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Spurlos in Neapel

E-BookEPUB0 - No protectionE-Book
250 Seiten
Deutsch
Rotpunktverlagerschienen am12.10.20221. Auflage 20221
Was wäre in Neapel aus ihm geworden, in der Stadt seiner Eltern? Als Kind plagte ihn die Angst, die Schweiz und alle seine Freunde verlassen zu müssen. Darum war es für ihn wie eine Befreiung, als 1980 in Süditalien die Erde bebte und innerhalb von neunzig Sekunden die Rückkehrpläne der Eltern in Schutt und Asche lagen. Nach dem Tod des Vaters, viele Jahre später, begibt sich der Erzähler auf Spurensuche nach Neapel, eine Stadt, deren Sprache er spricht, deren Gesetze ihm aber fremd sind. Auf einer Restaurantterrasse mit Blick auf den Golf von Neapel hört er zum ersten Mal den Namen Antonio Esposito. Ein Allerweltsname, aber dieser Antonio Esposito ist anders, ist ein gestohlenes Migrantenkind aus Westafrika, das in einen Camorra-Clan aufgenommen wurde, eine kriminelle Karriere machte und dann spurlos verschwand. Das mögliche Schicksal des schwarzen Camorrista lässt den Erzähler nicht mehr los. Immer wieder kehrt er nach Neapel zurück, sieht sein verpasstes Leben mehr und mehr in dem von Antonio verwirklicht. Aber was ist aus Antonio geworden? Ist er tot? Hat er eine neue Identität angenommen? Oder lebt er im hoffnungslos überfüllten Castel Volturno als Namenloser unter Tausenden von afrikanischen Migranten?

Franco Supino, 1965 geboren in Solothurn, wuchs als Kind italienischer Eltern zweisprachig auf. Er studierte in Zürich und Florenz Germanistik und Romanistik. Supino ist Dozent an der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz und freier Autor. Sein erster Roman Musica Leggera erschien 1995. Es folgten fünf weitere Romane, in denen Supino die eigene Migrationsgeschichte und verschiedene Künstlerbiografien erzählerisch erforscht. In den letzten zehn Jahren hat er sich vermehrt der Kinder- und Jugendliteratur zugewandt. Supino lebt mit seiner Familie in Solothurn.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR29,00
E-BookEPUB0 - No protectionE-Book
EUR22,99

Produkt

KlappentextWas wäre in Neapel aus ihm geworden, in der Stadt seiner Eltern? Als Kind plagte ihn die Angst, die Schweiz und alle seine Freunde verlassen zu müssen. Darum war es für ihn wie eine Befreiung, als 1980 in Süditalien die Erde bebte und innerhalb von neunzig Sekunden die Rückkehrpläne der Eltern in Schutt und Asche lagen. Nach dem Tod des Vaters, viele Jahre später, begibt sich der Erzähler auf Spurensuche nach Neapel, eine Stadt, deren Sprache er spricht, deren Gesetze ihm aber fremd sind. Auf einer Restaurantterrasse mit Blick auf den Golf von Neapel hört er zum ersten Mal den Namen Antonio Esposito. Ein Allerweltsname, aber dieser Antonio Esposito ist anders, ist ein gestohlenes Migrantenkind aus Westafrika, das in einen Camorra-Clan aufgenommen wurde, eine kriminelle Karriere machte und dann spurlos verschwand. Das mögliche Schicksal des schwarzen Camorrista lässt den Erzähler nicht mehr los. Immer wieder kehrt er nach Neapel zurück, sieht sein verpasstes Leben mehr und mehr in dem von Antonio verwirklicht. Aber was ist aus Antonio geworden? Ist er tot? Hat er eine neue Identität angenommen? Oder lebt er im hoffnungslos überfüllten Castel Volturno als Namenloser unter Tausenden von afrikanischen Migranten?

Franco Supino, 1965 geboren in Solothurn, wuchs als Kind italienischer Eltern zweisprachig auf. Er studierte in Zürich und Florenz Germanistik und Romanistik. Supino ist Dozent an der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz und freier Autor. Sein erster Roman Musica Leggera erschien 1995. Es folgten fünf weitere Romane, in denen Supino die eigene Migrationsgeschichte und verschiedene Künstlerbiografien erzählerisch erforscht. In den letzten zehn Jahren hat er sich vermehrt der Kinder- und Jugendliteratur zugewandt. Supino lebt mit seiner Familie in Solothurn.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783858699688
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format Hinweis0 - No protection
FormatE101
Erscheinungsjahr2022
Erscheinungsdatum12.10.2022
Auflage1. Auflage 20221
Seiten250 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1408 Kbytes
Artikel-Nr.9957468
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

1.

Wie hättest du dich in dieser Gesellschaft, der du glücklicherweise entronnen warst, je wieder zurechtfinden wollen, Vater? Diesem dichten Geflecht von Abhängigkeiten und Begünstigungen, in dem jeder, der nicht dazugehört, der keine Beziehungen hat, mit dem Kopf gegen Wände schlägt.

Ich war noch ein Kind und hatte jeden Sommer nur einen Monat Zeit, um diese Welt zu studieren. Ich beobachtete Mario, unseren überübernächsten Nachbarn, der die zweitschönste Villa nach unserer an der Via Nazionale besaß. Wenn man fragte, was Mario, genannt o Nzurduso, der Aufbrausende, mache, zuckten alle vielsagend mit den Schultern. Seine Frau, die schwermütige Ninella, und seine Tochter, die hysterische Loredana, ließ er wochenlang allein. Ninella machte im Basso, dem Tiefparterre, aus Hartweizengrieß Fusilli, Orecchiette und Cannelloni. Sie stellte sie zum Trocknen vors Haus, die Vorbeifahrenden hielten an und ließen sich die Pasta in Tüten füllen. Loredana hörte man von weitem im Haus schreien, oder man sah sie überschminkt, von den vielen Medikamenten völlig neben der Spur, auf einem Korbstuhl neben den ausgestellten Teigwaren sitzen und rauchen. Loredana war höchstens Anfang dreißig, Ninella hatte die Hoffnung aufgegeben, sie noch zu verheiraten.

Ab und zu fuhr Mario o Nzurduso mit seinem Tross ein: gut gekleidete Advokaten, kräftige Jünglinge, leichte Mädchen. Ninella musste alles stehen und liegen lassen, um die Gesellschaft fürstlich zu bekochen. Bis tief in die Nacht hörte man an diesen Abenden aus dem Garten hinter dem Haus polternde Ansprachen und quietschendes Gelächter, bis im Morgengrauen Autotüren zugeknallt wurden, Motoren aufheulten und die schicken Autos einzeln wieder davonfuhren. Mario o Nzurduso, dessen Freundschaft sich mein Nonno rühmte, galt allen als Vorbild. Er hatte, was ein richtiger Mann hier besaß: Geld, Einfluss und Schwierigkeiten mit der Justiz.

Ich fragte mich oft, warum auch mein Nonno den Kaffee ans Tischchen vor der Bar serviert bekam und nie bezahlte. Und das, obwohl seine Lirebündel weithin sichtbar aus seiner Brusttasche quollen. Warum er im Vorbeigehen in die Kühltruhe griff, mir ein Gelato reichte und Zia Gelsomina, wie ich die Barbesitzerin nennen durfte, dazu unterwürfig lächelte.

»Wie geht das?«, fragte ich Nonno. »In der Schweiz muss man, wenn man sich etwas nimmt, dafür bezahlen. Überall, immer!«

»Ich bezahle«, lachte Nonno mich aus, »jeder bezahlt hier, keine Sorge!«

Als ich einmal zu meinem Geburtstag - er fiel mitten in die Sommerferien, die ich wie immer in Süditalien verbrachte - von meiner ehemaligen Tagesmutter ein Päckchen aus der Schweiz erhielt, riss Nonno die Packung auf und reichte dem Postboten, der erwartungsvoll das Fenster seines Dienstautos heruntergekurbelt hatte, lächelnd die Hälfte der darin enthaltenen Schokoladetafeln. Ich schaute der Szene ungläubig zu. »Das gehört mir! Alles!«, rief ich. Der Postbote lächelte zurück, kurbelte das Fenster hoch und gab Gas. Was maßte sich Nonno an! Ich schrie ihn an, die Schokolade habe mir mein »Mueti« geschickt. Ich trat gegen seinen Stock, gegen den Stuhl, auf dem er vor der Tür saß. Nonno befahl meine Mamma zu sich. »Schaff ihn mir vom Hals. Warum flennt er wie ein Femminiello?« Ein ärgeres Schimpfwort als femminiello, das ungefähr »Heulsuse« oder »Weichei« bedeutet, gab es für einen Knaben nicht.

»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte Mamma ängstlich und zog mich weg.

Ich war außer mir. Mutter verlangte sofort Ruhe, ich solle mich benehmen, es sei eine Schande, wie ich mich Nonno gegenüber verhalten habe. Und dann, versöhnlich, ich müsse von der restlichen Schokolade nichts abgeben. »Alles für dich. Gut?« Es waren acht Tafeln.

Gar nicht gut, fand ich. Es ging nicht um viel oder wenig Schokolade für mich, es ging um Gerechtigkeit. Ich malte mir Rache aus. Vielleicht, wenn der Postbote wieder vorfuhr, anspucken? Pneu aufschlitzen?

Wir reisten ab, bevor ich zu Handlungen schreiten konnte. Doch das änderte nichts daran, dass ich mir schwor, ich würde es mit denen dort unten aufnehmen. Nicht so wie Vater und Mutter! Ich hätte den Frevel gesühnt, Nonno hin, Neapel her.

Ich hatte nämlich längst alles durchschaut. Warum Onkel Gigi, der als Gerichtspolizist arbeitete, eines Abends auf dem Nachhauseweg angeschossen worden war. Es gab eine Untersuchung, die im Sand verlief, und innerhalb der Familie wurde der Vorfall totgeschwiegen.

Oder was es mit dem immer spendablen Nino, dem Besitzer des immer voll besetzten Ristorante o Pagliarone mit dem riesigen, immer vollgeparkten Kundenparkplatz hinter dem Restaurant, auf sich hatte. Nonna war Ninos Amme gewesen, deshalb nannte er sie Mamma. Er schaute öfters vorbei und warf dabei ein Auge auf Zia Virgilia, die jüngste Schwester meiner Mutter. Seine Gefühle wurden erwidert, Abend für Abend kam Nino vorbei, schaute der Nonna und der Zia zu, die im Basso für Ninella Teigwaren machten, beim Anrühren des Mehls, beim Auswallen der Klumpen, beim Ziehen der Schnüre. Nino wartete, bis Virgilia sich frisch machte, sich parfümierte. Dann spazierten sie, Nino und Virgilia, Arm in Arm die Via Nazionale hoch. Bis sich Ninos Familie einmischte. Die Tochter der Amme! Das war nicht auf ihrem Niveau.

Dass das Drama öffentlich aufgeführt wurde, änderte nichts am Ausgang der Geschichte. Nino heiratete die Tochter eines Großgrundbesitzers aus Mugnano del Cardinale, Zia Virgilia den erstbesten Pastakunden von Ninella, einen unscheinbaren Migranten aus der Alta Irpinia, der zufällig vorbeifuhr, anhielt, sich sofort in Virgilia verguckte, sich beim Bezahlen erkundigte, ob das Mädchen noch zu haben sei, sich traute, Virgilia anzusprechen, und zu seiner Überraschung sofort den Zuschlag bekam. »Per me va bene«, habe Zia Virgilia gesagt, »für mich geht das in Ordnung«, Hauptsache, sie kam weg, schnell weg von Nino und dem Dorf. Die beiden haben sich dann ins Ausland, in die Schweiz, abgesetzt.

Der steinreiche Nino hielt mit seinem Cabriolet weiterhin ab und zu vor dem Haus der Nonna an, übergab, nach einem kurzen Schwatz, Nonno eine Flasche hochwertigen Aglianico del Vulture oder ein in Wachstuch geschlagenes, gut abgehangenes Stück Rindfleisch aus Ariano. An der Spanferkel-Versteigerung, dem Höhepunkt des jährlichen Dorffests, wenn es darum ging, die Kosten für die Gratiskonzerte auf der Piazza Sant Anna zu decken, trieb Nino den Preis in schwindelerregende Höhen. Er bezahlte bar, mit Bündeln von Lirescheinen, die der Auktionator mit hoch erhobenen Armen der staunenden Menge vorführte. Das Dorffest zu Ehren von Sant Anna findet am 26. Juli statt, während der Sommerferien. Ich erinnere mich, dass es zum Abschluss des Heiligenfests jedes Jahr ein einstündiges prachtvolles Feuerwerk gab, inszeniert von den bekanntesten Feuerwerkmeistern aus Neapel. Das allein kostete mehrere Millionen Lire. »Nino zahlt«, sagte Nonno, stolz auf seinen Beinahe-Sohn.

Wie kann man mit einem Restaurant, das fusilli al forno, mit Mozzarella überbackene Teigwaren, und carne alla brace, Grillfleisch, seine Spezialität nennt, so unermesslich reich werden? Eines Sommers war der Pagliarone nur noch Schutt und Asche. Nino, im Gefängnis, wartete auf seinen Prozess. Niemand sagte etwas dazu, ich musste mir die Erklärung selbst geben.

In gleichen Jahr wurde ein anderer Nachbar, er hieß Vito o Carcerato, der Zuchthäusler, nach fünfundzwanzig Jahren Haft vorzeitig entlassen. Er kehrte zu seiner Frau Mirta, die all die Jahre auf ihn gewartet hatte, zu seinen beiden Eselinnen und zu seiner Arbeit in den Haselnusshainen zurück. Ich wusste, dass er in jungen Jahren im Dienste einer Camorrafamilie gestanden hatte und an der Tötung von Mitgliedern eines rivalisierenden Clans beteiligt gewesen war. Ich hatte in der Schweiz noch nie einen Mörder gesehen. Vitos Bartstoppeln pieksten, denn natürlich mussten wir Kinder ihn, wie alle Erwachsenen hier, zur Begrüßung küssen.

Vito zog gleich nach Tagesanbruch mit einer der Eselinnen los, also lange bevor ich wach war. »Esel muss man immer zu zweit halten«, erklärte uns Mirta, »einzeln gehen sie vor Einsamkeit ein.« Die zweite, jüngere Eselin stand uns Kindern als Reit- und Vergnügungstier tagsüber zur Verfügung.

In diesem Sommer verließ Vitos Sohn, der im Dorfkern wohnte, seine Frau und die gemeinsame dreijährige Tochter und setzte sich mit seiner Geliebten nach Mailand ab. Das hatte schlimmes Gerede für Mirta und Vito zur Folge, es war die reinste Schande. Mirta schämte sich so sehr, dass sie keinen Fuß mehr vor ihr Haus setzte. Vito o Carcerato ging nicht mehr mit seiner Eselin in die Haine, saß stattdessen den ganzen Tag vor seiner Haustür, schüttelte den Kopf, sprach mit sich selbst, sprach alle an, die vorbeikamen. Auch mich auf dem Weg zu...
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Autor

Franco Supino, 1965 geboren in Solothurn, wuchs als Kind italienischer Eltern zweisprachig auf. Er studierte in Zürich und Florenz Germanistik und Romanistik. Supino ist Dozent an der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz und freier Autor. Sein erster Roman Musica Leggera erschien 1995. Es folgten fünf weitere Romane, in denen Supino die eigene Migrationsgeschichte und verschiedene Künstlerbiografien erzählerisch erforscht. In den letzten zehn Jahren hat er sich vermehrt der Kinder- und Jugendliteratur zugewandt. Supino lebt mit seiner Familie in Solothurn.