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Dein falsches Herz

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
448 Seiten
Deutsch
Penguin Random Houseerschienen am14.02.2022
Ein letzter Sommertag am Strand, ein liebevolles Lächeln - bruchstückhafte Erinnerungen sind alles, was der Tokioter Anwältin Sumiko von ihrer geliebten Mutter Rina geblieben sind. Nach deren Tod wuchs das kleine Mädchen bei seinem Großvater auf und hat nie wirklich Genaueres über Rinas Schicksal erfahren. Bis Jahre später ein mysteriöser Anruf Sumikos Neugier weckt und sie sich auf die Suche nach der wahren Geschichte ihrer Mutter macht. Was sie findet, sind eine große, verbotene Liebe, ein tragischer Verrat und der Hinweis auf ein furchtbares Verbrechen ...

Stephanie Scott ist britisch-singapurischer Abstammung und wuchs überwiegend in Südostasien auf. Sie studierte Literatur und Creative Writing in Cambridge und Oxford. Bereits für die Recherchen zu »Dein falsches Herz«, das auf einer wahren Begebenheit beruht, erhielt sie ein Stipendium. Der Roman wurde mit einem Literaturpreis als bestes Debüt ausgezeichnet.
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Produkt

KlappentextEin letzter Sommertag am Strand, ein liebevolles Lächeln - bruchstückhafte Erinnerungen sind alles, was der Tokioter Anwältin Sumiko von ihrer geliebten Mutter Rina geblieben sind. Nach deren Tod wuchs das kleine Mädchen bei seinem Großvater auf und hat nie wirklich Genaueres über Rinas Schicksal erfahren. Bis Jahre später ein mysteriöser Anruf Sumikos Neugier weckt und sie sich auf die Suche nach der wahren Geschichte ihrer Mutter macht. Was sie findet, sind eine große, verbotene Liebe, ein tragischer Verrat und der Hinweis auf ein furchtbares Verbrechen ...

Stephanie Scott ist britisch-singapurischer Abstammung und wuchs überwiegend in Südostasien auf. Sie studierte Literatur und Creative Writing in Cambridge und Oxford. Bereits für die Recherchen zu »Dein falsches Herz«, das auf einer wahren Begebenheit beruht, erhielt sie ein Stipendium. Der Roman wurde mit einem Literaturpreis als bestes Debüt ausgezeichnet.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783641280369
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2022
Erscheinungsdatum14.02.2022
Seiten448 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1810 Kbytes
Artikel-Nr.5691457
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe


Sumiko
Was steckt in einem Namen?

Für die Sarashimas ist die Namensgebung eines Kindes eine Familienangelegenheit. Für mich markierte sie die Bindung an die Tradition, die fortan mein Leben beherrschen würde. Die Namen meiner Verwandten mütterlicherseits wurden immer im Kiyoji-Tempel im Stadtteil Meguro ausgewählt. Vom Park am Ende unserer Straße aus kann man ihn noch gerade so erkennen. Er steht am Fuß eines Hügels im Zentrum unseres Viertels. Die grünen Spitzen der Dachziegel schimmern in der Sonne, und die roten Säulen des Portikus´ blicken über die umliegenden Gebäude.

Als Kind hat mein Großvater mir erzählt, dass unsere Familie hier ihre Gebete verrichtet, seit sie nach Tokio übergesiedelt war. Dass sie hier gebetet hat, als Brandbomben auf die Stadt fielen, und dass sie nach dem Krieg den Tempel wieder aufgebaut hat. Für ihn ist der Tempel ein Symbol der Erneuerung.

Deswegen begab sich meine Familie, kaum war Mama von meiner Geburt genesen, in den Kiyoji, statt sich um den Kamidana auf der Westseite unseres Wohnzimmers zu versammeln, und meine Mutter schritt mit mir auf dem Arm durch das Tor ins Herz des Tempels.

Als wir die Steintreppe zur Haupthalle erklommen, sah meine Mutter zu dem ausladenden Holzdach, dessen geschwungene Traufen weit auskragten und so das Sonnenlicht fernhielten und im Innern für kühle dunkle Schatten sorgten. Durch süßliche Weihrauchschwaden hindurch gingen wir vor bis zum Altar. Um uns herum wirbelte der Wind die Luft auf, während draußen die Bronzeglocken anfingen zu läuten.

Erinnern kann ich mich an diesen Weg nicht, doch sehe ich die Prozession deutlich vor mir. Ich, in eine cremefarbene Decke gehüllt, mein Vater, mit meinem Kuschel­tiger Tora in der Hand, ein Geschenk meines Großvaters, und schließlich mein Großvater selbst, ernst, in dreiteiligem Anzug. Diese Geschichte wurde mir so oft erzählt, dass sie sich in mein Gedächtnis eingebrannt hat.

Einer der Mönche, blass, in indigoblauer Robe, verbeugte sich vor meinem Großvater und nahm von ihm einen Beutel entgegen, der eine Reihe von Namen enthielt. Diese Namen hatte meine Mutter ausgewählt, nachdem sie zuerst einen Astrologen konsultiert, sich dann für drei Favoriten entschieden und die Striche der jeweiligen Schriftzeichen gezählt hatte, damit sie, zusammen mit unserem Familiennamen, eine optimale Zahl ergaben.

Ich sehe sie förmlich in Hausschuhen und Jeans an unserem Esstisch sitzen, den Bauch, in dem ich steckte, unter einem schlabbrigen T-Shirt verdeckt. Die Fensterläden sind geöffnet, Sonnenstrahlen fallen schräg auf den Marmorboden, in der Küche brodelt der Reiskocher, das Geschirr steht im Abtropfgestell. Meine Mutter legt die Reispapierblätter vor sich hin und wendet sich dem Tuschestein zu. Ich sehe, wie sie ihren Pinsel in die Tusche taucht, den schweren, aufsteigenden Geruch von Erde und Fichtenruß einatmet und mit den Spitzen der Pferdeborsten schwungvoll den ersten flüssigen Strich zieht.

Der Mönch verbeugte sich noch einmal und legte die Namen in einer flachen Schale auf den Altar. Dann kniete er nieder, nahm sich einen zierlichen Holzfächer, entfaltete ihn und entfachte, die durch die geöffneten Fensterläden hereinwehende Brise aufnehmend, einen Luftwirbel. Alle Anwesenden verhielten sich still. Der graue Rauch der Kerzen strebte aufwärts zu den Dachsparren, während die Blättchen mit den von meiner Mutter aufgeschriebenen Namen eins nach dem anderen zur Decke flogen. Nur ein Name blieb auf der Teakholzfläche übrig: .

Mein Großvater fiel auf die Knie, hob das Stück Papier vom Altar auf, und ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht, als er die Schriftzeichen meines Namens las: Feier, Schönheit, Kind.

»Sumiko«, sagte er. »Sumiko Sarashima.«

Mein Vater hatte während der Verrichtungen geschwiegen. In den Wochen vor meiner Geburt war von einer Zeremonie zur Namensänderung die Rede gewesen. Nach japanischem Recht müssen Ehepartner den gleichen Familiennamen tragen, nur unter bestimmten Umständen darf der Mann den Familiennamen seiner Frau annehmen und in ihren Hausstand treten, damit ihr Name und ihre Linie weiterbesteht. Mein Vater war der Zweitgeborene, und seine Familie, die SatÅs, willigten sofort ein. An jenem Tag jedoch, als der Priester ein neues Blatt Papier nahm, um meinen vollen Namen darauf zu schreiben, meldete sich mein Vater zu Wort.

»SatÅ«, sagte er. »Sie ist eine SatÅ, keine Sarashima.«
Was ich weiß

Ich wurde von meinem Großvater, Yoshi Sarashima, erzogen.

Ich wohnte mit ihm in einem weißen Haus in Meguro, Tokio.

Abends las er mir vor.

Er erzählte mir alle Geschichten, außer meiner eigenen.

Mein Großvater war Rechtsanwalt, er wählte seine Worte mit Bedacht. Selbst wenn ich in seinem Arbeitszimmer auf seinem Schoß saß und mit dem Finger über die Falten in seinem Ledersessel strich, oder später, wenn ich auf einem Hocker neben ihm saß, selbst dann pflegte er höchste Präzision im Umgang mit Wörtern. Auf diese Präzision achte ich bis heute.

Großvater hat mir alles Mögliche vorgelesen - Mishima, Sartre, Dumas, Tolstoi, Basho, hat mir über seine Jugend und die Entenjagd in Shimoda erzählt und mich mit einem Buch bekannt gemacht, Der Prozess, welches mein Lieblingsbuch wurde. Die Geschichte beginnt so: »Jemand musste Joseph K. verleumdet haben.«

Als Großvater mir den Anfangssatz zum ersten Mal vorlas, erklärte er mir, dass es sich um eine Übersetzung handelte. Ich war zwölf Jahre alt und fing an, meine Fühler auszustrecken. Ich berührte die Schriftzeichen auf der vergilbten Seite, die von etwas Neuem sprachen, las den ersten Satz laut vor und erweckte die Gestalt des Joseph K. zum Leben, eines einsamen Mannes, über den, wie es in unserer Übersetzung hieß, jemand Lügen verbreitete.

Als ich älter wurde, fing ich an, mit meinem Großvater über den Prozess zu diskutieren. Er sagte mir, auch andere hätten mit der Erzählung gerungen, bis heute, besonders mit der Übersetzung eines bestimmten Wortes: »verleumdet«. Lügen über jemanden verbreiten. In anderen Versionen wird es auch mit »übel nachreden« übersetzt. Üble Nachrede, da denkt man an eine Straftat, an Gerichte, an eine öffentliche Abrechnung, es klingt nicht »Lügen verbreiten« aus der Kindheit an. Und dennoch, als ich die Erzählung zum ersten Mal las, war es genau diese Formulierung, »Lügen verbreiten«, die mich so faszinierte.

Lügen, einmal in die Welt gesetzt, führen ein Schattendasein, bilden ein Gespinst, das ein ganzes Leben überziehen kann. Sie haben das Unbeschwerte einer Kindheit an sich, und meine Kindheit war auf Lügen aufgebaut.

In dem Sommer, bevor meine Mutter starb, fuhren wir ans Meer. Rückblickend herrscht für mich in diesen Monaten das Gefühl vor, dass etwas zu Ende ging, nicht weil es die letzten Ferien waren, die ich zusammen mit meiner Mutter verbrachte, sondern weil es der Ort meiner letzten ­echten Erinnerung ist.

Jedes Jahr im August, wenn die Hitze Tokio im Griff hatte, packte unsere Familie ihre Koffer und bestieg den Regionalzug an die Küste nach Shimoda. Mein Vater blieb in der Stadt, weil er arbeiten musste, nur Großvater Sarashima begleitete uns. Jedes Jahr kaufte er an demselben Kiosk im Bahnhof gefrorene Klementinen für die Fahrt, und in der metallischen Hitze des Waggons warteten Mama und ich ungeduldig darauf, dass das Obst aufweichte, damit wir an die Sorbetfüllung herankamen. Wenn uns der klebrige Saft das Kinn hinunterlief, wandte sich Mama auf unserem Doppelsitz endlich mir zu und fragte mich, was ich am Meer gerne machen würde, nur wir beide allein.

Unser Haus auf der Halbinsel war alt, die beiden Torpfosten aus Holz schief vom Wind, der vom Pazifik heraufwehte. Während wir auf den Felsvorsprung am Gipfel des Hügels zugingen, signalisierte mir das dunkle, salz­verkrustete Tor, dass mein Zuhause nicht mehr weit war: Wa­shikura, Adlernest, mit Blick auf die Bucht zwischen Fud­schijama und dem Meer.

Unser Land ist um Berge herum gebaut, seine Menschen stapeln sich in Betonschachteln, Käfigen gleich. Landbesitz ist rar, doch das Haus in Shimoda gehörte meiner Familie schon lange vor dem Krieg, und danach, als alles andere verloren war, hat mein Großvater darum gekämpft, es zu behalten.

In den Bergen oberhalb des Hauses erstreckt sich der Wald. Als Kind durfte ich dort nicht allein herum­streunen, und meine Mutter wusste sofort, worum ich sie bitten würde. Und so stiegen meine Mutter und ich in den Nachmittagsstunden die bewaldeten Hügel über Washikura hinauf. Wir betrachteten die Teefelder, die sich vor dem Herbst dunkel verfärbten. Wir lagen auf dem bloßen steinigen schwarzen Boden und atmeten den scharfen Harzgeruch der Fichten ein. An manchen Tagen vernahmen wir den Ruf des über uns kreisenden Seeadlers.

Großvater kannte sich aus in dem Wald, aber er entdeckte uns nie. Um Punkt vier Uhr jeden Nachmittag begab er sich zum Fuß des Berges und rief zwischen den Bäumen nach uns. »Rina!«, »Sumi!« Wir kauerten kichernd unter den Kiefern, die Stimme des Großvaters bebte und verklang schließlich.

Häufig hörte ich Großvaters Rufe, noch ehe Mama sie vernahm, aber immer wartete ich ab, bis sie mir ein Zeichen gab, mich still zu verhalten. An unserem letzten Nachmittag im Wald lag ich regungslos da und spürte den weichen, gleichmäßigen Lufthauch ihres Atems in meinem Gesicht. Sie zog mich an sich, und ihr Atem verlangsamte sich. Ich öffnete die Augen und sah meine Mutter an, ihre dunklen Wimpern. Ich nahm ihre Blässe wahr, ihre Ruhe. Ich hörte meinen Großvater rufen, seine schwache, ferne...

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Autor

Stephanie Scott ist britisch-singapurischer Abstammung und wuchs überwiegend in Südostasien auf. Sie studierte Literatur und Creative Writing in Cambridge und Oxford. Bereits für die Recherchen zu »Dein falsches Herz«, das auf einer wahren Begebenheit beruht, erhielt sie ein Stipendium. Der Roman wurde mit einem Literaturpreis als bestes Debüt ausgezeichnet.