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Die verschwundenen Mädchen

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
Deutsch
Piper Verlag GmbHerschienen am31.03.20221. Auflage
Vom Verlust ihrer Tochter erschüttert, ziehen sich Charles Hayden und seine Frau Erin zurück - bis Erin erfährt, dass sie das Anwesen eines mysteriösen Schriftstellers geerbt hat, tief in den Wäldern von Yorkhsire: Hollow House. Dort wollen sie neu anfangen. Doch in den Gemäuern von Hollow House geraten beide in das Gespinst ihrer Schuldgefühle. Charles ist besessen von einem Kinderbuch, und beide hören Stimmen in der Bibliothek des Hauses. Als Charles behauptet, seine Tochter gesehen zu haben, begreift Erin, dass nur ihre unerschütterliche Liebe den Bann der Vergangenheit brechen kann ...

Dale Bailey ist dem Schreiben verfallen und liebt es, Geschichten über die düsteren Seiten des Menschen zu erzählen. Unter anderem wurde er mit dem Shirley Jackson Award ausgezeichnet, seine Fangemeinde in den USA wächst von Tag zu Tag - und von Nacht zu Nacht. Dale Bailey lebt mit seiner Familie in North Carolina und schreibt bereits am nächsten Roman.
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Produkt

KlappentextVom Verlust ihrer Tochter erschüttert, ziehen sich Charles Hayden und seine Frau Erin zurück - bis Erin erfährt, dass sie das Anwesen eines mysteriösen Schriftstellers geerbt hat, tief in den Wäldern von Yorkhsire: Hollow House. Dort wollen sie neu anfangen. Doch in den Gemäuern von Hollow House geraten beide in das Gespinst ihrer Schuldgefühle. Charles ist besessen von einem Kinderbuch, und beide hören Stimmen in der Bibliothek des Hauses. Als Charles behauptet, seine Tochter gesehen zu haben, begreift Erin, dass nur ihre unerschütterliche Liebe den Bann der Vergangenheit brechen kann ...

Dale Bailey ist dem Schreiben verfallen und liebt es, Geschichten über die düsteren Seiten des Menschen zu erzählen. Unter anderem wurde er mit dem Shirley Jackson Award ausgezeichnet, seine Fangemeinde in den USA wächst von Tag zu Tag - und von Nacht zu Nacht. Dale Bailey lebt mit seiner Familie in North Carolina und schreibt bereits am nächsten Roman.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783492601467
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2022
Erscheinungsdatum31.03.2022
Auflage1. Auflage
SpracheDeutsch
Dateigrösse7173 Kbytes
Artikel-Nr.8126401
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

1

Hollow House fiel ihnen wie durch ein Wunder zu. Wie zwei armen Waisenkindern im Märchen, unerwartet und in der Stunde größter Not. Die Erlösung kam in Form eines großen blauen Umschlags, der irgendwo in der täglichen Ladung von Pizzadienst-Flyern, Werbekatalogen und Kreditkarten-Anfragen steckte. So zumindest wollte Charles es Erin gegenüber erklären, wenn er ihr abends in der Küche gegenübersitzen und der Umschlag mit der leicht exotisch anmutenden Briefmarke der Royal Mail zwischen ihnen auf dem Tisch liegen würde. Für Charles Hayden fühlte es sich an wie der Höhepunkt einer obskuren Kette von Ereignissen, die sich Glied für Glied durch die sechsunddreißig Jahre seines Lebens gezogen hatte - durch Jahrhunderte sogar, obwohl er sich das zu diesem Zeitpunkt noch nicht hätte vorstellen können.

Denn wie beginnen alle Märchen?

Es war einmal ...

In den folgenden Monaten hallten diese Worte - und die Märchen, an die sie ihn erinnerten - in Charles´ Kopf nach. Rotkäppchen und Dornröschen und Hänsel und Gretel, die von ihrem geizigen Vater und seiner bösen zweiten Frau im dunklen Wald ausgesetzt wurden. Vor allem an sie musste Charles denken, wie sie sich die Füße wund liefen und furchtbare Angst hatten, bis sie endlich, erschöpft und völlig ausgehungert, auf das Lebkuchenhäuschen mit allerlei Zuckerwerk stießen und sich daran gütlich tun wollten, ohne zu ahnen, dass darin eine Hexe lauerte, die selbst einen Bärenhunger hatte.

Es war einmal ...

So beginnen alle Märchen, jedes in seiner eigenen misslichen Zeit. Doch wie viele Schicksale - Ausgangspunkte für ganz andere Geschichten - warten im Erdreich jeder Geschichte darauf, sich zu entfalten, wie Samen, die zwischen den Wurzeln eines ausgewachsenen Baumes keimen? Wie kam es, dass der Vater so treulos wurde? Was ließ seine Frau so grausam werden? Wie kam die Hexe in den Wald, und was bescherte ihr so grausige Essgelüste?

So viele Glieder in der Kette. So viele Geschichten in Geschichten, die darauf warten, erzählt zu werden.

Es war einmal ...

Es war einmal ein Junge namens Charles Hayden. Er war das einzige Kind seiner Mutter, dürr und bebrillt und immer ein wenig ängstlich. Bei der Totenwache seines Großvaters, den er nie kennengelernt hatte, suchte er Zuflucht in der Bibliothek des weitläufigen Hauses, in dem seine Mutter aufgewachsen war. »Der Stammsitz der Ahnen« hatte Kit (sie war diese Art von Mutter) es genannt, als sie ihm erzählt hatte, dass sie dorthin fahren würden, und selbst im Alter von acht Jahren hatte er den bitteren Unterton in ihrer Stimme registriert.

Charles hatte so etwas noch nie gesehen - nicht nur das Haus, sondern auch die Bibliothek selbst, ein Raum, der zwei- oder dreimal so groß war wie die ganze Wohnung, die er mit Kit teilte, mit dunklem, glänzendem Holz und weichem Leder, mit Bücherregalen an jeder Wand. Die Plüschteppiche verschluckten jedes Geräusch, das seine Turnschuhe hätten verursachen können, und während er sich staunend umsah, drang das laute Geschrei seiner Cousins und Cousinen auf dem Rasen im Garten durch die von der Sonne beschienene klassizistische Fensterfront.

Charles war seinen Cousins noch nie zuvor begegnet. Er war noch nie auch nur einem dieser Leute hier begegnet; er hatte nicht einmal gewusst, dass es sie gab. Als er mit seiner Mutter an jenem Morgen in ihrem keuchenden alten Honda die kurvenreiche Auffahrt hinaufgefahren war, hatte er sich wie ein Kind in einem Märchen gefühlt: Eines Morgens wacht es auf und stellt fest, dass es ein Prinz ist, der sich versteckt, und dass seine Eltern (oder vielmehr sein Elternteil) gar nicht seine Eltern sind, sondern treue Gefolgsleute eines verbannten Königs. Ob Prinz oder nicht, die Cousins - ein rabaukenhaftes Trio älterer Jungs in eleganter Kleidung, neben denen seine schlecht sitzenden Cordhosen und der getragene Gehrock richtig schäbig aussahen - hatten sofort eine Abneigung gegen den Hochstapler in ihrer Mitte entwickelt.

Auch sonst schien niemand von Charles´ Anwesenheit besonders angetan zu sein. Auch hier konnte er die Erwachsenen in den eleganten Gemächern jenseits der offenen Tür hören, Kits quengelige und flehende Stimme und die seiner beiden Tanten (Regan und Goneril, wie Kit sie nannte), hart und unnachgiebig.

Erwachsenenangelegenheiten. Charles richtete seine Aufmerksamkeit auf die Bücher. Er schlenderte an einem Regal entlang und fuhr mit einem Finger müßig neben sich her, der dumpf von Buchrücken zu Buchrücken hüpfte, wie bei einem Kind, das einen Stock an einem Zaun entlangzieht. Irgendwann drehte er sich zu einem Regal und tippte per Zufall auf ein Buch, das in glänzendes braunes Leder gebunden war und dessen Rücken rote Querstreifen zierte.

Draußen vor der Tür erhob sich die Stimme seiner Mutter. Eine der Tanten schnauzte eine Antwort.

In der darauffolgenden Stille - selbst die Cousins waren verstummt - nahm Charles das Buch in näheren Augenschein. Auf den geschmeidigen Ledereinband war ein komplexes Muster geprägt. Er studierte es und fuhr das Muster - ein Labyrinth aus Rillen und Schnörkeln - mit seinem Daumenballen nach. Dann schlug er das Buch auf. Das Frontispiz spiegelte das Motiv auf dem Einband wider, das er hier deutlich erkennen konnte. Es war eine stilisierte Waldszenerie: knorrige Bäume mit verschlungenen Wurzeln und Ästen, die sich umeinanderwanden. Verdreht und mit Flechten bewachsen, verströmten die Bäume eine bedrohliche Aura, als wären es lebendige Wesen - Äste wie klammernde Finger, eine Höhle gleich einem schreienden Mund. Skurrile Gesichter, scheinbar zufällige Kreuzungen von Blättern und Zweigen, blickten ihn aus dem Laub an: eine grinsende Schlange, eine bösartige Katze, eine Eule mit dem Gesicht eines verängstigten Kindes.

Auf der gegenüberliegenden Seite prangte der Titel:

 

Im Nachtwald

von Caedmon Hollow

 

Während er auf diese Zeilen und das Titelbild blickte, spürte Charles sein Herz schneller schlagen. Die altersdunklen Seiten rochen wie ein Keller voller exotischer Gewürze, und ihre Textur, die unter seinen Fingern leicht geriffelt und von blassen, gleichmäßig verteilten Linien durchzogen war, fühlte sich an wie die Breitengrade einer noch nicht kartierten Welt. Die schlauen, fuchsartigen Gesichter, die ihn überall aus dem Gewirr von Blättern und Dornengestrüpp heraus anblickten, schienen sich untereinander zu beraten, wie ein Flüstern, das zu schwach war, um es ganz zu erkennen, das noch im selben Atemzug wieder verstummte. Sein Finger kroch langsam hervor, um die Seite umzublättern.

»Charles!«

Er sah erschrocken auf.

Kit stand in der Tür, ihren schmalen Mund zu einer blutleeren Linie zusammengepresst. Charles starrte sie an und erkannte zum ersten Mal - mit den Augen eines Erwachsenen -, wie alt sie aussah, wie müde, wie anders als ihre makellosen, bis in den letzten Winkel ihres Lebens gelackten Schwestern. Er dachte an seinen toten Großvater - ein Fremder im Sarg, der Kits markante Wangenknochen und tiefblaue Augen hatte. Dieses Bild traf ihn wie ein Schlag. Es brachte ihn fast zum Taumeln.

»Wir fahren, Charles. Hol deine Sachen.«

Er schluckte. »Okay.«

Sie hielt seinem Blick noch einen Moment stand. Dann war sie weg.

Charles wollte das Buch wieder ins Regal schieben, aber er zögerte. Wieder spürte er dieses Gefühl von beunruhigender Bedeutsamkeit, als sei der Fluss der Ereignisse in einen neuen und ungeahnten Kanal gelenkt worden. Als wären Throne und Königreiche, die mächtiger waren, als er sich vorstellen konnte, für einen Wimpernschlag hinter einem verborgenen Vorhang hervorgetreten. Der Raum schien fast zu summen von ihrer Anwesenheit.

Charles konnte das Buch nicht aus der Hand geben, dieses Artefakt eines Lebens, das ohne Kit sein eigenes hätte sein können: ein Leben auf gepflegten Rasenflächen, in riesigen Zimmern und vor allem in dieser gewaltigen Bibliothek. (Von nun an sollten Bibliotheken ihn magisch anziehen.)

Er musste es in seinen Rucksack packen und aus dem Haus schmuggeln.

Er musste es stehlen.

Als sich dieser Entschluss in ihm verfestigte, spürte Charles eine Welle der Panik. Schrecken und Erregung schwangen in...
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Autor

Dale Bailey ist dem Schreiben verfallen und liebt es, Geschichten über die düsteren Seiten des Menschen zu erzählen. Unter anderem wurde er mit dem Shirley Jackson Award ausgezeichnet, seine Fangemeinde in den USA wächst von Tag zu Tag. Dale Bailey lebt mit seiner Familie in North Carolina und schreibt bereits am nächsten Roman.