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Die gepflegten Neurosen der Mademoiselle Claire

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
256 Seiten
Deutsch
Penguin Random Houseerschienen am09.06.2014
Als die Pariserin Claire in ihre neue Wohnung zieht, stellt sie mit Entzücken fest, dass sie durch den Innenhof all ihren Nachbarn in die Wohnung blicken kann. Für die exzentrische und chronisch gelangweilte junge Frau - die sich ihre Freizeit sonst mit dem Auflisten seltener Krankheiten oder therapeutischem Sex mit ihrem Osteopathen vertreibt - ist es eine willkommene Abwechslung, ihre Nachbarn auszuspionieren. Bald kennt sie all ihre Geheimnisse, wie die antik anmutende Pistole, mit der die Concierge Madame Courtois auf der Jagd nach vermeintlichen Einbrechern durchs Haus schleicht. Doch dann zieht gegenüber der geheimnisvolle Japaner Monsieur Ishida ein, dessen Verhalten Claire Rätsel aufgibt und sie gleichzeitig fasziniert ...

Sophie Bassignac, aufgewachsen in Angers im Westen Frankreichs, lebt heute in Paris. Ihr in Deutschland zuerst erschienener Roman Vielleicht ist es Liebe wurde in Frankreich von der Kritik begeistert aufgenommen und in viele Sprachen übersetzt.
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Produkt

KlappentextAls die Pariserin Claire in ihre neue Wohnung zieht, stellt sie mit Entzücken fest, dass sie durch den Innenhof all ihren Nachbarn in die Wohnung blicken kann. Für die exzentrische und chronisch gelangweilte junge Frau - die sich ihre Freizeit sonst mit dem Auflisten seltener Krankheiten oder therapeutischem Sex mit ihrem Osteopathen vertreibt - ist es eine willkommene Abwechslung, ihre Nachbarn auszuspionieren. Bald kennt sie all ihre Geheimnisse, wie die antik anmutende Pistole, mit der die Concierge Madame Courtois auf der Jagd nach vermeintlichen Einbrechern durchs Haus schleicht. Doch dann zieht gegenüber der geheimnisvolle Japaner Monsieur Ishida ein, dessen Verhalten Claire Rätsel aufgibt und sie gleichzeitig fasziniert ...

Sophie Bassignac, aufgewachsen in Angers im Westen Frankreichs, lebt heute in Paris. Ihr in Deutschland zuerst erschienener Roman Vielleicht ist es Liebe wurde in Frankreich von der Kritik begeistert aufgenommen und in viele Sprachen übersetzt.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783641130862
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2014
Erscheinungsdatum09.06.2014
Seiten256 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1508 Kbytes
Artikel-Nr.1382876
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe



1

Der Hof des Wohnhauses glich dem Hitchcocks, doch Claire war nicht Grace Kelly. Seit vier Jahren wohnte sie nun schon in diesem alten Viertel von Paris, in dem sie sicher nicht zufällig gelandet war, und sie konnte sich nicht mehr vorstellen, woanders zu leben. Dieser Hof war eine fünfstöckige viereckige Schachtel mit gepflastertem Boden. In seiner Mitte verbarg die von hohen Grünpflanzen umgebene Statue eines jungen Epheben mit Füllhorn die Mülleimer. Die Eigentümer residierten in zwanzig Wohnungen, während in den Mansardenwohnungen ein ständiges Kommen und Gehen herrschte. Eine subtile Hierarchie auf Grundlage der Tausendstelanteile erinnerte auf der jährlichen Eigentümerversammlung daran, dass, auch wenn die Wahl demokratisch blieb, die Forderungen eines jeden die Quadratmeterzahl besser nicht überstiegen. Im Winter herrschte hier himmlische Ruhe. An schönen Tagen wurden die Fenster geöffnet, und das Leben der Gemeinschaft ergoss sich ungefiltert in den Hof.

»Du machst eine Dummheit«, hatte ihr Vater leise geäußert, als er, die Hände in den Taschen, die Wohnung im zweiten Stock besichtigt hatte, die hell war, obwohl sie sowohl nach Süden wie nach Norden lag. Da sie den Einfluss kannte, den dieser Mann auf sie hatte, und fest entschlossen war, diese Dreizimmerwohnung zu kaufen, hatte Claire wohlweislich keine Erklärung von ihm verlangt. Sie hatte alle Wände von einem alten ungarischen Künstler, den sie über eine Anzeige gefunden hatte, gelb streichen lassen. Ein paar Monate später war sie sehr verwirrt gewesen, als sie von seinem Tod erfahren hatte, und hatte sich wieder an diesen sympathischen Mann erinnert, der leicht spöttisch zu ihr gesagt hatte: »Wenn Sie dieses Kanariengelb einmal überhaben, streiche ich Ihnen alles in Blau oder Grün, ganz wie Sie wollen.« Sie hatte an die Wohnungen gedacht, die hinter ihr lagen. Was wird aus all dem, was wir tun, nach unserem Tod?, hatte sie sich damals gefragt. Tu nichts, und du wirst nicht sterben. Lass keine Spuren zurück. Diese sehr geheimen Gedanken hatten sie allerdings nicht getröstet.

»Wirst du diesen Ort ertragen?«, hatte ihre Mutter gefragt, aus dem Fenster gebeugt.

Claire hatte ihr wohlweislich verschwiegen, dass dieser Hof perfekt ihrer Vorstellung von geschlossenen Orten entsprach. Sie fügte ihn der bereits langen Liste der Gegenstände und Phobien hinzu, die sie faszinierten und zugleich erstickten. Da waren die Sulfide, die sie gerne in größerer Zahl gesammelt hätte, wenn sie die Mittel dazu gehabt hätte, und da waren die Kaleidoskope und die Plastikkugeln mit künstlichem Schnee. Diese türmten sich in vier Kartons im Keller und verloren allmählich ihr gelbliches Wasser. Und was die Phobien betraf, so pflegte sie ihre panische Angst vor dem Ertrinken, vor Tunneln, Höhlen, unterirdischen Gängen und Geisterzügen und erstickte regelmäßig nachts im Traum. Ihrer Meinung nach erklärten diese Störungen sich durch eine schwierige Geburt, einen langwierigen Austritt aus dem Mutterleib. Das Einfachste wäre gewesen, ihre Mutter zu fragen, aber sie hütete sich, dieses gefühlsmäßig hochbelastete Thema anzusprechen, und ließ die Sache daher auf sich beruhen.

Eines Morgens zog beinahe unbemerkt Monsieur Ishida ein. Innerhalb einer Stunde hatten zwei geräuschlose Möbelpacker zwanzig identische Kartons und ein paar neue Möbel in seine Wohnung hinaufgebracht. Am selben Abend beobachtete Claire, wie ihr japanischer Nachbar in seinem Wohnzimmer Tee trank, als hätte er immer schon hier gelebt. Sie fühlte sich sofort von diesem lächelnden und zuvorkommenden Mann angezogen. Sehr rasch und stillschweigend wurde er von den Eigentümern, die Fremden gegenüber gewöhnlich sehr misstrauisch waren, aufgenommen. Er sprach ausgezeichnet Französisch, kleidete sich elegant, hatte feste Bürozeiten, war manchmal für ein paar Tage, nie länger, abwesend und hatte die Herald Tribune abonniert. Drei Wochen nach seinem Einzug verblüffte er Claire mit einer Einladung zum Tee. Es geschah eines Morgens in der Toreinfahrt. Sie legte sich eine Hypothese zurecht, die sie sich schließlich einredete: Er wollte seine Nachbarin kennenlernen, um gar nicht erst den Verdacht des Voyeurismus zwischen ihnen aufkommen zu lassen, da ihre Wohnungen sich im Hof gegenüberlagen. Außerdem kannte Claire ihre Neigung, alles verdächtig zu finden, was sie nicht selbst beschlossen hatte.

Die junge Frau freute sich über die immer häufigeren Einladungen. Ishida wunderte sich, wie sehr sie diese Momente höflicher Konversation genoss, ohne je ein Zeichen von Überdruss erkennen zu lassen. Er nahm Claires Schrulligkeiten zur Kenntnis und enthielt sich jedes Urteils. Als echte Mystikerin des Alltags, die sich durch eine gewissenhafte Wiederholung derselben Gesten über Wasser hielt, schien sie das Teezeremoniell ihres Nachbarn als eine Art religiöser Erfahrung zu erleben. Zunächst amüsierte er sich darüber, ärgerte sich dann, gewöhnte sich daran und fand schließlich ebenfalls ein eigenartiges Vergnügen an dieser unerwarteten Beziehung. Er hätte nicht gedacht, dass diese formelle Einladung sich in eine Gewohnheit verwandeln würde.

An jenem Tag hatte Monsieur Ishida einen außergewöhnlichen grünen Tee aus Japan erhalten. Getrennt durch einen niedrigen Tisch, im Schneidersitz auf kleinen Seidenkissen einander gegenübersitzend, tranken sie schweigend die fluoreszierende Flüssigkeit. Claire blätterte in einer Zeitschrift für Fotografie. Sie trug ihr rotes Haar sehr kurz. Ihr Gastgeber, der das glatte, seidenweiche schwarze Haar der Japanerinnen gewohnt war, versuchte sich das Gefühl dieser harten Büschel zwischen seinen Fingern vorzustellen. Als er ihr das erste Mal vor den Briefkästen begegnet war, hatte er sich an die Bemerkung eines französischen Romanciers erinnert, den er im Flugzeug kennengelernt hatte. »In Frankreich sind die Rothaarigen die größte Phantasie der Schriftsteller«, hatte der Mann ihm gesagt. Am Flughafen hatte ihn eine große Brünette erwartet.

Claire blätterte konzentriert die Seiten der Zeitschrift um. Ishida war ihr dankbar dafür, dass sie endlich so weit war, einfach nur dazusitzen, ohne etwas zu sagen. Hatte sie begriffen, dass es nichts Japanischeres zwischen ihnen gab als das Schweigen? Vorher hatte er zahlreiche Fragen über sein Land beantworten müssen, Fragen, die immer präziser wurden, über den Schnee in der japanischen Literatur, den Selbstmord aus Liebe, den Shinto, die Züge, die japanische Zeder, Ibuse, Dazai und die Fließende Welt. Ihre Neugier schien keine Grenzen zu kennen, und Ishido war überrascht, wie viele Bücher sie über Japan gelesen hatte. Es gab Fragen, die er nicht beantworten konnte, und er empfahl ihr Autoren, die er in seiner Jugend gelesen, dann jedoch vollkommen vergessen hatte, abgesehen von der Begeisterung, mit der er sie damals entdeckt hatte. Aber seine Wissenslücken hatten keine Konsequenzen. Seine Nachbarin folgte einem vorgefertigten romantischen Schema, von dem sie nicht abwich. Und so hatte er keine Bedenken, ihr Woche für Woche dieses Japan zu bieten, von dem sie träumte, so wie man geduldig eine komplizierte und absurde Miniatur erschafft. Er erinnerte sich an eine Anekdote des portugiesischen Dichters Pessoa, dessen verschiedene Identitäten ihm als junger Mann so sehr gefallen hatten. Der Schriftsteller sprach an einer Stelle von mit japanischen Motiven geschmückten Porzellantassen, aus denen er den Tee trank. Eines Tages stellte man ihm einen bedeutenden japanischen Gelehrten vor, der auf der Durchreise in Lissabon war. Dieser erzählte ihm von seinem Land auf eine Weise, die Pessoa so sehr enttäuschte, dass er beschloss, die Worte des Japaners zu ignorieren, sich wieder der Betrachtung seiner Tassen zuzuwenden, die eine Quelle unendlicher Inspiration für ihn waren, und sich daran zu halten. Dennoch wartete Ishida auf den Moment, da Claire von diesem eiskalten Schauer durchzuckt würde, der wie ein Tropfen kaltes Wasser, der den Rücken hinabläuft, letzten Endes jeden Abendländer lähmt, der mit Japan in Berührung kommt.

An manchen Abenden kam er nach ein paar Gläsern Wein auf seine Kindheit zu sprechen. Er erzählte ihr von dem Kinkaku-ji-Tempel, den er als Jugendlicher an einem strahlenden Morgen im Schnee entdeckt hatte.

»Der Schnee hatte die Bäume und die Dächer mit einer dünnen Schicht gefrorenen Zuckers überzogen …«, sagte er.

Dann brach er in Gelächter aus. Verunsichert durch diesen Freudenausbruch, der fast all seine Sätze begleitete, von dieser subtilen Tyrannei, die die Ernsthaftigkeit ihrer Recherche in Frage stellte, vertiefte Claire sich daraufhin, als wollte sie sich rächen, in die Betrachtung eines imaginären Tempels und in andere exotische Bilder, die nur ihr gehörten.

Nach und nach begann Claires Leben in einer weiten konzentrischen und zwanghaften Bewegung um dieses Land zu kreisen, das sie ihrer Liste der geschlossenen Orte hinzufügen konnte: Japan, diese faszinierende Insel, hatte jahrhundertelang jedes Eindringen von Fremden in seine perfekte Welt verboten und sich damit gegen die Gifte des Abendlandes wie die christliche Religion, die Stühle, die Aufrichtigkeit oder die Logik geschützt. Sie stellte sich das damalige Japan als einen verschneiten Garten vor, den noch niemand betreten hatte. Sie reichte ihm die Zeitschrift. Auf einer Doppelseite waren Fotos von Männern und Frauen abgebildet, die schlafend in der U-Bahn von Tokio saßen.

»Schauen Sie«, sagte sie, »sie schlafen, aber sie haben alle, bevor sie die Augen schlossen, darauf geachtet, ihre Besitztümer zu umklammern. Wir klemmen unsere Aktentaschen zwischen unsere Beine, wir stecken die Hände durch die Griffe unserer Handtaschen. Wir können uns nicht gehen...


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Autor

Sophie Bassignac, aufgewachsen in Angers im Westen Frankreichs, lebt heute in Paris. Ihr in Deutschland zuerst erschienener Roman Vielleicht ist es Liebe wurde in Frankreich von der Kritik begeistert aufgenommen und in viele Sprachen übersetzt.