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Der Morgen, an dem mein Vater aufstand und verschwand

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
256 Seiten
Deutsch
Aufbau Verlage GmbHerschienen am08.05.20201. Auflage
Als Ida den Anruf erhält, sie soll nach Hause kommen, lebt sie schon seit über zwanzig Jahren nicht mehr in ihrer Heimatstadt Messina. Sie muss ihrer Mutter helfen, die Wohnung ihrer Kindheit aufzulösen - der Ort, den ihr Vater eines Morgens verließ, um nie mehr wiederzukehren. Da war Ida dreizehn, der Vater depressiv, die Mutter hilflos. Im Schweigen und gequält von Erinnerungen wächst Ida auf und verlässt Sizilien, so schnell sie kann. Nun folgt sie dem Ruf der Mutter und kehrt zurück in die Stadt zwischen zwei Meeren und in eine Vergangenheit, die sie immer noch nicht loslässt ... 'Ein Meisterwerk - Nadia Terranova beschreibt eine universell weibliche Erfahrung.' L'Espresso. 'Nadia Terranova schreibt mit ungeheurer Prägnanz und Sensibilität.' Annie Ernaux. 'Intensiv und wunderschön - voller Nostalgie.' DONNA.


Nadia Terranova, 1978 in Messina geboren, lebt in Rom. Ihr Romandebüt wurde mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet. Sie ist Autorin mehrerer Kinder- und Jugendbücher und schreibt als Journalistin unter anderem für 'Repubblica'. 'Der Morgen, an dem mein Vater aufstand und verschwand' wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und ist für den Premio Strega, den wichtigsten italienischen Literaturpreis nominiert.
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Produkt

KlappentextAls Ida den Anruf erhält, sie soll nach Hause kommen, lebt sie schon seit über zwanzig Jahren nicht mehr in ihrer Heimatstadt Messina. Sie muss ihrer Mutter helfen, die Wohnung ihrer Kindheit aufzulösen - der Ort, den ihr Vater eines Morgens verließ, um nie mehr wiederzukehren. Da war Ida dreizehn, der Vater depressiv, die Mutter hilflos. Im Schweigen und gequält von Erinnerungen wächst Ida auf und verlässt Sizilien, so schnell sie kann. Nun folgt sie dem Ruf der Mutter und kehrt zurück in die Stadt zwischen zwei Meeren und in eine Vergangenheit, die sie immer noch nicht loslässt ... 'Ein Meisterwerk - Nadia Terranova beschreibt eine universell weibliche Erfahrung.' L'Espresso. 'Nadia Terranova schreibt mit ungeheurer Prägnanz und Sensibilität.' Annie Ernaux. 'Intensiv und wunderschön - voller Nostalgie.' DONNA.


Nadia Terranova, 1978 in Messina geboren, lebt in Rom. Ihr Romandebüt wurde mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet. Sie ist Autorin mehrerer Kinder- und Jugendbücher und schreibt als Journalistin unter anderem für 'Repubblica'. 'Der Morgen, an dem mein Vater aufstand und verschwand' wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und ist für den Premio Strega, den wichtigsten italienischen Literaturpreis nominiert.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783841219565
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2020
Erscheinungsdatum08.05.2020
Auflage1. Auflage
Seiten256 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.4968721
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Eines Morgens Mitte September rief meine Mutter mich an und teilte mir mit, dass in ein paar Tagen die Dacharbeiten an unserem Haus beginnen würden. An unserem Haus, sagte sie. Dabei hatte ich schon lange ein anderes Haus in einer anderen Stadt, eine Wohnung, um die ich mich kümmerte und die ich zusammen mit einem anderen gemietet hatte. Es gab kein Haus mehr, das ich unseres nannte, das Namensschild war bei meinem Auszug abgefallen, und in den Jahren danach hatte ich sorgsam und mit aller Härte jede Erinnerung daran gelöscht. Ich wusste ja, dass die Decke herunterkam - das tat sie seit meiner Geburt, mein Leben lang war der Putz gebröckelt und der Staub gerieselt -, doch die Verantwortung lag nicht bei mir, niemand steht in der Schuld für Dinge, die er nicht will und deren Erbe er bereits ausgeschlagen hat. Ich schrieb erfundene wahre Geschichten für das Radio, die sich einer unerwarteten Beliebtheit erfreuten, ich hatte einen Mann, eine Arbeit, eine andere Stadt, neue Abende und eine andere Zeit.

Meine Mutter sagte, sie habe sich immer allein um alles kümmern müssen, das Haus werde ihr zur Last, sie sei müde, und das Dach zu erneuern, die Bodenfliesen für das Flachdach, das zugleich als Terrasse diente, sei ihre letzte gute Tat für die Wohnung, unmöglich könne man sie so baufällig zum Verkauf anbieten, um anschließend eine kleinere, solidere zu erstehen. Sie sagte, eine Firma würde die tiefen Risse reparieren, die auf Unwetterschäden, schlechte Dämmung und alte Ausbauarbeiten der Nachbarn zurückgingen; währenddessen würden sie und ich in unserem Haus - wieder: unser Haus - unter dem Dach und den Füßen der Bauarbeiter die Möbel, Einrichtungsgegenstände und Bücher durchgehen und langsam mit dem Ausräumen beginnen: Sie wolle sich schließlich nicht eines Tages vorwerfen lassen, meine Sachen weggegeben zu haben, daher müsse ich kommen und entscheiden, wovon ich mich trennen wolle.

Ich dachte, das ist einfach, außer an einer roten Blechdose ganz hinten in einer Schublade hing ich an nichts.

Ich packte das Nötigste in einen Koffer und kaufte im Internet eine Zugfahrkarte für tags darauf: Die ganze kalabrische Küste entlang würde ich aus dem Fenster schauen, bis Villa San Giovanni, dort die Fähre nach Messina besteigen und schließlich bei meiner Mutter ankommen und ihr die gewünschte Hilfe bringen.

In der Nacht träumte ich, dass ich ertrank.

Der Fuß meines Mannes berührte leicht mein Bein, irgendwann verließ ich die wohlige Wärme unter der Decke und stieg langsam ins Wasser.

Ich ging, als wüsste ich wohin, und das Wasser spülte mir frisch um die Knöchel, die Waden, die Knie und die Oberschenkel, um die Hüften, den Bauch, die Brüste und die Schultern, schließlich um Kinn und Mund, und als ich etwas sagen wollte, wurde ich von einer Welle verschluckt und verschwand. Eben ging ich noch, da ertrank ich schon: Mein Blick verschwamm nicht, und meine Kräfte schwanden nicht, es geschah nichts weiter, ich ging einfach ins Meer, und mein Körper hörte auf zu sein.

Ich erwachte und setzte mich auf. Leise rief ich nach Pietro, meinem Mann, nicht weil ich ihn brauchte, sondern weil ich ihn vom Umstand meines Sterbens nicht ausschließen wollte. Es schien mir wichtig, das Sterben, und er sollte sein Zeuge sein. Meine Arme und Achseln waren schweißnass, auch meine Stirn und Schultern, er fasste mich am Ellbogen, schlug schwerfällig die Augen auf und richtete sich neben mir im Bett auf. Es gab nichts zu sagen, das mich getröstet hätte, und von meinem Traum, so spürte ich, konnte ich weder das Ausmaß noch die Angst mit ihm teilen.

Einmal, es war über zehn Jahre her, als wir uns erst einige Wochen kannten, hatte ich ihm vorgeworfen, sich nur wenig für meine Alpträume zu interessieren, während meine Großmutter väterlicherseits mich als Kind immer ermuntert hatte, von ihnen zu erzählen, wenn du sie nicht erzählst, wirst du sie nicht los, hatte sie immer gesagt, und nun war sie nicht mehr da, und wenn er mich nicht fragte, konnte ich nicht von ihnen erzählen und wurde gar nichts los. Also begann Pietro mich nachts zu fragen, wie es mir ging, wenn ich aus dem Schlaf hochschrak, und bevor er morgens zur Arbeit aufbrach: Erzähl mir, was du geträumt hast, wieder und wieder, und ich versuchte ihm zu antworten, doch es gelang mir nicht, man kann Dinge nicht einfach aus einer Zeit in eine andere tragen, sie sind gut da, wo sie sind, und es gibt einen Grund, warum Erinnerungen besser Erinnerungen bleiben und nicht störend in die Gegenwart hineinreichen sollten. Es war ein Fehler gewesen, ihm von meiner Großmutter zu erzählen: Bei ihr in den alten, duftenden Laken floss die Erzählung ganz natürlich aus mir heraus, ihm gegenüber hatte ich Mühe, mich zu öffnen. So war es auch jetzt, keiner von uns hatte Lust auf Worte, und unsere Abmachung lag lange zurück, genau wie die Zeiten, als wir Angst mit Leidenschaft beantworteten und Alpträume mit Sex.

Ich griff nach der Plastikflasche mit Wasser auf dem Nachttisch und trank in langen Zügen. Mein Mann strich mir über den Rücken, mit der Liebe, die wir damals füreinander hatten, einer müden Liebe aus niemals zu intim werdenden Händen, die den Bauch streichelten, sich verzweifelt in ein Stück Unterhemd krallten, in den Bund eines Slips, einer Liebe, die selten etwas anderes wurde oder darüber hinausging, die sich um sich selbst drehte und uns von alleine wieder entzweite, sodass nach einer kurzen Illusion erneut zwei sorgsam getrennte Größen aus uns wurden. Ich trank und schluckte, und Pietro nahm meinen Arm, ich streckte mich aus, und er streckte sich aus, ich drehte mich auf die Seite, und er drehte sich zuerst zu mir, eng an meinen Rücken geschmiegt, dann zur anderen Wand, bis wir uns schließlich Rücken an Rücken in den Schlaf zu wiegen versuchten. Er folgte mir mühsam und schlaftrunken, in seiner Art, mich zu lieben, in der Art, wie zwei Menschen sich nach zehn Jahren noch lieben können; wir waren an einem Punkt angelangt, an dem unsere Körper nicht mehr miteinander funktionierten, sich im Schlaf und im vorausgehenden Halbschlaf nicht mehr ineinander verhakten, wir waren zu abstoßenden Polen geworden.

Sex ist eine Sprache, und in der ersten Zeit unserer Beziehung waren zwischen Pietro und mir viele Worte gewechselt worden, als ich aus Sizilien und vor einer verstümmelten Familie voller Schweigen geflohen war und er mich in Rom aufgenommen hatte und mir gleichzeitig Freund, Vater und Bruder gewesen war. Damals hatte ich zusammen mit der Stadt ein neues Ich entdeckt, und er war da, immer da, und seine Verfügbarkeit hatte mich gerührt. In jenen ersten Monaten hatten wir uns ausgezogen, wann immer es ging, und wenn wir uns bis zur Erschöpfung geliebt hatten, waren wir glücklich, obwohl wir hätten gewarnt sein können, dass es nicht auf Dauer sein würde: Niemals liebten wir uns zweimal, das erste Mal war uns genug, worauf wir uns langsam wieder voneinander entfernten und ankleideten. Was wir suchten, gaben wir uns innerhalb kürzester, nie andauernder Zeit, unverzüglich kehrten wir in jene Fremdheit zurück, die das Maß unserer Anziehung bestimmte. Doch bald schon - zu bald für eine Liebe, die die Liebe des Lebens sein sollte - wurde uns die Fremdheit zum Feind. Unsere Körper waren nicht länger ein Ort der Sprache. Die Zärtlichkeit übertrug sich in die Gesten des Alltags, in die Gespräche und Mühen, und selbst wenn wir tagsüber stritten, taten wir uns niemals wirklich weh: Wir lebten im Schatten des jeweils anderen und wachten übereinander mit einer Sorge, die ich nie zuvor erlebt hatte; nach dem Ende des Verlangens kultivierten wir noch eine Weile unser Ritual, uns gegenseitig Genuss zu bereiten, bis auch dieser Austausch unbrauchbar wurde wie ein altes Wörterbuch.

Die Schuld lag bei mir, das wusste ich. Bestimmt hatte ich mich zuerst verschlossen, so wenig, wie ich an Öffnung und Gemeinschaft gewöhnt war.

Doch Pietro, und nur ihm, hatte ich die Geschichte meines Vaters erzählt, und er hatte nichts entgegnet, hatte die Anomalie akzeptiert. Wir kannten uns seit drei Wochen und waren beide Anfang zwanzig, als er zu unserer ersten echten Verabredung ein Geschenk mitgebracht hatte: Darin lagen ein blaues Skater-T-Shirt und ein Tagebuch mit festem Einband. In jenem Moment sah ich den Mann vor mir, auf den ich gewartet hatte. Er wusste nicht, dass ich als Kind lange Rollschuh gelaufen war, er wusste nicht, dass ich meinen in den Schubladen verborgenen Tagebüchern viel von mir erzählt hatte. Und doch wusste er es.

So hatte ich ihm gebeichtet, dass mein Vater verschwunden war, als ich dreizehn war. Nicht gestorben, sondern im wahrsten Sinne des Wortes verschwunden, fuhr ich fort, während ich bang auf die gefürchtete Frage wartete: Deine Mutter und du, habt ihr denn nichts getan, um ihn zurückzuhalten?

Doch diese Frage hatte Pietro nicht gestellt. Er fragte überhaupt nichts, lauschte aufmerksam den wenigen Sätzen, die ich ihm zugestand: Mein Vater, Gymnasiallehrer, hatte eines Morgens das Haus verlassen und war nicht mehr zurückgekehrt. Dann wechselte er das Thema. Er sagte, die Arbeit, der ich an der Mittelschule nachging, sei nicht das Richtige für mich; das Leben der anderen, der Schüler, Eltern und Kollegen, würde mich überfordern, bald schon wäre ich fremdbestimmt und unglücklich. Er sagte nicht, dass man ein Leben nicht von Neuem leben könne, dass es keinen Sinn ergebe, das Leben meines Vaters nachzuahmen und selbst Lehrerin zu werden: Seine Betonung lag auf etwas anderem. Das Gedränge in den Klassenzimmern und Schulfluren würde mich überanstrengen, lieber solle ich...
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Autor

Nadia Terranova, 1978 in Messina geboren, lebt in Rom. Ihr Romandebüt wurde mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet. Sie ist Autorin mehrerer Kinder- und Jugendbücher und schreibt als Journalistin unter anderem für "Repubblica". "Der Morgen, an dem mein Vater aufstand und verschwand" wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und ist für den Premio Strega, den wichtigsten italienischen Literaturpreis nominiert.