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Aldebaran

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
288 Seiten
Deutsch
Unionsverlagerschienen am11.11.20151. Auflage
Im Hafen von Marseille steht die Zeit still. Die Aldebaran liegt fest, der Reeder ist Konkurs gegangen. An Bord drei Männer. Sie leisten Widerstand, wollen sich nicht damit abfinden, den Frachter zu verlassen. Wohin sollen sie auch gehen? Während sie ohne wirkliche Hoffnung darauf warten, wieder auslaufen zu können, beginnen sie zu reden, diese Seemänner, die sich ans Schweigen gewöhnt haben. Sie reden um ihr Leben, erzählen sich ihre Vergangenheit, Geschichten von Frauen, die auf sie warten oder die sie verloren haben, von Kindern, die sie nicht haben aufwachsen sehen, von Ländern, die sie nicht vergessen können. Um sie herum Marseille, Stadt des Exils, Schmelztiegel. In dieser Stadt voller Erinnerungen suchen die drei Männer ihre Zukunft.

Jean-Claude Izzo, geboren 1945 in Marseille, war lange Journalist. Nach Veröffentlichung von mehreren Gedichtbänden pubilzierte er mit fünfzig seinen ersten Roman Total Cheops. Dieser wurde sofort zum Bestseller, seine Marseille-Trilogie zählt inzwischen zu den großen Werken der internationalen Kriminalliteratur. Der zweite Teil, Chourmo, wurde 2001 mit dem Deutschen Krimi Preis ausgezeichnet. Jean-Claude Izzo starb 2000 in Marseille.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR13,95
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR11,99

Produkt

KlappentextIm Hafen von Marseille steht die Zeit still. Die Aldebaran liegt fest, der Reeder ist Konkurs gegangen. An Bord drei Männer. Sie leisten Widerstand, wollen sich nicht damit abfinden, den Frachter zu verlassen. Wohin sollen sie auch gehen? Während sie ohne wirkliche Hoffnung darauf warten, wieder auslaufen zu können, beginnen sie zu reden, diese Seemänner, die sich ans Schweigen gewöhnt haben. Sie reden um ihr Leben, erzählen sich ihre Vergangenheit, Geschichten von Frauen, die auf sie warten oder die sie verloren haben, von Kindern, die sie nicht haben aufwachsen sehen, von Ländern, die sie nicht vergessen können. Um sie herum Marseille, Stadt des Exils, Schmelztiegel. In dieser Stadt voller Erinnerungen suchen die drei Männer ihre Zukunft.

Jean-Claude Izzo, geboren 1945 in Marseille, war lange Journalist. Nach Veröffentlichung von mehreren Gedichtbänden pubilzierte er mit fünfzig seinen ersten Roman Total Cheops. Dieser wurde sofort zum Bestseller, seine Marseille-Trilogie zählt inzwischen zu den großen Werken der internationalen Kriminalliteratur. Der zweite Teil, Chourmo, wurde 2001 mit dem Deutschen Krimi Preis ausgezeichnet. Jean-Claude Izzo starb 2000 in Marseille.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783293304017
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2015
Erscheinungsdatum11.11.2015
Auflage1. Auflage
Seiten288 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse2364 Kbytes
Artikel-Nr.3421069
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe





Ein grauer Morgen, Bésame mucho pfeifend


Marseille trug an diesem Morgen die Farben der Nordsee. Diamantis stürzte in der verlassenen Messe einen hastig gebrühten Nescafé hinunter, dann stieg er aufs Deck hinab, Bésame mucho pfeifend, die Melodie, die ihm am häufigsten in den Kopf kam. Genau genommen die einzige, die er pfeifen konnte. Er zog eine Camel aus einer zerknitterten Schachtel, steckte sie an und lehnte sich an die Reling. Diamantis störte dieses Wetter nicht. Heute jedenfalls nicht. Seine Stimmung war schon seit dem Aufstehen trübe.

Er ließ seinen Blick über das Meer schweifen, weit hinaus, als ob er so den Moment hinausschieben könnte, in dem er wie jeder von der Besatzung der Aldebaran eine Entscheidung treffen musste. Entscheiden war nicht seine Stärke. Seit fünfundzwanzig Jahren ließ er sich vom Leben treiben. Von einem Frachter zum nächsten. Von einem Hafen in den anderen.

Ein Gewitter zog auf, und die Frioul-Inseln in der Ferne waren nur noch ein dunkler Fleck. Man konnte kaum den Horizont erkennen. Ein wahrhaft aussichtsloser Tag, dachte Diamantis. Ohne sich einzugestehen, dass die letzten Tage nicht anders gewesen waren. Fünf Monate lagen sie nun schon an der Kette, die Seeleute von der Aldebaran, ans äußerste Ende des sechs Kilometer langen Digue du Large verbannt. Weit weg von allem. Nichts zu tun. Und ohne Geld. In Erwartung eines Käufers für diesen elenden Frachter - aber niemand wusste, ob je ein Käufer auftauchen würde.

Die Aldebaran war am 22. Januar in Marseille eingelaufen. Aus La Spezia in Italien, um zweitausend Tonnen Mehl für Mauretanien aufzunehmen. Alles hatte geklappt, doch drei Stunden später legte das Handelsgericht das Schiff an die Kette. Als Sicherheit für Schulden ihres Reeders. Constantin Takis, ein Zypriote. Seitdem war er wie vom Erdboden verschluckt. »Verdammter Hurensohn«, hatte Abdul Aziz, Kapitän der Aldebaran, nur gesagt und den Gerichtsbescheid angewidert an seinen Ersten Offizier Diamantis weitergereicht.

In den ersten Wochen hatten sie noch geglaubt, dass die Sache sich schnell aufklären würde. Seeleuten fehlt es nicht an Hoffnung. Im Gegenteil, die Hoffnung hält sie am Leben. Wer auch nur einmal in seinem Leben zur See gefahren ist, weiß das nur zu gut. Um den Tatsachen nicht ins Gesicht sehen zu müssen, taten Abdul Aziz, Diamantis und die sieben Männer der Besatzung jeden Tag so, als würden sie am nächsten Morgen auslaufen. Maschinen warten, Deck schrubben, elektrische Anlagen überprüfen, Kommandobrücke kontrollieren.

Das Leben an Bord musste weitergehen. Das war die Hauptsache.

Abdul Aziz bewies seinen Männern, dass er bei den Plackereien an Land ein ebenso guter Kapitän war wie auf hoher See. Um die Aldebaran bildete sich - ohne Zweifel dank seines Organisationstalents - schnell eine Welle der Solidarität. Armenküchen lieferten Nahrung und Getränke. Löschboote versorgten sie mit Trinkwasser. Die Hafenverwaltung sorgte für die Müllabfuhr und die Reinigung der Wäsche. Und - welche Erleichterung - seit dem dritten Monat schickte die Seemannsmission den Not leidenden Familien Geld.

»Ein Glück, dass wir hier festsitzen«, hatte Abdul gesagt. »Woanders hätten wir krepieren können. Du siehst, Diamantis, ich mag diese Stadt.«

Auch Diamantis liebte Marseille. Schon bei seinem ersten Landgang hatte er sich in die Stadt verliebt. Er war knapp zwanzig gewesen. Schiffsjunge an Bord des Trampschiffes Ecuador, eines alten, verrosteten Frachters, der nie über Gibraltar hinausgekommen war. Diamantis konnte sich gut an jenen Tag erinnern. Die Ecuador war um die Riou-Inselgruppe herumgefahren und dann, hinter den Frioul-Inseln, hatte sich die Reede vor seinen Augen aufgetan. Wie ein Streifen aus weiß-rosa Licht, der das Blau des Himmels vom Blau des Meeres trennte. Wie eine Erleuchtung. Marseille, hatte er damals gedacht, ist eine Frau, die sich denen anbietet, die vom Meer kommen. Er hatte das sogar in seinem Bordbuch notiert. Ohne zu wissen, dass er damit den Gründungsmythos der Stadt ausdrückte. Die Geschichte von Gyptis, jener ligurischen Prinzessin, die sich Protis, dem phokäischen Seemann, in der Nacht hingab, in der er in den Hafen einlief. Seitdem hatte Diamantis seine Landgänge nicht mehr gezählt.

Aber jetzt war alles anders. Sie waren in Marseille gestrandet - verlorene Seeleute. Diamantis hatte das am Ende des ersten Monats begriffen. Als man sie aufforderte, Mole D zu verlassen und an Liegeplatz 111 festzumachen, am Ende des Quai Wilson, am Digue du Large. Der Hafen wimmelte von solchen Geschichten. Die Partner hing in Rouen schon seit drei Jahren fest. Niemand wusste mehr, wem das Schiff gehörte; es wurde verkauft, wieder verkauft, weiterverkauft, ohne jemals seinen Platz zu verlassen. Mehr in ihrer Nähe, in Port-de-Bouc, lag die Africa, ein Massengutfrachter, seit achtzehn Monaten am Kai. Die Alcyon, ein Roll-on-Roll-off-Frachter, und die Fort-Desaix, ein Trampschiff, in Sète. Das hatte man Diamantis erzählt. Und Abdul Aziz natürlich auch.

All dies war den beiden Männern nicht unbekannt, als sie auf der Aldebaran anheuerten. Immer mehr Frachter ereilte in den Häfen dieses Schicksal, wenn sie irgendwelchen Reedern gehörten, die mit der Fracht Roulette spielten. Nur Containerschiffe und Öltanker von internationalen Flotten blieben verschont. Aber darüber sprachen Abdul Aziz und Diamantis nie. Aus Aberglauben. Die Aldebaran würde wieder auslaufen. Unter dem Kommando von Aziz. Da gab es keinen Zweifel. Mit fünfundfünfzig kam es für ihn nicht in Betracht, sein Schiff zu verlassen. Er hatte das Kommando auf der Aldebaran in La Spezia übernommen, und er würde sie ihrem Eigentümer zurückbringen. Ganz gleich, wer das war. Und egal, wohin. Das hatte er vorgestern Abend vor versammelter Mannschaft noch einmal bekräftigt.

In der Messe hatte er mit betont emotionsloser Stimme das Gerichtsurteil verlesen, das ihm am Nachmittag zugestellt worden war.

»Die Aldebaran wird beschlagnahmt als Sicherheit für die Schulden einer Gesellschaft, die sich nach Aussagen der Gläubiger im Besitz des Reeders befindet. Obgleich die Gesellschaft, zu der die Aldebaran gehört, rechtlich keine Verbindung zur verschuldeten Gesellschaft aufweist ...«

Die Mannschaft hörte schweigend zu, ohne ein Wort von diesem juristischen Kauderwelsch zu verstehen. Der Rechtsanwalt, der ihnen von Amts wegen zugeteilt worden war, erklärte es ihnen Wort für Wort. Aber das war überflüssig. Jeder hatte das Wesentliche begriffen. Selbst die beiden Birmanen in der Besatzung. Es wird noch ein gutes Weilchen dauern, bis das Schiff wieder ausläuft.

»Nur wenn der Frachter verkauft wird, und obendrein zu besten Konditionen, könnt ihr ausbezahlt werden«, fiel Abdul dem Anwalt ins Wort, der gerade zu einem kunstvollen juristischen Höhenflug ansetzte. »Das heißt es. Und das kann morgen oder in sechs Monaten sein. Oder vielleicht in einem Jahr. Ich will nicht, dass ihr euch Illusionen macht. In Sète«, führte er aus, »sollte die Fort-Desaix, ein Frachter wie unserer, letzte Woche versteigert werden. Nicht ein Käufer hat sich sehen lassen ... Das ist es, was ihr wissen müsst. Ich kenne eure familiären Probleme. Ich habe die gleichen. Also, ich halte niemanden zurück. Ich habe mich erkundigt. Für diejenigen, die gehen möchten, sind Abfindungen - wenn auch niedrige - möglich. Denkt darüber nach, und gebt mir morgen früh Bescheid. Ich bleibe. Mein Platz ist hier. Aber das wisst ihr ja alle.«

Er schaute jedem Einzelnen in die Augen, nur den Rechtsanwalt ließ er außen vor. Dann fügte er hinzu: »Es tut mir schrecklich Leid ... das Ganze. Ich hätte euch keine Hoffnung machen dürfen. Ich habe fest daran geglaubt, dass wir wieder auslaufen würden. Ich glaube immer noch daran, aber ...« Er stand auf. Er wirkte erschöpft.

»Guten Abend, Freunde.«

Er verließ den Raum, den Blick in der Ferne verloren, mit zusammengepressten Lippen. Steif. Mit dem Stolz eines Verzweifelten.

Diamantis sah ihm nach. Er wusste, dass Abdul Aziz sich in seine Kabine zurückziehen wollte. Mit geschlossenen Augen in seiner Koje ausgestreckt würde er sich mit der Musik von Duke Ellington trösten. Er hatte sämtliche Stücke von ihm auf Kassetten, die er über einen Walkman hörte. Ein Geburtstagsgeschenk seiner Frau Céphée. Er war nicht wieder rausgekommen, nicht mal zum Essen. Die Geschichte machte ihn fertig. Abdul Aziz mochte keine Niederlagen.

Diamantis warf seine Kippe ins Wasser. Das offene Meer fehlte ihm. Das Landleben hatte ihn nie gereizt, nicht einmal in einem Hafen. Nach fast zwanzig Jahren Seefahrt war das Meer zu seiner zweiten Haut geworden. Dort, und nur dort, fühlte er sich frei. Da fühlte er sich weder tot noch lebendig, nur anderswo. Ein Anderswo, in dem er ein paar Gründe fand, er selbst zu sein. Das genügte ihm.

Er hatte sich nichts aufgebaut und hatte keine Familie mehr, keine Frau, die auf ihn wartete. Da war nur Mikis, sein Sohn, achtzehn dieses Jahr. Die Hälfte von dem, was Diamantis verdiente, war für ihn, um das Studium in Athen zu bezahlen. Mikis mochte die Literatur, und Diamantis stellte sich manchmal vor, dass sein Sohn schreiben und Romane von seinen Reisen erzählen würde. Aber in Wirklichkeit hatte Diamantis nur eine Angst: dass Mikis auch zur See fahren würde. In seiner Familie...


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Autor

Jean-Claude Izzo, geboren 1945 in Marseille, war lange Journalist. Nach Veröffentlichung von mehreren Gedichtbänden pubilzierte er mit fünfzig seinen ersten Roman Total Cheops. Dieser wurde sofort zum Bestseller, seine Marseille-Trilogie zählt inzwischen zu den großen Werken der internationalen Kriminalliteratur. Der zweite Teil, Chourmo, wurde 2001 mit dem Deutschen Krimi Preis ausgezeichnet. Jean-Claude Izzo starb 2000 in Marseille.

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