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Meine Aussagen

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
404 Seiten
Deutsch
FISCHER E-Bookserschienen am27.04.20181. Auflage
Es wäre mein Wunsch, daß mein Zeugnis über die sowjetischen Lager und Gefängnisse für politische Gefangene den Humanisten und progressiven Menschen anderer Länder bekannt würde, - denen, die sich für die politischen Gefangenen Griechenlands, Portugals, der Südafrikanischen Republik und Spaniens einsetzen; sie sollen ihre sowjetischen Kollegen im Kampf gegen die Unmenschlichkeit fragen: »Was habt ihr dagegen getan, daß man in eurem Land die politischen Gefangenen sogar durch Hunger ?erzieht??« Anatolij Martschenko

Anatolij Martschenko wurde 1938 in Barabinsk (Sibirien) geboren. Nach acht Schuljahren wurde er als Spezialist für Schichtbohrungen ausgebildet und arbeitete an Wasserkraftwerken, in Bergwerken und war bei geologischen Geländeforschungen tätig. Dabei kam er durch ganz Sibirien. »Meine Aussagen« schildert den rückhaltlosen Bericht seiner Haftzeit in den Lagern von 1960-1966. Anatolij Martschenko starb 1986 in Tschistopol.
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Produkt

KlappentextEs wäre mein Wunsch, daß mein Zeugnis über die sowjetischen Lager und Gefängnisse für politische Gefangene den Humanisten und progressiven Menschen anderer Länder bekannt würde, - denen, die sich für die politischen Gefangenen Griechenlands, Portugals, der Südafrikanischen Republik und Spaniens einsetzen; sie sollen ihre sowjetischen Kollegen im Kampf gegen die Unmenschlichkeit fragen: »Was habt ihr dagegen getan, daß man in eurem Land die politischen Gefangenen sogar durch Hunger ?erzieht??« Anatolij Martschenko

Anatolij Martschenko wurde 1938 in Barabinsk (Sibirien) geboren. Nach acht Schuljahren wurde er als Spezialist für Schichtbohrungen ausgebildet und arbeitete an Wasserkraftwerken, in Bergwerken und war bei geologischen Geländeforschungen tätig. Dabei kam er durch ganz Sibirien. »Meine Aussagen« schildert den rückhaltlosen Bericht seiner Haftzeit in den Lagern von 1960-1966. Anatolij Martschenko starb 1986 in Tschistopol.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783105620779
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2018
Erscheinungsdatum27.04.2018
Auflage1. Auflage
Seiten404 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.3402831
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Erstes Kapitel Der Anfang

Ich heiße Anatolij Martschenko. Geboren bin ich in dem kleinen sibirischen Städtchen Barabinsk. Mein Vater, Tichon Akimowitsch Martschenko, arbeitete sein ganzes Leben über bei der Eisenbahn als Hilfsmaschinist. Meine Mutter, Jelena Wassiljewna, war Putzfrau am Bahnhof. Beide konnten weder schreiben noch lesen, und die Briefe der Mutter waren immer von anderen geschrieben.

Nachdem ich acht Jahre die Schule besucht hatte, fuhr ich einem Aufruf des Konsomol folgend zum Aufbau des Wasserkraftwerkes nach Nowosibirsk. Damit begann mein selbständiges Leben. Ich wurde Meister für Schichtbohrungen und fuhr durch ganz Sibirien, von einer Wasserkraftwerk-Baustelle zur anderen, arbeitete in Bergwerken und bei geologischen Geländeerforschungen. Zuletzt wurde ich zum Wasserkraftwerk nach Karaganda abkommandiert.

Hier kam ich vor Gericht. Wir jungen Arbeiter waren in einem Wohnheim untergebracht und gingen in den Klub zum Tanzen. In derselben Siedlung wohnten aus dem Kaukasus ausgesiedelte Tschetschenen. Sie waren sehr verbittert: hatte man sie doch aus ihrer Heimat vertrieben und in das ferne Sibirien geschickt, zu andersgearteten und ihnen fremden Menschen. Zwischen den jungen Tschetschenen und uns gab es häufig Schlägereien, Raufereien, und manchmal kam es sogar zu Messerstechereien. An einem Tag fand in unserem Wohnheim eine große Schlägerei statt. Als sie von sich aus schon ein Ende gefunden hatte, erschien die Miliz; alle, die sich im Wohnheim befanden (den meisten Beteiligten war es gelungen, zu entkommen und sich zu verbergen), wurden festgenommen, inhaftiert und vor Gericht gestellt. Ich befand mich auch unter den Gefangenen. Man entfernte uns aus der Siedlung, wo alle wußten, wie die Sache vor sich gegangen war. Alle wurden wir an einem Tag verurteilt, ohne daß Nachforschungen darüber angestellt wurden, wer recht hatte und wer schuldig war. So geriet ich in die furchtbaren Lager von Karaganda (Karlag).

Mein Leben dort brachte mich zu den Entschluß, über die Grenze zu fliehen. Ich sah für mich einfach keinen anderen Ausweg mehr. Mit mir zusammen floh ein junger Mann, Anatolij Budrowskij. Wir versuchten, über die Grenze in den Iran zu gelangen. Aber man spürte uns auf, und wir wurden vierzig Meter vor der Grenze festgenommen.

Das war am 29. Oktober 1960.

Fünf Monate hielt mich das KGB von Aschchabad in Untersuchungshaft, die ganze Zeit in einer Einzelzelle, ohne Pakete und Briefe, ohne eine einzige Nachricht von den Verwandten. Jeden Tag fragte mich der Untersuchungsrichter Safarjan (und später Schtschukin): warum ich fliehen wollte? Das KGB beschuldigte mich des Vaterlandsverrats, und dem Untersuchungsrichter paßten meine Antworten nicht. Er wollte von mir das geforderte Geständnis hören, indem er mich bei den Verhören zermürbte und mir drohte, die Untersuchungshaft werde so lange dauern, bis ich das von ihm Geforderte sagen werde; gleichzeitig versprach er mir für gute Aussagen und Reueerklärung die zweifache Gefängnisration. Obwohl er sein Ziel nicht erreichte und weder von mir noch von den vierzig Zeugen irgendein Belastungsmaterial erhielt, wurde ich trotzdem wegen Verrats abgeurteilt.

Am zweiten und dritten März 1961 überprüfte der Oberste Gerichtshof der Turkmenischen SSR unser Urteil. Die Verhandlung fand unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt: in einem riesigen Saal war außer den Angehörigen des Gerichtshofes, zwei mit Maschinenpistolen bewaffneten Wachsoldaten in unserem Rücken und ihrem Kommandanten, der an der Türe stand, niemand anwesend. Zwei Tage lang stellte man mir dieselben Fragen wie bei der Untersuchung; ich gab dieselben Antworten und wies die Beschuldigung zurück. Mein Fluchtgenosse, Anatolij Budrowskij, hatte offensichtlich Untersuchung und Einzelzelle nicht ausgehalten und dem Druck des Untersuchungsrichters nachgegeben. Er belastete mich mit seiner Aussage, um ein milderes Urteil zu bekommen. Alle vierzig Zeugen sagten zu meinen Gunsten aus. Ich fragte, warum das Gericht ihren Aussagen keinerlei Beachtung schenke, und erhielt darauf die Antwort: »Das Gericht entscheidet selbst, welchen Aussagen zu glauben ist.«

Obwohl ich einen Verteidiger abgelehnt hatte, war ein Anwalt bei der Verhandlung dabei und hielt ein Plädoyer. Er sagte, das Gericht habe keinen Grund, mich wegen Vaterlandsverrats zu verurteilen. Der Aussage Budrowskijs könne man keinen Glauben schenken, da er selbst befangen und des gleichen Vergehens angeklagt sei. Das Gericht müsse die Aussagen der übrigen Zeugen beachten; Martschenko könne wegen des Versuches, unerlaubterweise die Grenze zu übertreten, verurteilt werden, aber nicht wegen Verrates.

Das letzte Wort lehnte ich ab. Ich erkannte mich nicht des Verrates schuldig, und meinen Aussagen hatte ich nichts hinzuzufügen.

Am dritten März fällte das Gericht sein Urteil: Budrowskij bekam für den Versuch, illegal die Grenze zu überschreiten, zwei Jahre Lager (das war weit weniger als die Höchststrafe für dieses Vergehen, die drei Jahre betrug). Ich bekam sechs Jahre für Landesverrat - auch viel weniger als das vorgesehene höchste Strafmaß: Tod durch Erschießen.

Damals war ich dreiundzwanzig Jahre alt.

Wieder wurde ich in das Gefängnis geführt, zurück in meine Zelle.

Offen gestanden beeindruckte mich das Strafmaß nicht. Später erkannte ich, daß das Wort Vaterlandsverräter nicht nur die sechs Jahre, sondern mein ganzes Leben zunichte gemacht hat. Ich hatte nur eine einzige Empfindung: daß die Ungerechtigkeit, die zum Gesetz erhobene Willkür sich durchgesetzt hatten; ich war machtlos, ich konnte nur die Kränkung, die Verzweiflung in mir ansammeln und anhäufen, bis ich wie ein überhitzter Kessel bersten würde.

Ich erinnerte mich an die leeren Stuhlreihen im Saal, an den gleichgültigen Ton des Richters und des Staatsanwaltes, des Gerichtssekretärs, der die ganze Zeit irgend etwas kaute, an die schweigenden Götzen von Begleitsoldaten. Warum hatte man niemanden zur Verhandlung zugelassen, nicht einmal die Mutter? Warum hatte man keine Zeugen bestellt? Warum hatte man mir keinen Durchschlag des Urteils gegeben? Was bedeutete das: »Das Urteil händigt man Ihnen nicht aus, es ist geheim«?

Einige Minuten darauf steckte man mir durch die Speisenklappe in meine Zelle ein kleines blaues Papier: »Unterschreiben Sie, daß Ihnen das Urteil verkündet worden ist.«

Ich unterschrieb. Alles.

Das Urteil war endgültig, eine Berufung konnte nicht eingelegt werden.

Ich trat in Hungerstreik. Ich unterschrieb eine Erklärung, einen Protest gegen das Gericht und das Urteil, legte sie in die Speisenklappe und verweigerte die Nahrung. Mehrere Tage nahm ich nichts außer kaltem Wasser zu mir. Niemand achtete darauf. Die Aufseher, die meine Weigerung entgegengenommen hatten, trugen jeden Tag ruhig meine Ration und den Napf mit Suppe wieder hinaus und brachten sie zum Mittagessen erneut. Ich verweigerte wieder die Nahrungsaufnahme. Nach ungefähr drei Tagen kamen Aufseher und ein Arzt zu mir in die Zelle. Sie nahmen an mir die sogenannte zwangsweise künstliche Ernährung vor. Sie banden mich fest, legten Handschellen an, führten in den Mund einen Dilatator ein, steckten einen Schlauch in die Speiseröhre und begannen, durch einen Trichter, etwas Fettiges, Süßliches - die Nährflüssigkeit - einzugießen. Die Aufseher sagten: »Hör auf mit dem Hungerstreik, du erreichst sowieso nichts damit, und wir lassen dich nicht einmal abnehmen.« Diese Prozedur wiederholten sie auch am nächsten Tage.

Ich beendete den Hungerstreik. Eine Antwort auf meine Erklärung hatte ich nicht erhalten.

Nach einigen Tagen kam ein Aufseher zu mir. Er führte mich über Treppen und Korridore in den ersten Stock und klopfte an eine mit schwarzem Wachstuch bezogene Tür. Auf einem Täfelchen stand: Gefängnisvorstand . In dem Büro saß der Gefängnisvorsteher hinter seinem Schreibtisch, über ihm hing ein großes Porträt Dserschinskijs. Auf dem Sofa sah ich zwei mir von der Untersuchung her schon bekannte Personen: den Aufseher des Untersuchungsgefängnisses und den Leiter der Untersuchungsabteilung. Als vierter war ein mir Unbekannter anwesend, dessen Anblick mich erschaudern ließ, so unwahrscheinlich und widerwärtig war sein Äußeres. Ein kleiner kugelförmiger Körper, kurze Beinchen, die kaum bis zum Boden reichten, ein dünnes-dünnes Hälschen. Auf diesem saß eine riesige plattgedrückte Kugel - der Kopf. Geschlitzte Augen, eine kaum wahrnehmbare kleine Nase, ein schmaler lächelnder Mund gingen gleichsam in einer gelbglänzenden Teigmasse unter. Wie war es nur möglich, daß dieses Hälschen unter solcher Last nicht zusammenbrach?

Man sagte mir, dies sei der Stellvertreter des Staatsanwaltes der Turkmenischen SSR. Man forderte mich auf, Platz zu nehmen. Das Gespräch fand in einem freundlich-familiären Ton statt. Man fragte mich, wie ich mich fühle, ob ich den Hungerstreik aufgegeben habe. Ich bedankte mich für das rührende Feingefühl und die mir geschenkte Aufmerksamkeit.

»Sagen Sie mir bitte, wann wird man mich abtransportieren und wohin?« fragte ich dann.

»Du kommst auf eine Komsomol-Baustelle. Du wirst Komsomolze «, antwortete das Scheusal, es wurde noch breiter vom Lachen über den eigenen Scherz.

Es wurde mir unerträglich zuwider. Mir, den sie für Vaterlandsverrat verurteilt hatten, war es irgendwie peinlich, von ihnen hier in diesem Arbeitszimmer solche Worte zu hören und dabei ihr zynisches Grinsen zu sehen. Sie wußten ausgezeichnet Bescheid! Ich auch.

Nachdem ich in meine Zelle zurückgeführt worden war, erinnerte ich mich an die...
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Anatolij Martschenko wurde 1938 in Barabinsk (Sibirien) geboren. Nach acht Schuljahren wurde er als Spezialist für Schichtbohrungen ausgebildet und arbeitete an Wasserkraftwerken, in Bergwerken und war bei geologischen Geländeforschungen tätig. Dabei kam er durch ganz Sibirien. »Meine Aussagen« schildert den rückhaltlosen Bericht seiner Haftzeit in den Lagern von 1960-1966. Anatolij Martschenko starb 1986 in Tschistopol.