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Hinterhaus

E-BookEPUB0 - No protectionE-Book
304 Seiten
Deutsch
Bastei Lübbeerschienen am31.05.20191. Aufl. 2019
Journalistin Carolin stolpert wider Willen in einen Kriminalfall, der sie tief in die Vergangenheit Ost-Berlins führt. In einem Hinterhaus in Prenzlauer Berg findet sie die Leiche eines seit Langem verschwundenen Jungen. Doch kaum jemand scheint sich an ihn erinnern zu wollen. Die Hausbewohner schweigen, und die Polizei ermittelt nur halbherzig.

Eigentlich hat Carolin andere Sorgen. Ihr Freund ist weg, sie hat keine Wohnung mehr und keinen Job. Aber ehe sie sichs versieht, ist sie dem Mörder zu nahe gekommen. So wird das Hinterhaus auch für Carolin zur tödlichen Falle ...


Ausgezeichnet mit dem GLAUSER-Preis als bestes Krimi-Debüt



Lioba Werrelmann, Jahrgang 1970, stammt aus dem Rheinland, hat Politische Wissenschaften studiert, volontierte und ist seit 1989 für verschiedene Tageszeitungen, Radio- und TV-Anstalten (WDR/ARD) als Redakteurin und Kommentatorin tätig, vor allem in Köln und Berlin. 2014 erschien ihr autobiografisches SachbuchSTELLEN SIE SICH NICHT SO AN.HINTERHAUSist ihr erster Kriminalroman.
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Produkt

KlappentextJournalistin Carolin stolpert wider Willen in einen Kriminalfall, der sie tief in die Vergangenheit Ost-Berlins führt. In einem Hinterhaus in Prenzlauer Berg findet sie die Leiche eines seit Langem verschwundenen Jungen. Doch kaum jemand scheint sich an ihn erinnern zu wollen. Die Hausbewohner schweigen, und die Polizei ermittelt nur halbherzig.

Eigentlich hat Carolin andere Sorgen. Ihr Freund ist weg, sie hat keine Wohnung mehr und keinen Job. Aber ehe sie sichs versieht, ist sie dem Mörder zu nahe gekommen. So wird das Hinterhaus auch für Carolin zur tödlichen Falle ...


Ausgezeichnet mit dem GLAUSER-Preis als bestes Krimi-Debüt



Lioba Werrelmann, Jahrgang 1970, stammt aus dem Rheinland, hat Politische Wissenschaften studiert, volontierte und ist seit 1989 für verschiedene Tageszeitungen, Radio- und TV-Anstalten (WDR/ARD) als Redakteurin und Kommentatorin tätig, vor allem in Köln und Berlin. 2014 erschien ihr autobiografisches SachbuchSTELLEN SIE SICH NICHT SO AN.HINTERHAUSist ihr erster Kriminalroman.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783732572175
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format Hinweis0 - No protection
FormatFormat mit automatischem Seitenumbruch (reflowable)
Erscheinungsjahr2019
Erscheinungsdatum31.05.2019
Auflage1. Aufl. 2019
Reihen-Nr.1
Seiten304 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.4169751
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Donnerstag, 30. September 2011

Das kleine Schwein ist noch da. Es liegt im Schlafzimmer in der Ecke. Die Nase wie immer ein bisschen zerknautscht, die Stummelbeinchen halb in der Luft. Es liegt ganz still.

Der Rest ist weg. Das Bett, der Kleiderschrank. Das Bücherregal, alle Bücher. Der Drachenbaum. Die Kommode. Der goldene Spiegel. Sogar der Teppich ist weg, verschrammte Dielen. Alles weg.

Das Schlafzimmer ist leer. Die gesamte Wohnung ist leer. Es gibt keine Küche mehr, nur noch Abdrücke an den Wänden, wo die Schränke waren. Aus dem Zulauf fürs Waschbecken tropft es aufs Parkett.

Das Wohnzimmer: auch leer. Kein Sofa, kein Sessel, kein Fernseher. Kein Esstisch. Kein einziger Stuhl. Kein Klavier. Nicht ein einziges Bild. Alle Lampen sind abgeschraubt. Nackte Glühbirnen.

Allein im Badezimmer hängt noch der Alibert an der Wand. Im linken Fach sind meine Zahnbürste, mein Schminkkram. Das rechte Fach ist leer. Dort, wo Jens´ Aftershave stand: ein öliger Rand. Ein einzelnes dunkles Schamhaar klebt darin. Alles ist weg.

Fast alles.

Mitten im Flur stehen sieben Umzugskartons. Hastig gepackt. Einer ist nur halb zu. Anziehsachen sind drin, von mir. CDs, ein paar Bücher. Parfümflakons. Yogablöcke und -gurte. Alles, was ich besitze. In sieben Umzugskartons.

Alles andere ist weg. Der Flurspiegel. Die Hakenleiste für unsere Jacken. Der Läufer. Alle Bilder. Das Telefontischchen. Das Telefon. Die Splitbox. Der Anrufbeantworter. Alles weg.

Was, zum Teufel, ist hier passiert? Sind wir etwa ausgeraubt worden?

Aber wer hat dann die sieben Umzugskisten gepackt?

»Hallo«, rufe ich, leise, verzagt, »hallo? Jens, bist du zu Hause?«

Keine Antwort.

Ich stehe im Flur, und es fühlt sich an, als wäre ich in eine Zeitlupe geraten. Mein Gehirn funktioniert nicht mehr. Es nimmt zwar Dinge wahr, aber nur ganz langsam. Immer nur eins nach dem anderen. Als wäre da ein Filter, der dafür sorgt, dass ich alles nur nach und nach in mich aufnehme. Erst das eine. Dann das nächste. Doch es gelingt mir nicht, eine Verknüpfung herzustellen. Lauter Einzelbilder. Kein Verstehen.

Ich stehe einfach nur da und versuche zu denken. Lange.

Und dann verstehe ich.

Jens ist weg. Und er hat mir nichts von sich dagelassen, abgesehen von einem verklebten Schamhaar und dem kleinen Schwein. Das hatte ich ihm einst zum Geburtstag genäht.

Damals war ich gerade achtzehn.

Als Jens das erste Mal vor mir stand, wäre ich am liebsten im Erdboden versunken.

Ich war davon ausgegangen, dass es wieder der alte Sack sein würde, der mich untersucht. Der alte Sack von Orthopäde, der mich seit Jahren untersuchte, seit ich zu schnell gewachsen war. Ich war zu groß und viel zu dünn und hatte ständig diese Rückenschmerzen. Der alte Sack kniff mir in die Beine und sagte: »Du solltest Strumpfmodel werden.« Oder auch: »Ich will dich adoptieren.«

Und wie immer, wenn ich zum alten Sack musste, trug ich meine ausgeleiertste Öko-Baumwollunterhose und mein fiesestes Unterhemd, ein sehr weites, verwaschenes, mit Flecken, die nicht mehr rausgingen.

Und in genau diesen Ussels-Klamotten stand ich nun vor dem bestaussehendsten Orthopäden, den man sich nur denken kann. Ein Mann wie Tom Cruise, nur viel größer: durchtrainiert, tiefschwarzes Haar, ein kantiges Kinn und strahlend blaue Augen.

Er schaute mich nur an und sagte: »Drehen Sie sich um.«

Und dann: »Bücken Sie sich.«

Und ich bückte mich in meiner Bio-Baumwollunterhose, und er umfasste mich von hinten an den Hüften und sagte: »Sie sind ja ganz schief.«

In diesem Moment wusste ich es. Ich war gerade achtzehn, ich hatte keine Ahnung von Sex. Aber ich wusste es in diesem Moment: dass ich mit diesem bestaussehendsten aller Orthopäden schlafen würde.

Beim nächsten Mal wurde ich geröntgt. Ich trug nichts außer einem fast durchsichtigen Slip, den hatte ich extra bei H & M für diesen Anlass gekauft. Die Arzthelferin rümpfte die Nase. Den neuen Orthopäden bekam ich nicht zu Gesicht. Am Empfang drückte man mir ein Rezept in die Hand: sechsmal Krankengymnastik. Ich schlurfte aus der Praxis und fühlte mich betrogen.

Zwei Tage später stand er mittags vor meiner Schule. Er saß in einem Auto, das teuer aussah und ein offenes Verdeck hatte. Er trug ein grün-weiß geringeltes T-Shirt, eine Baseballkappe, eine schwarze Sonnenbrille. Natürlich erkannte ich ihn sofort.

»Dein Taxi ist da«, sagte er nur.

Seitdem sind wir zusammen. Papa rastete aus und gab mir sofort eine Woche Hausarrest. »Damit du den Lackaffen nicht mehr triffst.« Ich marschierte einfach zur Tür hinaus und fuhr mit Jens eine Woche nach Italien, im Cabrio. Als ich wieder auftauchte, war Papa ein Wrack und heulte vor Glück, weil ich wieder da war. Danach hat er nie wieder etwas gesagt wegen Jens. Auch nicht, als ich die Schule schmiss und mit ihm nach Berlin ging. Jens hatte dieses Wahnsinnsangebot, und natürlich hätte ich ihn nie im Leben ziehen lassen.

Niemals hätte ich ihn ziehen lassen.

Jetzt ist er weg. Abgehauen mit Sack und Pack, während ich beim Yoga war.

Meine Beine geben nach. Ich rutsche an der Wand entlang nach unten. Sitze im Flur auf dem Boden, starre auf die Umzugskisten. Starre. Versuche zu denken. Doch mein Gehirn ist leer. Keine Bewegung. Lange.

Irgendwann nestele ich mein Handy aus meiner Yogatasche. Rufe Henry an. Sie geht gleich ran, und zwei Minuten später höre ich sie die Treppe raufrennen.

»Das ist doch völlig unmöglich!«, brüllt Henry. »Man kann doch nicht in zwei Stunden eine ganze Wohnung ausräumen!«

»Doch«, sage ich, »guck doch.«

Und Henry guckt. Und guckt. Und dann drückt sie mich an ihren großen Busen und hält mich und wiegt mich, wiegt mich hin und her, denn nun habe ich angefangen zu heulen und höre gar nicht mehr damit auf.

Henry ist meine allerbeste Freundin. Sie ist meine Sonnenschein-Freundin. Meine Spaß-Freundin. Meine Jetzt-geht-es-ab-Freundin. Henry ist die Allerwundervollste. Henry halt.

Eigentlich heißt sie nicht Henry, sondern Henriette, aber Henriette geht natürlich gar nicht.

Henry ist höchstens eins sechzig groß, und irgendwie kommt es einem so vor, als wäre sie genauso breit. Wobei Henry nicht dick ist. Es ist nur alles so rund an ihr. Der Po. Die Hüften. Der Busen. Der vor allem.

Henry hat das Café im Erdgeschoss. Ein winzig kleines Café mit gerade einmal vier Tischen. Eine Kuchentheke, so niedrig, dass Henry ihren üppigen Busen drauflegen kann. Der Laden ist so klein, es gibt nicht einmal ein Klo. Henrys Café ist immer gerappelt voll.

»Komm«, sagt Henry, »komm mit, ich habe gerade Schokokuchen gebacken. Ist noch ganz warm.«

Das Café ist schon geschlossen. Es ist ein Tagescafé. Henry könnte sich dumm und dusselig verdienen, wenn sie den Laden auch abends öffnen würde. Aber das will sie nicht, auf gar keinen Fall. »Das ist vorbei«, sagt sie.

Wir sitzen in der Küche, das heißt, ich sitze auf dem großen blechernen Mülleimer, denn die Küche ist so winzig, dass kein Stuhl darin Platz hat. Es gibt nur einen schmalen Gang zwischen den Arbeitsplatten links und rechts, unter dem einzigen Fenster steht der eiserne Herd. Henry hockt auf einem Höckerchen zu meinen Füßen. Das braucht sie, um an die Regale über den Arbeitsplatten zu kommen. Sie streichelt meine Knie und sagt »Oje« und »Der kommt schon wieder« und »Wein doch nicht so«. Zwischendurch springt sie ständig auf, Henry sitzt nie lange still. Sie muss die winzige Spülmaschine einräumen, laufen lassen, ausräumen. Sie spült alles, was zu groß ist für die Spülmaschine, mit der Hand. Sie knetet Mürbeteig, schiebt Bleche in den heißen Ofen, schnippelt Gemüse, rührt Suppen um. Ich kenne sie nur so. Henry arbeitet eigentlich immer. Die Prenzlauer-Berg-Mütter, die tagaus, tagein mit ihren Babys und Zubehör das winzig kleine Café verstopfen, beneiden sie um ihre Freiheit.

Ich sitze auf der Blechtonne und heule und heule. Gleichzeitig esse ich fast den ganzen Schokoladenkuchen. Kuchen geht immer.

Zwischendurch rufe ich Jens auf dem Handy an. Einmal. Zweimal. Zigmal. Alles, was ich höre, ist eine automatische Stimme: »Dieser Anschluss ist zurzeit nicht erreichbar.«

»Vielleicht«, schluchze ich, »vielleicht ist er entführt worden.«

»Ach was«, sagt Henry.

»Doch, bestimmt!« Direkt hinter den Tränen wartet die Hysterie. Ich fühle sie, gleich ist sie da, riesengroß. Ich beginne zu kreischen: »Niemals hat er das aus freien Stücken getan! Er wurde gezwungen! Er sitzt irgendwo, gefesselt und verletzt!«

»Ojemine«, murmelt Henry, »beruhige dich.« Aber es hilft nichts.

»Wir müssen wieder hoch«, brülle ich, »Spuren sammeln!«

»Nein«, Henry streicht mir mit ihrer warmen, weichen Hand, an der ein bisschen Kuchenteig klebt, über die Wange, »nein, das müssen wir nicht.«

»Aber niemals würde er das von alleine tun!«

»Ach Liebes, du hast keine Ahnung, was Männer von alleine tun.«

Ich blinzele sie an, zwischen meinen Tränen, ich habe keine Ahnung, wovon sie spricht. Aber ich ahne, dass Jens nicht entführt wurde. Und ich weine umso heftiger. Stunde um Stunde.

Am Ende hat Henry drei Torten gebacken und zwei Quiches, und die Suppe für den nächsten Tag ist auch fertig. Alle Teller, Tassen und Gläser sind gespült, alle Schüsseln und Kuchenformen. Henry hat den Boden gewischt, so gut es geht um mich herum, denn ich sitze immer noch auf der Blechtonne und heule.

Draußen...

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Lioba Werrelmann, Jahrgang 1970, stammt aus dem Rheinland, hat Politische Wissenschaften studiert, volontierte und ist seit 1989 für verschiedene Tageszeitungen, Radio- und TV-Anstalten (WDR/ARD) als Redakteurin und Kommentatorin tätig, vor allem in Köln und Berlin. 2014 erschien ihr autobiografisches Sachbuch STELLEN SIE SICH NICHT SO AN. HINTERHAUS ist ihr erster Kriminalroman.
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