blieb reglos in der Mitte des Urwalds stehen, bis die Fledermaus wieder dort hinausflog, wo sie hereingekommen war.

Nachmittags blies ein kühler Wind von den Bergen herunter und durchquerte Cali. Er rüttelte die Trompetenbäume wach, wehte durch die offenen Fenster herein und schüttelte die Pflanzen drinnen. Ein lärmendes Durcheinander erhob sich, wie unter den Besuchern eines Konzerts. In der Abenddämmerung goss meine Mama die Pflanzen. Das Wasser füllte die Blumentöpfe, sickerte durch die Erde, rann durch die Löcher und plätscherte wie ein Bach in die tönernen Untertöpfe.

Ich liebte es, durch den Urwald zu laufen und zu spüren, wie mich die Pflanzen sanft berührten, mittendrin stehen zu bleiben, die Augen zu schließen und zu lauschen. Dem herabrinnenden Wasser, dem Raunen des Windes, den aufgeregten, durchgeschüttelten Zweigen. Und ich liebte es, die Treppe hinaufzustürmen und ihn von der oberen Etage zu betrachten, wie vom Rande eines Abgrunds, als wären die Stufen eine zerklüftete Felsschlucht. Unseren üppigen wilden Urwald dort unten.

Meine Mama war immer zu Hause. Sie wollte nicht wie ihre eigene Mutter sein. Das sagte sie mir immer und immer wieder.

Meine Großmutter schlief immer bis zum späten Vormittag, und meine Mama ging zur Schule, ohne sie vorher gesehen zu haben. Nachmittags spielte meine Großmutter mit ihren Freundinnen lulo und war an vier von fünf Tagen nicht zu Hause, wenn meine Mama von der Schule zurückkam. Und an dem einen Tag war sie nur deshalb da, weil sie an der Reihe war, das Kartenspiel bei sich auszurichten. Acht Frauen umringten den Esstisch, rauchten, lachten, legten Karten ab und aßen pandebonos, kleine Brötchen mit Käsefüllung. Meine Großmutter sah meine Mama nicht einmal an.

Als sie einmal im Club waren, hörte meine Mama, wie eine Frau meine Großmutter fragte, warum sie keine weiteren Kinder bekommen habe.

»Ach, meine Liebe«, antwortete meine Großmutter, »wenn ich es hätte verhindern können, hätte ich die hier auch nicht bekommen.«

Die beiden Frauen brachen in schallendes Gelächter aus. Meine Mama war gerade aus dem Schwimmbecken gekommen und triefte vor Wasser. Es fühlte sich an, erzählte sie mir, als ob sich eine Hand in ihren Brustkorb bohrte und ihr das Herz herausriss.

Mein Großvater kehrte immer am späten Nachmittag von der Arbeit heim. Er umarmte meine Mama, kitzelte sie und fragte, wie ihr Tag gewesen sei. Ansonsten wuchs sie unter der Aufsicht der Hausangestellten auf, die rasch aufeinanderfolgten, weil meine Großmutter mit keiner zufrieden war.

Auch bei uns blieben die Hausangestellten nie lange.

Yesenia kam aus dem Amazonas-Regenwald. Sie war neunzehn Jahre alt, hatte glattes Haar, das ihr bis zur Taille reichte, und die gleichen groben Gesichtszüge wie die Steinstatuen im archäologischen Park von San Agustín. Wir verstanden uns auf Anhieb.

Meine Schule lag nur wenige Straßenzüge von unserem Haus entfernt. Yesenia brachte mich morgens zu Fuß hin und wartete nachmittags am Ausgang auf mich. Unterwegs erzählte sie mir von ihrer Heimat. Von den Früchten, den Tieren, den Flüssen, die breiter waren als jede Allee.

»Das«, sagte sie und deutete auf den Río Cali, »ist kein Fluss, sondern ein Bach.«

An einem Nachmittag gingen wir direkt in ihr Zimmer. Eine Kammer neben der Küche, mit einer Toilette und einem winzigen Fenster. Wir setzten uns aufs Bett, einander gegenüber. Yesenia hatte mir erzählt, dass sie kein einziges Klatsch- und Singspiel kannte. Ich brachte ihr mein Lieblingslied bei, das von den Puppen aus Paris. Sie vertat sich ständig, und wir krümmten uns vor Lachen. Da erschien meine Mama in der Tür.

»Claudia, komm bitte nach oben.«

Sie war furchtbar ernst.

»Was ist los?«

»Du sollst nach oben kommen, habe ich gesagt.«

»Wir spielen gerade.«

»Bring mich nicht dazu, es noch einmal zu sagen.«

Ich sah Yesenia an. Ihr Blick gab mir zu verstehen, dass ich gehorchen sollte. Ich unterbrach unser Spiel und verließ das Zimmer. Meine Mama griff sich meinen Schulranzen. Wir gingen nach oben, betraten mein Zimmer, und sie schloss die Tür.

»Ich will dich nie wieder so vertraulich mit ihr sehen.«

»Mit Yesenia?«

»Mit keiner Hausangestellten.«

»Warum denn nicht?«

»Weil sie eine Hausangestellte ist.«

»Und was macht das?«

»Sie wachsen einem ans Herz, und dann gehen sie wieder.«

»Yesenia hat niemanden in Cali. Sie kann für immer bei uns bleiben.«

»Ach, Claudia, sei nicht so naiv.«

Wenige Tage später verschwand Yesenia, ohne sich zu verabschieden, während ich in der Schule war.

Meine Mama sagte, Yesenia habe einen Anruf aus Leticia erhalten und sei zu ihrer Familie zurückgekehrt. Ich hatte den Verdacht, dass das nicht stimmte, aber sie beharrte auf ihrer Version.

Als Nächste kam Lucila zu uns, eine ältere Frau aus der Provinz Cauca, die sich gar nicht mit mir abgab und länger als alle anderen Hausangestellten bei uns blieb.

Vormittags, während ich in der Schule war, kümmerte sich meine Mama um ihre Hausfrauenpflichten. Die Einkäufe, die Erledigungen, die Rechnungen. Mittags holte sie meinen Papa vom Supermarkt ab, und sie aßen gemeinsam. Nachmittags nahm er das Auto mit zur Arbeit, und sie blieb zu Hause und wartete auf mich.

Wenn ich von der Schule zurückkam, traf ich sie meist im Bett an, mit...


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Autor

Pilar Quintana, Jahrgang 1972, ist eine der bekanntesten und meistgelesenen Autorinnen Lateinamerikas. Ihr Roman "Abgrund" ("La perra", 2017) markiert einen großen Meilenstein: Er ist der erfolgreichste und meistverkaufte literarische Roman der letzten Jahre in Kolumbien und wurde 2018 mit dem begehrten Premio Biblioteca de Narrativa Colombiana ausgezeichnet.
Im Aufbau Verlag ist ebenfalls ihr Roman "Hündin" lieferbar.