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Serenade

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
176 Seiten
Deutsch
Diogeneserschienen am22.04.20201. Auflage
Die Geschichte eines Sohnes, der seine Mutter neu für sich entdeckt. Und ein aufrüttelndes Buch über die Ohnmacht von uns allen, die wir die Nachrichten verfolgen, die wir über das Schreckliche in der Welt informiert werden, doch nicht imstande sind, etwas dagegen zu tun.

Leon de Winter, geboren 1954 in 's-Hertogenbosch als Sohn niederländischer Juden, arbeitet seit 1976 als freier Schriftsteller und Filmemacher und lebt in den Niederlanden. 2002 erhielt er den ?Welt?-Literaturpreis, 2006 die Buber-Rosenzweig-Medaille für seinen Kampf gegen Antisemitismus, und 2009 wurde er mit dem Literaturpreis der Provinz Brabant für Das Recht auf Rückkehr ausgezeichnet. Seine Romane wurden in 20 Sprachen übersetzt, zuletzt erschienen bei Diogenes ?Ein gutes Herz? (2013) und ?Geronimo? (2016).
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR12,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR5,99

Produkt

KlappentextDie Geschichte eines Sohnes, der seine Mutter neu für sich entdeckt. Und ein aufrüttelndes Buch über die Ohnmacht von uns allen, die wir die Nachrichten verfolgen, die wir über das Schreckliche in der Welt informiert werden, doch nicht imstande sind, etwas dagegen zu tun.

Leon de Winter, geboren 1954 in 's-Hertogenbosch als Sohn niederländischer Juden, arbeitet seit 1976 als freier Schriftsteller und Filmemacher und lebt in den Niederlanden. 2002 erhielt er den ?Welt?-Literaturpreis, 2006 die Buber-Rosenzweig-Medaille für seinen Kampf gegen Antisemitismus, und 2009 wurde er mit dem Literaturpreis der Provinz Brabant für Das Recht auf Rückkehr ausgezeichnet. Seine Romane wurden in 20 Sprachen übersetzt, zuletzt erschienen bei Diogenes ?Ein gutes Herz? (2013) und ?Geronimo? (2016).
Details
Weitere ISBN/GTIN9783257610291
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Verlag
Erscheinungsjahr2020
Erscheinungsdatum22.04.2020
Auflage1. Auflage
Seiten176 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse865 Kbytes
Artikel-Nr.5152495
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Meine Mutter litt seit Jahren unter Rückenschmerzen. Wir hatten schon etliche Spezialisten zu Rate gezogen, von qualifizierten Medizinern bis hin zu herumdokternden Quacksalbern, und Diagnosen erhalten, die von altersbedingten Verschleißerscheinungen bis hin zu negativen Erdstrahlen unter ihrer Wohnung reichten.

Als ich hörte, daß die Universitätsklinik Amsterdam sich einen neuen Scanner zugelegt hatte, ließ ich sie gleich auf die Warteliste setzen. Die Wundermaschine konstatierte ganz ordinäre Gallensteine. Endlich hatten wir eine fundierte Erklärung für die Krämpfe, die sie bisweilen mehrere Tage lang quälten. Gallensteine sagten uns was. Kleine Kiesel in ihrem Bauch. Die Ärzte beteuerten, daß deren Entfernung nicht länger als eine halbe Stunde dauern würde. Bis zur völligen Genesung würden dann nicht mehr als drei Tage »stationäre Nachbetreuung« nötig sein.

Hundert Minuten nach Beginn der Operation, nach acht Bechern Kaffee und ausgiebiger Lektüre des Telegraaf einschließlich der erotischen Kontaktanzeigen, schwante mir allmählich, daß die Operation wohl anders verlief, als man es uns prophezeit hatte. Mannhaft klammerte ich mich an den Gedanken, daß meine Mutter immerhin vierundsiebzig und jede Operation anders war; es würde schon gutgehen.

Es dauerte noch einmal zwei Stunden, bis eine Schwester mich davon unterrichtete, daß meine Mutter auf die Intensivstation gebracht worden war.

Sie lag, an Apparate und Schläuche angeschlossen, in einem hellen Zimmer, und ihr kleines Gesicht sah ohne das Gebiß, das man ihr herausgenommen hatte, alt und müde aus. Wie sie immer wieder stolz verkündete, schätzten flüchtige Bekannte sie auf höchstens fünfundsechzig, aber diese Illusion war nun zerstört. Ihre Augenhöhlen waren dunkelblau, ihre eingefallenen Lippen aufgesprungen.

Während ich mich über sie beugte und flüsterte, daß sie in ein paar Tagen wieder zu Hause sein werde, rang sie bewußtlos nach Atem. Sie war nur noch ein Schatten der Frau, die gestern abend munter und vertrauensvoll der Erlösung von den Gallensteinen entgegengesehen hatte. Warum hatte die Operation so lange gedauert?

Neben mir tauchte der Internist auf, der auch ihr Chirurg war. Ein Multitalent.

»Herr Weiss«, sagte er.

Ich gab ihm die Hand und brachte die stumpfsinnige Frage heraus: »Ist alles gut gelaufen?«

Er bat mich, ihn auf den Gang hinauszubegleiten.

Die Tür fiel hinter uns zu, und er wartete einen Moment, bis er genügend Mut gefaßt hatte, um mir den ersten Schlag zu verpassen. Er sagte: »Die Operation selbst ist eigentlich gut verlaufen. Aber Ihre Mutter wird nicht so bald nach Hause können.«

»Warum nicht?«

»Wir haben einen Tumor gefunden. Ein Geschwür, das sich um Gallenblase und Leberausgang gewickelt hat, ein Gallenblasenkarzinom, und das läßt sich nicht behandeln, da ist nichts zu machen, schlechte Prognosen.«

»Was sind schlechte Prognosen?« wollte ich wissen. Meine Stimme zitterte. Aber solange ich redete und Fragen stellte, konnte ich den Anschein von Normalität wahren.

»In der Regel weniger als ein Jahr.«

»Sie hat nicht mal mehr ein Jahr zu leben?«

»Ja. Selbst bei jüngeren Menschen in besserer körperlicher Verfassung als Ihre Mutter führt ein solches Karzinom binnen kurzem zum Tod.«

»Sie hatte schon ewig Rückenschmerzen. Vielleicht hat sie das Geschwür schon lange und kann noch Jahre damit leben«, warf ich blindlings ein.

»Leider ist das in den allermeisten Fällen nicht so«, antwortete der Internist, ein junger Mann in meinem Alter, der den Bauch meiner Mutter aufgeschnitten und darin das Antlitz des Todes gesehen hatte.

»Wird sie Schmerzen haben?«

»Wir konnten das Geschwür nicht vollständig entfernen. Der Leberausgang wird eines Tages abgeschnürt werden. Das wird sehr schmerzhaft für Ihre Mutter sein.«

»Ein Leidensweg?«

»Ja.«

»Was können Sie dagegen tun?«

»Den Schmerz lindern.«

Ich ging in ihr Zimmer zurück und hoffte, daß ihr Bewußtsein vom Morphin in schönere Gefilde befördert worden war, zu Tulpenfeldern in tausenderlei Farben und endlos weiten Panoramen, bis zu den Sternen hinter den fernsten Sonnensystemen.

Ich beschloß, ihr nichts zu sagen. Ich wußte, wie sie reagieren würde. Krebs war ein Wort, das nicht ausgesprochen wurde. Davon sprechen hieß es beschreien. Hin und wieder stöhnte sie.

Niemand hatte das Recht, ihr zu sagen, daß sie in einem Jahr nicht mehr zum Telefonhörer greifen würde, um mich über den zweifelhaften Charakter Arafats ins Bild zu setzen, »dieser Halunke mit seinem Geschirrtuch, dem trau ich nicht, auch wenn er jetzt lächelt und nach Gaza geht«. Niemand hatte das Recht, die Tage, die ihr noch blieben - ein KLM-Abreißkalender mit zwölf Farbfotos von Deichen, Reisfeldern, Berggipfeln und Gletschern -, durch das Geschwätz quacksalbernder Mediziner zu verdüstern.

Mit dem Bewußtsein, daß in ihrem Bauch eine Zeitbombe tickte, würde sie keinen Tag mehr atmen können. Für sie dehnte das Leben sich so endlos aus wie das Weltall. Sollte sich ein plötzliches Ende abzeichnen, würden die glorreichen Kümmernisse, die ihr Sohn, die Präsidentschaft der Vereinigten Staaten von Amerika, Israel, die Qualität des Fleisches von der Metzgerei Hergo, die Qualität des Brotes von der Bäckerei Van Muyden, die Qualität des Kaffees im Café-Restaurant Delcavi, die Rostflecken an meinem Citroën DS und die Folgen der Serie The Bold and the Beautiful ihr bereiteten, von dem Bewußtsein verdrängt werden, daß alles keinen Sinn mehr hatte.

Sie zeigte eine unbändige, fast kindliche Neugier für die Beschaffenheit des Alltäglichen , wie Inge es nannte. Wenn ein Spatz vom Dach fiel, dann meldete sich ihre Intuition zu Wort wie ein Hund, der sein Herrchen wittert. Sie war spezialisiert auf das Unansehnliche, Unscheinbare, Unwichtige. Mehr als einmal hatte sie mich schier zum Wahnsinn getrieben mit ihrem endlosen telefonischen Sermon über das Blumenmotiv einer Tischdecke oder das Problem meines klapprigen DS, der, so ihre bescheidene Meinung, meinem Status nicht angemessen sei, aber sie konnte nun mal nicht anders: Für sie hatte noch die geringste Nebensächlichkeit Bedeutung.

In den vergangenen zehn Jahren hatte sie sich mindestens einmal jährlich untersuchen lassen, und alle Spezialisten hatten sich der Reihe nach geirrt. Gallensteine. Vielleicht war auch der neue Befund ein Versehen.

 

Bevor ich meine Mutter am nächsten Morgen in ihrem Zimmer aufsuchte, bat ich die Ärzte, sie nicht über den Ernst ihrer Krankheit aufzuklären.

Der Internist, sein Assistent und die Pflegeleitung versuchten mich zwar davon zu überzeugen, daß es falsch sei, wenn ich meine Mutter auf diese Weise schonen wollte, aber ich blieb unerschütterlich. Widerstrebend fügten sie sich meinem Wunsch.

 

Als ich hereinkam, schlief sie. Ohne eine Reaktion zu erwarten, sagte ich, daß ich ihr Blumen mitgebracht hätte. Sofort schlug sie die Augen auf und betrachtete den Strauß mit trübem Blick.

»Tag, Mam.«

»Schön«, sagte sie schwach.

»Ich werde gleich die Schwester um eine Vase bitten.«

»Nicht zu kalt, das Wasser«, hauchte sie.

»Ich werde es ihr sagen. Alles gut gelaufen, hm?«

Sie zog leicht die Schultern hoch und versuchte zu lächeln. So ist das Leben. Krank werden und sich wieder aufrappeln.

Zwei Schläuche führten von einem Sauerstoffapparat zu ihren Nasenlöchern, durch eine Infusion wurde ihr Flüssigkeit zugeführt, und machtlos grinsend stand ich über sie gebeugt.

Sie flüsterte: »Weißt du jetzt endlich, was du dir zum Geburtstag wünschst?«

Während ein Ungeheuer ihr Gallenblase und Leber wegfraß, dachte meine Mutter an meinen Geburtstag.

»Mam, ich hab gerade erst Geburtstag gehabt! Ist das denn jetzt so wichtig? Mein nächster Geburtstag?«

»An was soll ich denn sonst denken?« In ihr Gesicht trat ein Ausdruck des Erstaunens. Immer noch sprach sie leise, aber ihre Stimme war fest.

»Keine Ahnung.«

»Eine Strickjacke«, schlug sie vor.

»Eine Strickjacke? Ich trage nie Strickjacken.«

»Ja, und weißt du auch, warum? Du hast keine Strickjacke.«

»Eine Strickjacke«, wiederholte ich zustimmend.

»Mit einem Muster?« Das war eine rein rhetorische Frage, denn über meine Vorliebe für schlichte Kleidung war sie längst im Bilde.

»Nein. Schlicht.«

»Ich hab nämlich schöne Strickjacken gesehen mit einem hübschen Muster oder zweifarbig.«

»Ganz schlicht«, befand ich.

»Das ist so langweilig«, meinte meine Mutter, mittlerweile erschöpft, aber bereit, den Tod herauszufordern, denn eine Strickjacke für ihren Sohn war das Sterben wert. »Bei dir muß immer alles einfarbig und schlicht sein. Auch deine Oberhemden sind immer schlicht.«

»Ich liebe die Einfachheit.«

»Wieso kann nicht auch eine Strickjacke mit einem hübschen Muster einfach sein?«

»Weil sie ein Muster hat, Mam.«

»Etwas kann einfach sein, auch wenn es ein Muster hat.«

»Für mich nicht.«

»Ach, du mußt dich auch immer abheben. Einfarbig und schlicht ist so altmodisch. Das hat man doch im Nu satt.«

Sie schloß die Augen und beendete das Gespräch. Gespannt wartete ich, ob sich ihre Brust heben und senken würde, und ja, zum Glück atmete sie weiter. Sie schlief. Ich zog mich leise zurück.

Meinem letzten Geburtstag war ein ausführlicher Gedankenaustausch über einen schönen Kamelhaarmantel, einen Anzug, Schuhe, Oberhemden...
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