Hugendubel.info - Die B2B Online-Buchhandlung 

Merkliste
Die Merkliste ist leer.
Bitte warten - die Druckansicht der Seite wird vorbereitet.
Der Druckdialog öffnet sich, sobald die Seite vollständig geladen wurde.
Sollte die Druckvorschau unvollständig sein, bitte schliessen und "Erneut drucken" wählen.
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
352 Seiten
Deutsch
Ravensburger Verlagerschienen am28.01.20161. Aufl
Berlin im Jahr 2039: Die Stadt liegt in Trümmern, das öffentliche Leben ist längst zusammengebrochen. Für die überlebenden Menschen geht es um die nackte Existenz. Wie den Horror des Alltags, den Kampf gegen Hunger und Kälte überstehen? Mittendrin die 15-jährige Anna, die ihren Weg sucht und für das Leben und die Liebe kämpft - und für eine Welt, in der trotz allem eine Zukunft für sie möglich ist.

Nana Rademacher, geboren 1966, studierte Sozialpädagogik in Bielefeld und arbeitete danach beim NDR in Hamburg als Regieassistentin und Lektorin. Seit 2001 ist sie für den Südwestrundfunk in den Redaktionen Hörspiel, Feuilleton und Musik tätig und lebt derzeit als freie Autorin in Stuttgart.
mehr

Produkt

KlappentextBerlin im Jahr 2039: Die Stadt liegt in Trümmern, das öffentliche Leben ist längst zusammengebrochen. Für die überlebenden Menschen geht es um die nackte Existenz. Wie den Horror des Alltags, den Kampf gegen Hunger und Kälte überstehen? Mittendrin die 15-jährige Anna, die ihren Weg sucht und für das Leben und die Liebe kämpft - und für eine Welt, in der trotz allem eine Zukunft für sie möglich ist.

Nana Rademacher, geboren 1966, studierte Sozialpädagogik in Bielefeld und arbeitete danach beim NDR in Hamburg als Regieassistentin und Lektorin. Seit 2001 ist sie für den Südwestrundfunk in den Redaktionen Hörspiel, Feuilleton und Musik tätig und lebt derzeit als freie Autorin in Stuttgart.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783473477111
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2016
Erscheinungsdatum28.01.2016
Auflage1. Aufl
Seiten352 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.1847555
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe


Annas Blog

13. Oktober - Zurück auf dem Dach

Seit ein paar Tagen funktioniert mein NetBoard wieder. In einem Trümmerhaus, grad die Straße runter, hab ich einen alten Festplattenchip gefunden und ausgetauscht.

Wir waren schon mal in dem Haus - Luki, Santje und ich. Damals haben wir ein altes Radio entdeckt, in dem noch funktionierende Batterien waren. Diesmal sind wir bis ganz nach oben geklettert. Und in einem Zimmer voller Schutt von der Decke, mit umgekippten Regalen und einem zertrümmerten Schreibtisch, schiebe ich Steine zur Seite, und, bloß von einem Brett geschützt, liegt da ein ziemlich altes, aber noch richtig gutes Board, als hätte es nur auf mich gewartet. Zu Hause hab ich´s auseinandergebaut, und da ist er, der Chip.

Ewig hab ich nach so was gesucht. Platinsolar! Ich musste noch warten, bis wir wieder Strom hatten, damit ich mein Board aufladen konnte. Der Akku ist noch ziemlich gut. Wie riesig die früher waren!

Dann bin ich sofort rauf aufs Dach und hab ausprobiert, ob der Chip funktioniert und man nicht doch noch irgendwie online kommt.

Eigentlich ist es das Uralt-Board meines Vaters, aber es interessiert ihn nicht mehr. Er denkt ja, es sei kaputt. Und er weiß, dass ich dauernd an irgendwas rumbastle. Deswegen fragt er auch nicht nach.

Bei meinem Roll-Up hat sich die Bildschirmfolie gelöst, das kann man nicht mehr reparieren. Das Board ist alt, es ist sogar noch so eins zum Aufklappen. Noch nicht mal den Bildschirm kann man abnehmen. Ist nichts mit einfach aufrollen und in die Tasche stecken. Aber unter den Pullover bekomm ich´s locker geschoben, ohne dass jemand was sieht.

Zwei Jahre lang konnte ich nicht schreiben und nicht ins Netz. Fühlt sich ein bisschen an wie nach Hause kommen. Ich kenn niemanden, der noch reinkommt. Würde allerdings auch niemand zugeben.

In der Wohnung kann ich´s nicht tun. Meine Eltern dürfen auf keinen Fall erfahren, was ich mache. Die drehen durch, weil Ich Uns Noch Alle In Gefahr Bringe. Und außerdem würden sie dann wissen wollen, was in der Welt los ist. Alle wollen immer Infos. Wollen wissen, was vor sich geht.

Das Netz für unsere Smart-Eyes gibt es nicht mehr und damit sind sie eigentlich Schrott. Aber die Soldaten benutzen ihre Smart-Eyes, jedenfalls manche. Es heißt, sie haben ein eigenes Netz.

Das All-Net funktioniert noch. Nicht besonders stabil, aber es geht, bis jetzt jedenfalls. Es ist fast ein bisschen unheimlich. Ich hab´s mir so gewünscht, aber auch gedacht, dass die Web-Polizei es einfach abgestellt hat. Oder nutzen die das auch? Ich hab keine Ahnung. Viele Seiten sind nicht mehr zu erreichen oder gesperrt, und ich soll mich anmelden. Wie früher eben. Aber immerhin ist meine Lieblingsmangaseite noch da, auch wenn es dort nichts Neues gibt. Und mein Blog ist nicht beschlagnahmt! Die WePo kann eben doch nicht alles kontrollieren.

Ich hab den Blog von Anfang an auf einem ziemlich abseitigen Offshore-Server versteckt, und ich frage mich, wieso haben die wohl noch Strom? Aber es gibt ihn tatsächlich immer noch. Ich habe ein paar ZPL-Channels gekoppelt und benutze elite-proxy. So entwische ich dem WePo-Radar. Hoffe ich jedenfalls. Das Board ist manchmal ganz schön langsam dadurch. Aber ich kann schreiben (stellt euch vor: Ich tippe! Die Voice-Box ist kaputt), und vielleicht ist ja doch irgendwo irgendjemand, der das lesen kann. Und manchmal denke ich, wie es wohl wäre, wenn das hier jemand in hundert Jahren oder so liest. Und ich hoffe, dass dieser Jemand glücklich ist und satt und sagt: »Da bin ich aber froh, dass die dunkle Zeit vorbei ist und alle Menschen frei sind und genug zu essen haben.« Aber vielleicht ist in hundert Jahren auch überhaupt niemand mehr auf dieser Welt. Wenn Das So Weiter Geht ..., wie Frau Weber von unten immer sagt.

Wirklich niemandem hab ich erzählt, dass das Board repariert ist und ich wieder im Netz bin. Nicht mal Luki, meiner besten Freundin. Sind schon Menschen für weniger getötet worden. Viel weniger.

Von hier oben kann ich über ganz Berlin sehen. Es ist ruhig in der Stadt und es fallen nur noch selten Schüsse. Bis gestern dauerten die Aufstände. Vor einer Woche oder so ging es auf einmal wieder los. Wie ein Vulkan unter Druck, der plötzlich ausbricht. Aber nie ändert sich was. Alles wird immer nur schlimmer. Wir rennen von Ecke zu Ecke. Springen, so schnell es geht, über die Schuttberge. Immer wieder wird geschossen, auch wenn es gerade eine ruhige Zeit ist. Und meine Mutter Kommt Fast Um Vor Sorge, wenn ich aus dem Haus gehe.

Aber immerhin ist es auf dem Dach sicherer geworden. Als ich klein war, flogen jeden Tag Drohnen über die Stadt und Hubschrauber donnerten ganz dicht über die Häuser. Dann kamen die Luftangriffe. Das alles hat fast ganz aufgehört. Ob die keinen Treibstoff mehr haben? Für die Jeeps und Panzer gibt´s jedenfalls noch genug.

Mein Vater ist nie mit auf der Straße, wenn gekämpft wird, weil er zu viel Angst hat.

Ich Weiß Nicht Ob Es Gut Ist Die Hand Zu Schlagen Die Uns Ernährt.

Ernährt? Meine Mutter ist nur noch ein Strich.

Wir Brauchen Nicht Noch Mehr Tote.

Wenn er nicht will, dass wir sterben, sollte er besser kämpfen, und nicht darauf hoffen, dass Stillhalten was ändert. Aber wir können froh sein, dass er bei uns ist. Sein rechtes Bein ist etwas kürzer als sein linkes und deswegen ist er als Soldat nicht zu gebrauchen.

Wir haben jetzt wohl so was wie eine Militärregierung, nur falls es jemand wissen möchte.

Es heißt, es würden Aufständische in den U-Bahn-Tunneln unter der Stadt leben und sich von Ratten und Asseln ernähren. Kann ich mir aber nicht vorstellen. Ratten. Ekelhaft. Asseln gehen ja noch. Ich möchte jedenfalls nicht nachschauen, ob da jemand ist.

Wie immer zum Ende des Sommers gibt es nur noch ganz wenig Wasser. Die Rationen werden immer kleiner. Aus den Leitungen kommt fast gar nichts mehr, und wenn, dann ist es eine warme braune Brühe, mit der man sich nicht mal waschen mag. Die Soldaten fahren Wasser mit Tanklastern heran und wir füllen unsere Kanister. Die Transporte sind schwer bewacht. Am Abend schreiben sie mit Lasern die Zeit an den Himmel und welche Sektion an der Reihe ist und natürlich die Versorgungsstelle. Und als Letztes AUSGANGSSPERRE BIS SONNENAUFGANG. Damit sich niemand mehr sofort anstellt. Meine Mutter ist zu schwach, um die Kanister zu tragen, also gehe ich mit meinem Vater, sobald es hell wird.

Wenn wir rausgehen, schauen wir als Erstes nach oben, wie früher, als die Drohnen noch flogen. Als ob sie jeden Moment wieder auftauchen könnten. Und andererseits natürlich, um zu schauen, ob etwas in den Himmel gelasert wird. Aber davor heulen eigentlich immer die Sirenen. Jedenfalls fast immer. Ein paarmal war es nicht so. Beinahe hätten wir da nicht mitbekommen, dass die Versorgungsstationen offen hatten. Mein Vater meinte dann, Das Machen Die Mit Absicht. Die Hungern Uns Aus.

Wenn er neben mir läuft, spüre ich, dass er Angst hat. Angst um mich. Ich weiß, dass er am liebsten seinen Arm um mich legen und mich dicht an sich ziehen möchte, aber er lässt es dann doch, weil er weiß, dass ich nicht mehr wie ein Kleinkind behandelt werden will.

Erst letztens gab´s wieder einen Tumult, als das Wasser ausging, bevor alle in der Schlange was bekommen hatten. Plötzlich wurde gedrängelt und geschubst. Neben mir stolperte ein alter Mann und fiel hin. Ich wollte ihm helfen, aber mein Vater zog mich weg. Dann hörten wir auch schon die ersten Schüsse. Und ich schrie und schrie und schrie die ganze Zeit: »Wir müssen ihm helfen!«, doch mein Vater packte mich an den Schultern und schüttelte mich, bis ich still war.

Wir schleppten die Kanister nach Hause. Schweigend. Ich hatte Watte in den Ohren und im Kopf. Am liebsten hätte ich auch noch die Augen geschlossen und mich ins Vergessen hinabsinken lassen, auf den weichen Sandboden eines tiefen, tiefen Meeres. Aber ich musste auf den Weg achten.

Es ist heiß, mein Hals ist staubtrocken, aber gleich geht die Sonne unter, dann wird es endlich kühler. Glutrot. Es sieht aus, als würden die zerbombten Häuser bluten. Zickzackig ragen Spitzen und Ecken in den Himmel. Wie ein Gebirge. Es gibt nicht mehr viele Häuser mit heilen Dächern. Wir haben eins. Früher konnte ich von hier aus den Fernsehturm sehen. Schade, dass der nicht mehr steht. Ich habe ihn irgendwie gemocht.

Eigentlich bin ich froh, wenn der Sommer vorbei ist. Ich sehe schon aus wie ein roter, vertrockneter Einzeller. Aber nach dem Durst kommt meistens das Frieren. Was ist besser? Wird es ein milder oder ein eisiger Winter?

Eben hat mein Vater meine Mutter an den Schultern gepackt und gesagt: »Wir werden auch diesen Winter überleben, verstehst du? Wir werden nicht sterben. Keiner von uns.«

Sie hat nur dagestanden und nichts gesagt.

Alle fürchten sich vor der Kälte. Die Angst trippelt herum wie eine panische Maus, die weiß, dass überall Katzen lauern.

Das Board hat sich auf den 13. Oktober 2039 eingestellt. Ob das stimmt? Samstag. Da fällt mir meine Mutter ein. Immer redet sie von früher. Früher hat sie sich immer gefreut, wenn Wochenende war. Jetzt weiß man nicht mal mehr, was für ein Tag ist. Sie haben BRÖTCHEN geholt bei einem BÄCKER und ROSINENSCHNECKEN und überlegt, wohin sie einen AUSFLUG machen. Heute freut sie sich über nichts mehr. Früher, als es noch Arbeit gab, früher, als es noch grasgrünen Frühling gab und blätterbunten Herbst, früher, als es noch...

mehr

Autor

Nana Rademacher, geboren 1966, studierte Sozialpädagogik in Bielefeld und arbeitete danach beim NDR in Hamburg als Regieassistentin und Lektorin. Seit 2001 ist sie für den Südwestrundfunk in den Redaktionen Hörspiel, Feuilleton und Musik tätig und lebt derzeit als freie Autorin in Stuttgart.