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Selbstportrait mit Frau

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
256 Seiten
Deutsch
Diogeneserschienen am28.07.20211. Auflage
»Selbstportrait mit Frau stellt die Unfähigkeit zu einer wahren, tiefen Liebe zwischen Mann und Frau dar. Auf einer anderen Textebene versuche ich aber eine viel allgemeinere Überlegung mitzuteilen, nämlich die, daß die Unfähigkeit zu lieben ein Charakteristikum unserer Zeit ist, ganz unabhängig davon, ob jemand in der vollkommensten Demokratie oder im schlimmsten Totalitarismus lebt.«

Andrzej Szczypiorski, geboren 1928 in Warschau, nahm 1944 am Aufstand dieser Stadt gegen die deutsche Besatzung teil, kam ins KZ, betätigte sich nach dem Krieg als Schriftsteller und Publizist und wurde Mitglied des Vorstandes des polnischen PEN-Clubs und des Schriftstellerverbandes. 1989 wurde er von Solidarnosc als Kandidat aufgestellt und vom Volk in den polnischen Senat gewählt. Er erhielt den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur und das Bundesverdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland. Szczypiorski starb 2000 in Warschau.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR12,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR9,99

Produkt

Klappentext»Selbstportrait mit Frau stellt die Unfähigkeit zu einer wahren, tiefen Liebe zwischen Mann und Frau dar. Auf einer anderen Textebene versuche ich aber eine viel allgemeinere Überlegung mitzuteilen, nämlich die, daß die Unfähigkeit zu lieben ein Charakteristikum unserer Zeit ist, ganz unabhängig davon, ob jemand in der vollkommensten Demokratie oder im schlimmsten Totalitarismus lebt.«

Andrzej Szczypiorski, geboren 1928 in Warschau, nahm 1944 am Aufstand dieser Stadt gegen die deutsche Besatzung teil, kam ins KZ, betätigte sich nach dem Krieg als Schriftsteller und Publizist und wurde Mitglied des Vorstandes des polnischen PEN-Clubs und des Schriftstellerverbandes. 1989 wurde er von Solidarnosc als Kandidat aufgestellt und vom Volk in den polnischen Senat gewählt. Er erhielt den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur und das Bundesverdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland. Szczypiorski starb 2000 in Warschau.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783257612264
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Verlag
Erscheinungsjahr2021
Erscheinungsdatum28.07.2021
Auflage1. Auflage
Seiten256 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1060 Kbytes
Artikel-Nr.5864254
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


Er hörte jetzt das Rauschen in der Leitung. Warmer, schmutziger Regen floß die Scheiben hinunter. Die Luft roch nach Ruß oder nach einem unbekannten Gift.

Dienstag, dachte er. Es ist so sinnlos, daß wir Dienstag haben. Aber auch alles andere war sinnlos. Er hörte deutlich das Rauschen im Hörer.

Ein junger Mann in Jeans und stark abgewetzter Lederjacke stand am nächsten Automaten. Er trug weiße, feuchte Adidasschuhe und hüpfte tänzerisch auf und ab, doch ohne Gefühl für Rhythmus, töricht und gedankenlos, als wollte er seine durchnäßten Füße aufwärmen. Er war rothaarig, hatte kleine, schräg gestellte, böse Augen und schlechte Zähne. Er roch nach Pfefferminz, vielleicht vom Kaugummi, und sprach mit einem singenden Akzent in den Hörer, dabei benutzte er die geheimnisvolle Sprache der ungewaschenen und stumpfsinnigen Auserwählten des Schicksals, unablässig sagte er nu, eigentlich war das fast alles, was er sagte, Kamil war bereit zu schwören, daß sie ebenso antwortete, er vernahm im Hörer des jungen Mannes ihr fernes, gedämpftes nu, so verständigten sie sich in der Sprache der Menschenfresser oder längst ausgestorbener, fossiler Tiere, aber vielleicht hatte er auch die Fähigkeit zu sprechen verloren, weil die anderen immer nu sagten, ein Schlüsselwort, das in ihrer Sprache sehr viel bedeutete, vielleicht sogar alles, nu, sagten beide, nu, Hala, nu, gehen wir, nu, Dzidek, nu, nein, nu, ja, nu, Hala, nu ... so redeten sie, als ob sie sich aus dem Abgrund des Schlafs etwas zuriefen, und Kamil dachte schließlich, die sind klüger, nu, sind klüger, nu, man muß sterben an diesem Telefon, nu, sie log also doch, nu, vor weniger als einer Stunde hatte sie mit derselben Sprache der Unwahrheit, mit der sie mich umgarnen wollte, der Sprache der Lüge und des Verrats meine Lippen gestreift und dabei genau gewußt, daß die Stunde von Lüge und Verrat kommen würde. Und was sagst Du dazu, Gott der Dichter und der Maultiertreiber, nu? Nu, Hala, nu, Dzidek, nu, Jesus Christus, Erlöser der Sünder, wo ist Deine Fürsorge für mich, für diesen besseren Schächer, der zu Deiner Rechten hängt und dem Du das Himmelreich versprochen hast? Nu, Hala, nu, Dzidek, nu, Herrgott, wo sind Deine Posaunen von Jericho, durch deren Klang die Mauern der Unfreiheit und Lüge einstürzen?

Ein feiner Regen fiel, die Chaussee war feucht, stark befahren, sie glänzte im silbernen Licht der Scheinwerfer. Schwere Lastwagen rollten vorüber, das Gedröhn ihrer Motoren erfüllte die regennasse Luft, und trotzdem war es sehr still, die Welt schien tot oder eingeschlafen oder hatte die Augen geschlossen wie müde alte Leute, wenn sie anderen Gutes tun oder sie segnen wollen.

Das Auto hatte am Chausseerand gestanden, der Regen peitschte, die Scheiben beschlugen, Dämmerung, nur die Scheinwerfer der großen Lastwagen zitterten in der feuchten Luft, ein seltsamer Geruch ringsum und eine Unruhe in ihren Händen, die plötzlich sein Gesicht streichelten. Er sah im Dunkel ihr aschblondes Haar, nach hinten gekämmt, im Nacken von einer Spange gehalten. Undeutlich nahm er ihre Züge wahr, die er aus seinen Träumen kannte. Sie trug eine hellrote Bluse, Jeans und Schuhe mit hohen Absätzen, sie war groß, schlank, hatte warme Hände, etwas aufgeworfene Lippen und grüne Augen im dunklen Rahmen.

Ja, dachte Kamil, damals, im Licht der starken, vorbeigleitenden Scheinwerfer hat sie mich geküßt. Aber als ihre Lippen sich näherten, dachte ich, sie würden meine Wange berühren. Das wollte ich nicht. Ich wollte einen Kuß von ihr, darum berührte ich ihre Lippen mit meinen Lippen. Einen Augenblick lang dachte ich, ich befände mich in der Welt meiner ersten Erfahrungen; da wußte ich noch nicht, ist das ein Geschmack, ein Duft oder vielleicht ein Atemzug. Ein sehr sanftes und reines Erlebnis, das ich seit Jahren nicht gehabt hatte, denn ich bin ein Sünder und habe mir viele Gemeinheiten zuschulden kommen lassen, ich verdiente nicht, was sie mir schenkte.

Er stand reglos und lauschte immer noch dem Rauschen in der Leitung des toten Telefons. Der schmutzige Kerl in Jeans war in seine Höhle gegangen. Rundum roch es nach Lysol. Auf dem verdreckten Fußboden sah man die Spuren zahlreicher Schuhe.

Ich werde sterben, sagte er sich, weil ich so nicht leben kann. Schau her, wer hätte das gedacht. Ich, von dem es einst hieß, ich hätte Augen wie goldene Bienen, so hatte sich Teofanu ausgedrückt, und nun schau, was vorgeht. Hast du eine Uhr? Wie spät ist es? Neun Uhr. Sieben Minuten vor neun. Und wo bin ich? Ich bin in der Hauptstadt Warschau, die einst dem Teufel zum Raub überlassen, aber mit Gottes Hilfe gerettet wurde, um weiter zu sündigen, Unzucht zu treiben, niederträchtig zu sein und auf die Wiederkunft zu warten.

Eine äußerst wichtige Frage: Warum hat sie gelogen?

Vielleicht kann sie nicht anders? Nicht jede kann in Wahrheit leben.

Andere Frauen haben ihn erzogen, dachte er. Feuer und Wasser, Überschwemmung und Dürre, Licht und Schatten, alles war diesen Frauen gegeben, sie erhielten den besseren Teil. Aber es gab sie nicht mehr.

Vielleicht kann sie nicht anders, vielleicht hat man sie so erzogen in diesem Reich der Lüge, des Betrugs und der Gemeinheit, darum ist es nicht ihre Schuld, schau mal in die Runde, soweit das Auge reicht, erstreckt sich hier eine völlig flache, ptolemäische Welt, wo keine Sünde den Menschen überrascht, weil alle banal geworden sind.

Auch ihre Männer sind nicht schuldig, dachte er. Sie können doch keine Verantwortung übernehmen für das ganze Elend der ihnen gegebenen Welt. Sind sie etwa schuld daran, daß das Leben ihnen Prüfungen erspart hat?

Sie sind besser, dachte er, weil sie einfach nicht so erschöpft sind, weil sie noch Chancen haben, sich zu bewähren, während er selbst alle vertan hatte. Und was ist mit meiner Freiheit, fragte er, was ist mit ihr, o Gott? Du sollst nicht gegen den Stachel löcken, sagt die Schrift. Das habe ich nie getan. Doch mit welchem Stachel, Herr, hast Du auf meine Brust gezielt? Ich habe Besseres verdient. Wenn ich von der Erdoberfläche verschwinden soll, dann bitte pathetischer. Schämst Du Dich nicht, Gott der KZs und der Gulags, Deiner Kleinlichkeit? Wo steckst du denn, Schubert, wenn du wirklich gebraucht wirst? Wo treibst du dich herum, Schubert, im Moment, da wir nebeneinander stehen müßten, Schulter an Schulter? Und welchen Nutzen habe ich von dir, Schubert, wenn du mich in einer so wichtigen Stunde allein läßt?

Er stand und starrte auf die Telefonapparate, dann auf die Straße hinter der Scheibe, in den Regen. Nu, nu, dachte er, nu, nu, ich kenne ihre Sprache nicht, es ist die Sprache der Wilden, nu, nu, wo warst Du denn, Herr Gott, als sie log, Du kannst doch einen Menschen anschreien, Du kannst ihn ausschimpfen ohne Maß und Ziel, wenn er beabsichtigt, falsch Zeugnis abzulegen, oder die Frau seines Nächsten begehrt, aber Du rührst keinen Finger, wenn sie einen ganz uneigennützigen Verrat begeht. Sie mußte das schließlich nicht tun, sie konnte mir sagen, scher dich zum Teufel, nu, nein, nu, ich habe keine Lust, und noch ein paarmal nu, ich hätte es ja schließlich verstanden ... Aber der Mensch ist ein Wesen, das Verantwortung übernehmen muß, wenn sie also dort, im Schein der Lichter auf der Chaussee im Regen und mit klopfendem Herzen diesen armen Halunken geküßt hat, der allen Tyrannen der Epoche entkommen war - warum war sie dann eine Stunde später bereit zu lügen?

Einsam stand er in der dunklen, schmutzigen Halle, wo an den Wänden die Telefonapparate hingen. Jemand, der gerade gegangen war, hatte vergessen, den Hörer einzuhängen, und Kamil hörte das aufdringliche Brummen, abwechselnd leiser und lauter, wieder leiser und wieder lauter, denn der Hörer baumelte frei an der Schnur, in einer Pendelbewegung längs der Wand, und der Schatten gefiel Kamil, weil er ihn an einen kleinen, zarten, knabenhaften Gehenkten erinnerte.

Nu, nu, dachte er, warum hat es mir damals an Mut gefehlt? Doch er wußte nicht, wann es ihm an Mut gefehlt hatte und ob ihm überhaupt je passiert war, es kam ihm eher so vor, als hätte es in seinem Leben noch nie einen derartigen Moment gegeben, weil er bislang stets einen Funken Hoffnung in sich gespürt hatte.

Auf der Straße war es kalt, ein feiner, lästiger Regen fiel, die Bürgersteige glänzten vor Nässe, die Autos bewegten sich langsam. Kamil dachte, es würde sich wohl lohnen, etwas zu trinken, nu nein, nu ja, er ging auf den Platz zu, unter die riesigen Kandelaber, die ihr bläuliches, leichenhaftes Licht verstreuten, zwischen die geparkten Autos, die überall herumstanden, irgendwie, irgendwo, sie wirkten verachtet und für immer verlassen in diesem neuen polnischen Wirrwarr, der den alten polnischen Wirrwarr von Tag zu Tag brutaler verdrängte, es gab keinen Sauerkohl mehr in den Fässern an der Schwelle des elenden kleinen Gemüseladens, es gab nun hundert Sorten von Zahnpasta, zweihundert Sorten Waschpulver, dreihundert Sorten Monatsbinden, nur beim Unglück gab es bislang eine einzige Sorte, aber schon hieß es, das würde sich auch bald ändern, er schlenderte, wich den Autos aus, die auf dem Bürgersteig parkten, dann wurde es dunkler, das Licht der Straßenlaterne spiegelte sich in einer Pfütze, am Eingang des Mietshauses brannte nur eine blasse Lampe, im Treppenhaus stand eine Karyatide aus Gips mit abgeschlagener Nase, hier ist es, dachte...
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Autor

Andrzej Szczypiorski, geboren 1928 in Warschau, nahm 1944 am Aufstand dieser Stadt gegen die deutsche Besatzung teil, kam ins KZ, betätigte sich nach dem Krieg als Schriftsteller und Publizist und wurde Mitglied des Vorstandes des polnischen PEN-Clubs und des Schriftstellerverbandes. 1989 wurde er von Solidarnosc als Kandidat aufgestellt und vom Volk in den polnischen Senat gewählt. Er erhielt den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur und das Bundesverdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland. Szczypiorski starb 2000 in Warschau.