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Der Erlkönig

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
420 Seiten
Deutsch
Ullstein Taschenbuchvlg.erschienen am29.03.2021Auflage
Er kommt des Nachts - und nimmt dich mit Wenige Tage nachdem Sandrine zu der Insel aufgebrochen ist, auf der ihre verstorbene Großmutter gelebt hat, findet man sie verstört und mit fremdem Blut an ihren Kleidern am Strand. Sie wird ins Krankenhaus eingeliefert. Was sie erzählt, ist wirr. Kommissar Damien kann sich keinen Reim darauf machen. Von welchem Kinderheim spricht Sandrine? Was hat es mit dem Bootsunglück auf sich, bei dem alle Kinder ums Leben gekommen seien sollen? Und weshalb stammelt sie immer wieder voller Schrecken diesen einen Namen: der Erlkönig? Damien folgt den Puzzleteilen von Sandrines Geschichte - und blickt schon bald in einen Abgrund, der dunkler ist als jede Nacht...

Jérôme Loubry, geboren 1976, lebt nach Stationen im Ausland heute in der Provence. Für Die Hunde von Detroit, sein Debüt, hat er 2018 den Prix Plume libre d'Argent gewonnen. Der Erlkönig wurde 2019 mit dem Prix Cognac du meilleur roman francophone, einem der renommiertesten Krimipreise Frankreichs, ausgezeichnet. Er gilt als der aufsteigende Stern am französischen Krimihimmel.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR10,99
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR9,99

Produkt

KlappentextEr kommt des Nachts - und nimmt dich mit Wenige Tage nachdem Sandrine zu der Insel aufgebrochen ist, auf der ihre verstorbene Großmutter gelebt hat, findet man sie verstört und mit fremdem Blut an ihren Kleidern am Strand. Sie wird ins Krankenhaus eingeliefert. Was sie erzählt, ist wirr. Kommissar Damien kann sich keinen Reim darauf machen. Von welchem Kinderheim spricht Sandrine? Was hat es mit dem Bootsunglück auf sich, bei dem alle Kinder ums Leben gekommen seien sollen? Und weshalb stammelt sie immer wieder voller Schrecken diesen einen Namen: der Erlkönig? Damien folgt den Puzzleteilen von Sandrines Geschichte - und blickt schon bald in einen Abgrund, der dunkler ist als jede Nacht...

Jérôme Loubry, geboren 1976, lebt nach Stationen im Ausland heute in der Provence. Für Die Hunde von Detroit, sein Debüt, hat er 2018 den Prix Plume libre d'Argent gewonnen. Der Erlkönig wurde 2019 mit dem Prix Cognac du meilleur roman francophone, einem der renommiertesten Krimipreise Frankreichs, ausgezeichnet. Er gilt als der aufsteigende Stern am französischen Krimihimmel.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783843723657
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2021
Erscheinungsdatum29.03.2021
AuflageAuflage
Seiten420 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse3573 Kbytes
Artikel-Nr.5452291
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

1
1949

Voller Entschlossenheit warf Valérie den Stock. Er beschrieb einen hohen Bogen, spottete der grauen Wolken, ehe er wieder in den Sand fiel. Sofort jagte der beigefarbene Labrador ihm nach, hob ihn auf, wedelte vergnügt mit dem Schwanz und rannte dann zu seinem Frauchen zurück, das mit lässigen Schritten über den Strand lief.

»Na los! Bring ihn her!«

Valérie beugte sich nach unten, lobte ihren Vierbeiner und warf das Stück Treibholz abermals. Der Wind des beginnenden Herbstes trieb eine kühle, sanfte Brise herbei. Das Ufer war erfüllt vom Geruch nach Salz und Meeresalgen, die von den Fluten angespült wurden, während das fahle Licht einer noch halb verschlafenen Sonne die tiefhängende Wolkendecke nur mit Mühe durchbrach.

Jeden Morgen gingen Valérie und ihr zweijähriger Hund Gus am Meer spazieren. Ein unveränderliches Ritual. Ob es windete oder regnete. Dieser tägliche Spaziergang war für die junge Frau nicht nur ein Moment der Zweisamkeit, er erlaubte es ihr vor allem, die Freiheit, die sie viel zu viele Jahre entbehrt hatte, tief in sich einzuatmen.

Valérie überließ den Labrador einen Moment sich selbst und wandte sich den Wellen zu, die sanft zu ihren Füßen heranrollten.

Sie schloss die Augen und lauschte.

Nichts.

Nichts außer dem Dröhnen des Wellengangs und den Schreien der Möwen.

Keine Stuka der Deutschen, deren Heulen die Wolken durchbrach.

Kein bedrückendes Schweigen wie jenes, das den todbringenden Sinkflug einer reißenden Granate begleitete.

Keine Flugabwehrsirene, die die Bewohner mahnte, sich in ihre Keller zu flüchten.

Kein resigniertes Murmeln der Menschen um sie herum, die sich alle in Behelfsschutzräumen zusammendrängten und es nicht wagten, den Kopf zu heben, aus Angst, ein einziger vor Entsetzen und Todesangst matter Blick könnte den schrecklichen Blitz auf sich ziehen.

Valérie seufzte, während sich ein Lächeln auf ihren Lippen abzeichnete. Sie öffnete die Augen wieder und sah zu dem winzigen Umriss einer Insel weiter draußen im Meer, die sich in den Nebel schmiegte, dann drehte sie sich zu den Häusern an der Strandpromenade um. Ihr Gesicht verfinsterte sich. Ein Schleier aus Schmerzen und Erinnerungen überzog ihre Stirn mit Falten, doch wie versprochen - sie hatte es sich eine Stunde zuvor, als sie die Jacke anzog, wieder und wieder gesagt - würde sie nicht weinen. Die Wunden des Krieges waren nicht alle mit der Befreiung verheilt. Zerbrochene Fenster, durchlöcherte Fassaden, zerstörte Dächer ... Es braucht Zeit, viel Zeit, um das Nichts zu reparieren, dachte sie angesichts der Ruinen.

Ein Bellen holte sie genau in dem Moment aus ihren Gedanken, als die Traurigkeit drohte, sie vollends einzunehmen. Gus hatte sich wenige Meter von ihr entfernt hingelegt und rührte sich nicht mehr, anscheinend erschreckt von der Möwenschar, die über dem Strand schwebte und unweit von ihm im Sturzflug nach unten stieß.

Valérie trat zu ihm, kauerte sich neben ihn und streichelte ihn.

»Hast du etwa Angst vor ein paar Vögeln?«, murmelte sie spöttisch.

Doch es waren wirklich viele Möwen. Als sie ihnen dabei zusah, wie sie in den Himmel hinaufstiegen und dann wieder zum Strand herunterjagten, wurde sie neugierig. Für gewöhnlich waren Möwen immer in kleinen Gruppen von zehn, manchmal auch zwanzig Tieren unterwegs, nur selten waren es mehr. Zumindest nicht ihres Wissens. Doch in diesem Moment, und darauf hätte sie wetten können, bevölkerten etwa hundert Exemplare den Himmel mit ihren Flügelschlägen und ihrem Kreischen.

Was ist denn dort los?, fragte sie sich, als sie sich erhob. Meinetwegen kannst du gerne hierbleiben, du kleiner Angsthase. Ich sehe mir das mal genauer an.

Die junge Frau ließ ihren Hund zurück, der ein klagendes Winseln ausstieß, das über das Lachen der Möwen hinweg jedoch kaum zu hören war. Sie ging auf die größte Ansammlung zu, gleich am Uferrand. Einer Gewohnheit folgend, wie damals, als sie allein durch die Straßen ihres Viertels gelaufen war, das Heft mit den Marken in der Hand, um etwas Essbares für ihre Mutter und ihre Brüder zu ergattern, ließ sie ihren Blick schweifen, um sich zu vergewissern, dass von nirgendwo Gefahr drohte.

Keiner da.

Die Umgebung war noch dieselbe: auf der einen Seite die stummen Ruinen und auf der anderen das Meer, kalt und träge, diese Insel weiter draußen, kaum zu sehen, die von hier einem winzigen Kieselstein ähnelte. Die beunruhigenden Schatten, die die hintersten Winkel der Stadt heimsuchten, hatten sich mit dem Eintreffen der Amerikaner seit Langem verzogen. Die Blicke, die man erahnt hatte, während man durch die Straßen streifte - feindselige oder erschreckte Blicke, es war damals ziemlich schwierig, sie auseinanderzuhalten - lasteten nicht mehr wie einst auf ihr, als sie nur mit eingezogenen Schultern herumgelaufen war, um weniger aufzufallen.

Die Freiheit erlaubte es ihr inzwischen, aufrecht und ohne Furcht am Strand entlangzuschlendern. Doch sie befreite sie noch nicht von ihren alten Reflexen als Verfolgte.

Valérie war nur noch etwa zehn Meter von den Möwen entfernt.

Unvermittelt flogen sie auf, bestimmt überrascht von ihrer Gegenwart, die sie zunächst gar nicht wahrgenommen hatten. Dann jedoch, vermutlich weil sie ihre Beschäftigung als wichtig genug erachteten, um sich jeder Gefahr zu stellen, stießen sie laut kreischend wieder nach unten auf den Sand, elegant und voller Entschlossenheit. Kaum hatten sie sich erneut auf ihrem rätselhaften Schatz niedergelassen - Valérie meinte, während ihres Auffliegens kurzzeitig einen Baumstamm erkannt zu haben -, pickten die Vögel drohend nach ihren Artgenossen, kreischten vor Unwillen, beschimpften sich mit weit ausgebreiteten Flügeln und kämpften gegeneinander. Angesichts dieses Gebarens lag der Gedanke nahe, dass ihre Wut den Tod zum Ziel hatte, nicht das Überleben. Aus einer unerklärlichen Mimese heraus ahmten sie die Menschen nach, bekriegten einander, wie es auch die Kinder taten, die sie in den Straßen antraf, und die vor einer täuschend echten Kulisse Soldaten spielten.

Sind nach den Menschen jetzt auch noch die Vögel verrückt geworden?

Das Frauchen von Gus, der noch immer auf dem Sand lag und ihr Tun aus furchtsamen Augen verfolgte, blieb reglos stehen, um diese eigenartige Fieberhaftigkeit zu beobachten. Ein flüchtiges Bild bohrte sich Valérie jedoch wie ein eisiger Stachel in die Wirbelsäule, unten im Rücken. Die Kälte zog von dort durch ihren Körper nach oben, bis hinauf zu ihren Lippen, die, wie taub von dem Schrecken, den sie noch nicht benennen konnten, die Worte ausstießen: Das kann nicht wahr sein.

»Das kann nicht wahr sein.«

Dieser Satz hatte all seine Grundlagen verloren. Die Vorstellung der Unmöglichkeit war geschändet worden, verstümmelt von der menschlichen Natur. Die auf die Bevölkerung abgeworfenen Bomben. Die Frauen, die von den Soldaten missbraucht und in den Trümmern zurückgelassen worden waren. Die Kinder, die ihre ausgehungerten Ärmchen zwischen den Gittern eines Eisenbahnwaggons herausgestreckt hatten ...

Nichts war mehr unmöglich. Der Krieg hatte auch die Worte verwüstet.

Dennoch wiederholte sie diesen Satz abermals, ohne sich dessen bewusst zu sein, wie ein pawlowscher Reflex, der einer primitiven Not entsprang.

Der zuvor geworfene Stock lag zu ihren Füßen. Zitternd ergriff sie ihn und ging noch ein paar Schritte weiter. Der Gestank war derart unerträglich, dass sie sich nach vorn beugte und sich erbrach. Ihr Würgen brachte jedoch nur Galle hervor. Valérie richtete sich wieder auf, wischte sich mit dem Handrücken die Tränen ab und starrte wütend auf diese Heerschar vor sich. Das sind nur Vögel, wiederholte sie für sich selbst, um sich Mut zu machen, du hast dich schon Schlimmerem gestellt und überlebt, also geh schon, nur nachsehen ...

Sie reckte ihren Stock in die Höhe und rannte auf die Möwen zu, schrie dabei, so laut sie konnte.

Umgehend war das Rauschen von Dutzenden Flügelpaaren zu hören, in einer gemeinsamen Flucht flogen die Vögel auf und verzogen sich mit lautem, verdrießlichem Gekrächze Richtung offene See. Ein paar Furchtlosere begnügten sich mit einem vorübergehenden Rückzug, machten nur ein paar Hüpfer auf ihren dünnen Füßen und starrten Valérie neugierig an, zwei oder drei Meter von dem Leichnam entfernt, den das entschwundene gefiederte Leichentuch entblößt hatte.

»Grundgütiger«, keuchte sie, als sie den unvollständigen Leichnam entdeckte.

Ein Arm fehlte, genau wie ein Teil eines Beines. Das Gesicht war dem Sand zugewandt. Lange, algenartige Haarsträhnen lagen um den Kopf. Die durchscheinende Haut war von unzähligen Wunden übersät, ganz bestimmt waren sie den vielen Schnabelhieben zuzuschreiben oder aber den gierigen Bissen der Raub­fische.

Langsam schritt die junge Frau rückwärts. Sie warf einen kurzen Blick nach links, zu den Gebäuden, auf der Suche nach einem Ort, an den sie sich flüchten...
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Jérôme Loubry, geboren 1976, lebt nach Stationen im Ausland heute in der Provence. Für Die Hunde von Detroit, sein Debüt, hat er 2018 den Prix Plume libre d'Argent gewonnen. Der Erlkönig wurde 2019 mit dem Prix Cognac du meilleur roman francophone, einem der renommiertesten Krimipreise Frankreichs, ausgezeichnet. Er gilt als der aufsteigende Stern am französischen Krimihimmel.